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Updated: 18.12.2012 15:51
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Rentenreform - die Katze ist aus dem Sack

"Eine Reform, die "kurzfristig" (nur bis Horizont 2020) angelegt, relativ "halbherzig" und sozial ungerecht. Sie wird die aus bürgerlicher Sicht aufgeworfenen Probleme nicht lösen und mittelfristig neuen "Reform"bedarf lassen. Gleichzeitig bezahlen Lohnabhängige 85 % der Rechnung. Aus wahlpolitischen Gründen fällt die "Reform" unterdessen allerdings auch nicht so radikal aus, wie dies befürchtet worden war. Schlimm genug bleibt sie" - so beginnt der aktuelle Beitrag "Frankreich, Renten"reform": Die Katze ist aus dem Sack" von Bernard Schmid vom 18. Juni 2010.

Frankreich, Renten"reform": Die Katze ist aus dem Sack

Eine Reform, die "kurzfristig" (nur bis Horizont 2020) angelegt, relativ "halbherzig" und sozial ungerecht. Sie wird die aus bürgerlicher Sicht aufgeworfenen Probleme nicht lösen und mittelfristig neuen "Reform"bedarf lassen. Gleichzeitig bezahlen Lohnabhängige 85 % der Rechnung. Aus wahlpolitischen Gründen fällt die "Reform" unterdessen allerdings auch nicht so radikal aus, wie dies befürchtet worden war. Schlimm genug bleibt sie

Die Regierung hatte es spannend gemacht. Aber die Katze ist aus dem Sack: Am Mittwoch früh um 08.30 Uhr enthüllten das Präsidentenamt und Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth offiziell den Inhalt der bevorstehenden Renten"reform". (Nachdem die Homepage der Wirtschaftstageszeitung ,Les Echos', und ab Dienstag 22.30 Uhr auch jene von ,Le Monde, schon am Vorabend detailliert ausgepackt hatten.) Aber noch im Laufe des heutigen Freitag soll Sarkozy einige Weichenstellungen überarbeiten, bekräftigen oder abändern - wir werden unsere Leser/innen zeitnahe auf dem Laufenden halten. Im Juli (im Laufe einer dreiwöchigen Sondersitzung während der Parlamentsferien) und im September soll der Entwurf dann durch beide Parlamentskammern durchgehen.

Am Mittwoch früh, als es so weit war, sprach die Pariser Abendzeitung ,Le Monde' auf ihrer Webseite von einer professionellen "Inszenierung". Es ist nicht gewiss, ob dies so zutrifft, denn viele Grundsatzentscheidungen wurden offenbar noch im Laufe des Dienstags telefonisch zwischen Sarkozy, seinen Beratern und seinen Ministern gefällt. Zuvor war man sich an der Staatsspitze, vor allem zwischen Präsident (Nicolas Sarkozy) und Premierminister (François Fillon) und jeweiligem Stab, noch uneinig gewesen. Und diese Uneinigkeit hatte man im Übrigen auch inszeniert - die Sonntagszeitung ,JDD' berichtete am vorigen Wochenende ausführlich, auf ihrer Titel- plus einer Doppelseite, über Divergenzen an der Spitze. Demnach plädierte Fillon, der derzeit eher den soliden konservativen Buchhalter und Sparpolitiker gibt, für eine relativ radikale "Reform" - die aus seiner Sicht (und unter der Prämisse, dass man dem Kapital und den wachsenden Profiten nicht oder nur symbolisch zu Leibe rücken darf) die Haushaltsprobleme bei den Rentenkassen mittel- und längerfristig in den Griff bekommen sollte. Demgegenüber plädierte Sarkozy für eine relative "Mäßigung". Und dies aus einem durchsichtigen Motiv: Im April/Mai 2012 muss er sich einer Präsidentschaftswahl stellen, und er möchte wiedergewählt werden. Und das zeichnet sich im Augenblick als schwierig ab, manche Beobachter/innen behaupten sogar, einen zweiten Wahlgang (Stichwahl) zwischen der Sozialdemokratie und der extremen Rechten mit Marine Le Pen voraus zu ahnen.

Derzeit scheint sich die Sarkozy-Linie durchgesetzt zu haben. Die "Reform" ist dabei eher kurz- als langfristig angelegt, sie soll bis zum Horizont des Jahres 2020 greifen; danach wird das bürgerliche Lager ohne Zweifel erneut "Reform"bedarf anmelden.

Die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre zu den Rentenkassen wird nunmehr, von derzeit 40 (es waren vor den "Reformen" von 1993 in der Privatwirtschaft und 2003 in den öffentlichen Diensten noch 37,5), schnell auf 41 und bis im Jahr 2018 dann auf 41,5 Jahren angehoben werden. Das ist nicht ganz so krass wie erwartet - bei der "Reform" von 2003, die eine Anhebung auf 40 beinhaltete, war damals in den "Prognosen" bereits eine weitere Anhebung zwischen 2010 auf 2020 aujf bis zu 42,5 vorausgesehen worden.

Das Mindest-Eintrittsalter, vor dem niemand einen Rentenanspruch geltend machen kann (oder nur ausnahmsweise jene, die in früheren Jahrzehnten schon zwischen 14 bis 16, demnächst auch zwischen 14 und 17, zu arbeiten anfingen), wird von 60 auf 62 angehoben. Im Vorfeld war es Gegenstand im - auf der politischen Bühne öffentlich vorgeführten - Tauziehen zwischen Fillon und Sarkozy gewesen, zu streiten, ob man auf 62 oder auf 63 Jahre gehen sollte.

Dasjenige Alter, ab dem man keine (drastischen) Straf-Abzüge von der Rente mehr enthält, wenn man nicht die vollen 41,5 Beitragsjahre hindurch eingezahlt hat, wird bis im Jahr 2023 von derzeit 65 auf dann 67 Jahre angehoben.

Die Staatsbediensteten, die augenblicklich im Durchschnitt geringere Löhne bzw. Gehälter als die in der Privatwirtschaft gezahlten haben, aber auch geringere Beitragssätze zu den Renten bezahlen (7,85 % statt 10,55 %), sollen ihren Beitragssatz innerhalb von zehn Jahren auf ebenfalls 10,55 % angehoben sehen.

Um vor dem gesetzlichen Eintrittsalter in Pension gehen zu "dürfen", muss man eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 20 Prozent aus medizinischen Gründen nachweisen können. Dies wird all jenen Lohnabhängigen, die in ihrer Arbeit giftigen oder krebserregenden chemischen Substanzen ausgesetzt sind und deren Lebenserwartung im Alter (oft nach der Pensionierung) sinkt, nicht helfen. Um dem Problem der Senioren-Arbeitslosigkeit - von denen viele das Rentenalter ohnehin nur mit Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe erreichen - "abzuhelfen", hat Eric Woerth ferner eine einjährige staatliche Subventionierung für die Einstellung eines/r über 55jährigen angekündigt.

Die Reichen sollen einen symbolischen Beitrag leisten, der pro Jahr circa 230 Millionen Euro einbringen soll (das jährliche Defizit der Rentenkassen, das aufgeholt werden soll, beträgt derzeit - krisenbedingt - 37 Milliarden): Der Spitzensteuersatz wird von 40 auf 41 Prozent erhöht.

Die CFDT, die einer Erhöhung der Beitragsjahre gegenüber ausdrücklich aufgeschlossen war, erklärte, das "Reform"projekt werde "zu 85 Prozent durch die Lohnabhängigen bezahlt. Auch die anderen Gewerkschaften äußerten sich kritisch bis ablehnend. Ausführlicheres dazu Anfang der kommenden Woche.

Am Donnerstag, 24. Juni demonstrieren die französischen Gewerkschaften erneut gegen die "Reform"pläne. Am Dienstag, 15. Juni hatte der populistisch schillernde Dachverband Force Ouvrière, FO, bereits einen eigenen "Generalstreik" dagegen durchgeführt. Da dieser drittstärkste Gewerkschaftsverband ihn völlig allein anzettelte, blieb er freilich wirkungslos - mit Ausnahme von Marseille, wo FO die stärkste Gewerkschaftsorganisation unter den Staats- und Kommunalbediensteten darstellt. Dort wurden die Autobahntunnel rund um die Staat aufgrund örtlicher Arbeitsniederlegungen geschlossen und sorgten, zusammen mit einer durch Platzregen verursachten Überschwemmung, für katastrophale Staus.

In Paris versuchte FO unterdessen, eine Kraftprobe zu demonstrieren: Dank Sonderzügen und -bussen mobilisierte der Dachverband all seine Aktivisten und Funktionäre in die Hauptstadt für eine zentrale Demonstration. An ihr nahmen rund 30.000 Anhänger/innen teil (Polizei: 23.000, FO: "über 70.000"). Eine, ziemlich relative, Stärkedemonstration. Aber auch ein einmaliger Schlag ins Wasser.

Bernard Schmid, 18. Juni 2010


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