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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Ein aktueller Artikel von Bernard Schmid vom 29. Oktober 2010 FRANKREICH: Heute ist nicht alle Tage - wir komm’n wieder, keine Frage ! Sozial-Protestbewegung vor definitivem Umschlag - Der Streik bröckelt auf breiter Front ab, Demonstrationen hingegen bleiben relativ gut besucht - Einige Anmerkungen zur Suche nach den Ursachen «In Frankreich haben wir kein Erdöl, aber wir haben Ideen.» So lautete ein regierungsoffizieller Werbe- oder Propagandaspruch in den 1970er Jahren, als neben anderen westlichen kapitalistischen Industrieländern auch Frankreich vom so genannten «Öl(preis)schock» erfasst wurde. Er diente in der Folgezeit u.a. dazu, ein völlig überdimensioniertes Atomprogramm durchzudrücken. Dennoch erschien der Spruch lustig genug, um später immer wieder bei allen möglichen passenden und unpassenden Gelegenheiten heran zitiert zu werden. In den vergangenen Tagen hätte er jedoch ziemlich gut auf die Situation gepasst. Denn in Frankreich wurden die Erdölprodukte, insbesondere Benzin- und Dieseltreibstoff, knapp. Alle zwölf Raffinerien im Land waren zeitweilig im Streik, an den Tankstellen - bis zu einem Drittel im Laufe dieser Woche, im Augenblick liegen noch 20 % trocken - konnten die Autos nicht mehr aufgetankt werden, und gleichzeitig waren die Ölhäfen in der Nähe von Marseille (Fos-sur-Mer sowie Lavéra) und in Le Havre blockiert. Doch die Regierung verkündete im Laufe der vergangenen Woche mehrfach - durch den Mund ihres Umweltministers Jean-Louis Borloo, der für die Treibstofffrage fachlich zuständig ist und derzeit offene Ambitionen auf das Amt des Premierministers bei der anstehenden Regierungsumbildung anmeldet -, es sei nur noch „eine Frage von Tagen“, bis sich die Lage an der Treibstofffront vollständig „normalisiert“. Durch die Vorräte in den 219 Treibstoffdepots im Land sowie Importe (von den 150.000 Tonnen Treibstoffbedarf täglich wurden zu Anfang dieser Woche 100.000 importiert, drei mal mehr als gewöhnlich) konnte die Situation vorübergehend überbrückt werden. Aber die Sache von der „Normalisierung“ binnen kürzester Zeit war schlichtweg - gelogen. Denn jetzt, wo der Streik in den Raffinerien und Ölhäfen tatsächlich zu Ende geht, heißt es nunmehr plötzlich, ein Rückkehr zur normalen Situation bei der Kraftstoffversorgung sei eine Sache von „zwei bis drei W o c h e n“. So der Verband der Treibstoffversorger am gestrigen Donnerstag. Es hätte also real knapp werden können für die Regierung. Ab Dienstag dieser Woche, so erfährt man nunmehr, hätten etwa Unternehmen der Lebensmittelindustrie in Westfrankreich vorübergehend schließen müssen, weil sie keinen Nachschub mehr erhalten hätten oder nicht mehr hätten liefern können. Wenn das Kapital ernsthaft Geld zu verlieren beginnt, dann beginnt ein Teil der «Arbeitgeber»schaft für gewöhnlich, Druck auf ihre Verbände und «ihre» Regierung auszuüben, um doch noch ein Nachgeben ins Auge zu fassen - der eigene Geldbeutel sitzt dann näher als das Interesse der Gesamtklasse (die Arbeitgeberverbände wünschen natürlich explizit eine Hinausschiebung des Rentenalters) oder dasjenige des ideellen Gesamtkapitalisten (des bürgerlichen Staates). Allein, so weit ist es nicht gekommen. Ab Montag dieser Woche erklärten drei von insgesamt zwölf Raffinerien, sie nähmen die Arbeit wieder auf (vgl. unseren Bericht in Labournet vom Mittwoch dieser Woche, 27. Oktober). Am gestrigen Donnerstag hatten acht von insgesamt zwölf Raffinerien ihren Betrieb wieder aufgenommen und begannen erneut, Kraftstoff aus ihren bereits produzierten Vorräten auszuliefern. Am heutigen Freitag stimmten die Lohnabhängigen in einer neunten Raffinerie, Gonfreville in der Nähe von Rouen, für eine Beendigung des Ausstands. Auch im Ölhafen von Le Havre, in der Normandie, ging am heutigen Freitag der Arbeitskampf - laut Beschluss einer Versammlung der Streikenden am Vormittag - zu Ende. Im Raum Marseille hielt er zwar noch, und 79 Schiffe (unter ihnen 38 Öltanker und 20 Schiffe mit verarbeiteten Erdölprodukten an Bord) liegen dort noch «ungelöscht» vor Anker. Doch am heutigen Freitag fragte die Regionalzeitung ,La Provence’ bereits : «Vor einem Ende der Krise in den Erdölhäfen?» (Vgl. http://www.laprovence.com/article/economie-a-la-une/vers-la-fin-de-la-crise-pour-les-terminaux-petroliers ) Allerdings sind die Meldungen dazu im Augenblick widersprüchlich, und die Nachrichtenagentur Reuters meldete heute um 10.50 Uhr: «Der Streik geht weiter in den Erdölhäfen von Fos-sur-Mer und Lavéra.» Der Ausstand dauert also bislang auch am 33. Tag fort. Neben der «Reform» des Rentensystems ist auch die Ablehnung einer Hafen«reform», durch die viele Beschäftigte an private Subfirmen der Hafenbetreiber überstellt würden, Gegenstand des Arbeitskampfs dort. Dass der Streik in den Raffinerien nun tatsächlich zu Ende gehen scheint, ist auch das Produkt einer erfolgreichen Propagande des Ölkonzerns TOTAL, dem sechs der insgesamt zwölf Raffinerien auf französischem Boden gehören. In den vergangenen Tagen hatte er intern systematisch Informationen streuen lassen, wonach dem Unternehmen der Ausstand in Wirklichkeit total in den Kram passe: Erstens, so wurde gestreut, erhöhe der Konzern seine Profite durch den Arbeitskampf noch, denn nun könne er die Treibstoffpreise an den Tankstelle - durch den infolge der Knappheit ausgelösten Nachfragedruck, den man auf die Preise drücken lasse - kräftig erhöhen. (Dies trifft in bestimmten, doch relativ engen Grenzen zu: Tatsächlich stiegen die Treibstoffpreise um durchschnittlich circa 10 Prozent, was die Regierung in diesen Grenzen auch geschehen lässt, um eine diffuse Unzufriedenheit unter den Verbraucher/inne/n - die eher über die unverschämten Preissteigerungen als über die Verknappung an & für sich, die ja nachvollziehbare Gründe hat, empört sind - zu schüren. Dennoch sind der Sache gewisse Grenzen gesetzt, da Wirtschaftsministerin Christine Lagarade zugleich offiziell verkündete, die Preisspekulationen zu bekämpfen: Um keine Panik aufkommen zu lassen und um Hamsterkäufe zu vermeiden - auch wenn Benzinkanister an den Zapfsäulen seit längerem verboten waren -, muss die Ministerin irgendwie den Eindruck erwecken, die Regierung habe die Situation halbwegs im Griff. Dass durch diese trotz allem begrenzten Preiserhöhungen, die örtliche stärkere Steigerungen natürlich nicht ausschlossen, die Profite von TOTAL auf dem Inlandsmarkt i n s g e s a m t gestiegen wären, erscheint jedoch wenig plausibel.) Zum Zweiten, so ließ der Konzern systematisch nach innen hin durchsickern, komme es der Direktion durchaus gelegen, dass sie nunmehr gezwungen sei, Raffineriekapazitäten im Ausland stärker auszubauen - um nämlich eine Auslagerung dieser Technologie aus Frankreich und einem Abbau der dortigen Arbeitsplätze vorzubereiten. Dies plant die TOTAL-Leitung allerdings o h n e h i n, und solche Vorhaben waren auch ein Grund, der die Lohnabhängigen des Konzerns (neben der Renten«reform») zu ihrem Arbeitskampf ursprünglich motiviert hatte. Im Zweifelsfalle dürften die Kampfkapazitäten, die die dortigen Beschäftigten unter Beweis stellen können, einen besseren Schutz darstellen, als das Nachgeben gegenüber dem Konzern. Dadurch, dass Letzterer suggeriere, insgeheim habe er den Streik hervorragend in seine Pläne einkalkuliert, konnte er jedoch die Kampfesmoral in den letzten Tagen erheblich schwächen. Ein Beispiel erfolgreicher psyochologischer Kampfführung! Hinzu kommt die Politik der Gewerkschaftsverbände. In jenen Raffinerien, die zu Anfang der Woche als erste die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit erklären, ist die CFDT stärker verankert - in denen von TOTAL hingegen eher die CGT. Doch die Führung beider Verbände, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß (die Spitze der CFDT steht erheblich weiter rechts), setzte jeweils darauf, die Arbeitskämpfe auf die Dauer zurückzufahren. Keine von beiden wünschte eine ernsthafte politische Krise, die Nicolas Sarkozy unter Androhung einer erheblichen Konfrontation zum Nachgeben gezwungen hätte - sie hätte möglicherweise auch einen Rücktritt der Regierung zur Folge gehabt. Aber etwaige vorgezogene Neuwahlen zum Parlament wünschten die Apparate nicht, so lange die französische Sozialdemokratie nicht «regierungsbereit» parat steht. Und Letztere hat wesentliche strategische Fragen ihrer Ausrichtung bislang noch nicht geklärt ; Parteichefin Martine Aubry wählte bislang Formelkompromisse: Einerseits versucht die Sozialdemokratie explizit an die derzeitigen sozialen Mobilisierungen anzudocken und verspricht die Wiederherstellung des Symbols « Rente ab 60 » (nur für jene, die genüg Beitragsjahre beisammen haben, oder bestimmte Beschäftigtengruppen!), andererseits aber tritt sie f ü r und nicht gegen die Beitragsdauer zur Rentenkasse auf mindestens 41,5 Beitragsjahre ein. Hingegen steht ihr Hauptrivale Dominique Strauss-Kahn für eine (nach außen hin) wesentlich stärkere wirtschaftsliberale Ausrichtung, die sich nicht so stark - scheinbar - auf die Gewerkschaften und soziale Protestbewegung stützt. Erstere Linie ist derzeit wohl inhaltlich populärer (auch wenn Strauss-Kahn gleichzeitig der beliebtere potenzielle Präsidentschaftskandidat bleibt, was durch sein Schweigen - bedingt durch seine Abwesenheit aus Frankreich, als IWF-Chef ist er derzeit in Washington ansässig und darf sich nicht explizit zu politischen Fragen äußern - sicherlich erleichtert wird). Doch birgt sie gleichzeitig längerfristig auch das Risiko größerer Enttäuschungen, Desillusionierungen und daraus resultierender Brüche in sich. CGT und CFDT: Nun übergehen zu anderen «Mitteln» - unter faktischer Akzeptanz des Inkrafttretens der «Reform» Worauf die beiden wichtigsten bzw. stärksten Gewerkschafts-Dachverbände nun setzen, ist eine «alternative» Strategie für die Zeit nach der nunmehr absehbar gewordenen, gelungenen «Beerdigung» des Massenprotests gegen die so genannte Renten«reform». Im Grunde hatten sie allerdings von Anfang an darauf gesetzt, nicht diese radikal zu verhindern, sondern ihre Einzelbestimmungen einer (stärkeren) Revision auf dem Verhandlungswege zu unterziehen. Auf Spitzenebene forderten lediglich die linke Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss u.a. der SUD-Basisgewerkschaften) und der verbalradikal auftretende, doch schillernde Dachverband FO (Force Ouvrière) einen «Rückzug» der so genannten Rentenreform. Die stärkeren Dachverbände, CGT und CFDT, hingegen forderten vor allem «Verhandlungen». Dies musste übrigens auch die französische Sozialdemokratie zu ihrem vorübergehenden Nachteil erfahren: In einer Anwandlung von Verbalradikalismus - ab und zu mus seine Oppositionsarbeit auch mal ihren Oppositions-Job verrichten - hatte sie zunächst im Parlament den «Rückzug» des Gesetzentwurfs zur so genannten Rentenreform verlangt. Doch dann musste sie sich sagen lassen, dies sei «nicht die Position der Mehrheit der Gewerkschaften». Danach verlangte auch sie nur noch eine «Überarbeitung» der so genannten Reform. (Sicherlich sind bedeutende Teile der Sozialdemokratie insgeheim froh und glücklich darüber, dass Sarkozy die schmutzige Arbeit verrichtet hat, so lange man selbst in der Opposition verharrt - auf dass man sie nicht selbst, «durch wirtschaftliche Vernunft gezwungen», in künftigen Regierungsjahren selbst durchführen muss… Dieses Argument führten Regierungsmitglieder auch immer wieder spöttisch gegen die Sozialdemokratie im Parlament ins Feld, es wird nur dadurch allein noch nicht falsch.) Die CFDT setzt darauf, wie ihr Generalsekretär François Chérèque am Montag Abend im Fernsehen (im Beisein von Arbeitgeberverbands-Chefin Laurence Parisot, die darauf sogleich positiv einschlug) erklärte, nunmehr mit den Kapitalverbänden über «die Beschäftigung der Jungen und der Senioren» zu verhandeln. Denn diese beiden Fragen, also jene nach der Beschäftigung an den «Altersrändern» der lohnabhängig tätigen Erwerbsbevölkerung, würden durch die Renten«reform» aufgeworfen: Die Alten sollen länger arbeiten, aber ihre Beschäftigungsquote ist gering, da sie durch die Unternehmen als «unproduktiv» eingeschätzt und entlassen - oder nicht eingestellt - werden (weshalb die «Reform» auch praktisch vor allem zu einer Absenkung ihrer künftigen Renten führen wird). Und die Jungen befürchten, dadurch, dass man die Älteren länger in der Pflicht zum Malochen halte, könnten sie nicht auf den «Arbeitsmarkt» nachrücken und keine Jobs finden: Ein Teil der Gewerkschaften hat vorgerechnet, dass durch die geplante Renten«reform» angeblich eine Million Jobs für die Jüngeren fehlten. Die CFDT-Spitze möchte nun über Beschäftigungspolitik für die Jungen und die Alten verhandeln - aber unter faktischer Akzeptanz der Renten«reform». Denn die zu eröffnende Verhandlungsrunde wird von ihr als Alternative zur Fortsetzung der Mobilisierung gehandelt. CGT-Generalsekretär Bernard Thibault seinerseits hat der Tageszeitung ,Libération’ ein Interview gegeben, das am Mittwoch früh erschien und in welchem er ebenfalls «Alternativen» zur Fortsetzung von Streiks, Blockaden und Mobilisierungen gegen das Inkrafttreten der Renten«reform» skizziert. Zwar betont er mehrfach und wortreich: «Der Kampf (gegen die sog. Reform) ist nicht zu Ende.» Doch was er als angebliche Fortsetzung des Sozialprotests gegen die Operation Rentenklau ausmalt, ist nicht ihre Fortführung mit anderen Mitteln, sondern ihre Beendigung (und faktische Akzeptanz des Inkrafttretens der «Reform» in ihren Grundsätzen), um hernach zu versuchen, in den Betrieben und Branchen ihre Folgen einzudämmen und zu mildern. So kündigt Thibault an, nunmehr gehe es darum, in den Branchen und Betrieben über Kollektivvereinbarungen (= Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, nach deutscher Terminologie) zu verhandeln, die ein früheres als das gesetzliche Renteneintrittsalter vorsehen. Das ist, aufgrund des - im französischen wie im deutschen Arbeitsrecht gültigen «Günstigkeitsprinzips» - grundsätzlich rechtlich zulässig. Allerdings fügt Thibault am selben Ort auch gleich selbst hinzu, warum dies in Wirklichkeit völlig unzureichend ist: Weil solche Verhandlungsergebnisse (neben der jeweiligen Position des Arbeitgebers oder Arbeitgeberverbands) auch wesentlich von der Stärke der Gewerkschaft(en) im Unternehmen oder auf Branchenebene abhängt. Und diese ist nun einmal, über die Gesamtheit der Sektoren hinweg betrachtet, sehr ungleich verteilt. Objektive und subjektive Hemmnisse im sozialen Kampf - die Rolle der Gewerkschaftsverbände Sicherlich hat es objektive Umstände gegeben, die es (im Vergleich zu früheren Perioden der französischen Sozialgeschichte) erschwerten, dass ein Massenstreik wirklich «greift». Denn auch das Kapital hat aus früheren Streikbewegungen seine Lehren gezogen. Bei der französischen Post beispielsweise genügte es früher, einzelne große Verteilzentren zu blockieren, und der Betrieb war vorläufig dicht. Heute hingegen hat die Post ihre Verteilzentren dezentralisiert, oft mehrere kleinere Zentren parallel zueinander geschaltet und parallele Vertriebswege eingerichtet - es ist also wesentlich schwerer geworden, den Laden insgesamt zu blockieren, da es nicht mehr genügt, an einzelnen neuralgischen Punkten anzusetzen. (Hingegen wurden die Sortierzentren - im Gegenteil - stärker zentralisiert als früher, so werden die Briefe und Pakete für den gesamten Raum Paris überwiegend in einem einzigen riesigen Zentrum im südlichen Umland der Hauptstadt sortiert. Diese « Industrialisierung » des Sortiervorgangs ging jedoch mit der Einstellung zahlloser Zeit- und Leiharbeiter/innen, die sich einen Streik kaum erlauben können, einher.) Oder bei den Pariser Nahverkehrsbetrieben, der RATP: Dort gab es früher einen Ausgleichmechanismus für abgeleistete Überstunden, der vorsah, dass die so angesparten Überstundenzuschläge auf einem fiktiven Konto angesammelt werden, von dem die einzelnen Beschäftigten - quasi frei nach Belieben - Geld oder aber Freizeitausgleich «abheben» konnten. Viele Lohnabhängige leisteten so regelmäßig täglich sechs oder zehn überzählige Arbeitsminuten und füllten so nach und nach ihr Konto auf; um sich dann in Streikzeiten daraus zu bedienen. Doch dies ist heute unmöglich: Der Arbeitgeber hat dafür gesorgt, dass der angesammelte Betrag in bar ausbezahlt wird, so bald ein zeitliches Äquivalent von drei Arbeitstagen angesammelt ist. Das bedeutet, dass in Streikzeiten der Lohnausfall nach spätestens drei Tagen bemerkbar wird. Aber die Gewerkschaftsdachverbände haben auch - auf der «subjektiven», eigenen Seite - verhindert, dass der Streik «so effektiv wie möglich» greift. Zwar haben die Dachverbände, besonders die CGT, den radikaleren Teilen ihrer Basis «die Zügel locker sitzen» lassen, ihnen aber zugleich auch die Initiative überlassen. Es gab keine Hindernisse für jene Teile der CGT, die in den unbefristeten Streik (für die Mehrzahl der Sektoren: ab dem 12. Oktober) treten wollten. Aber es gab auch keine Hilfe, keine übergreifende Strategie dafür, keine Koordinierung. Hätte es eine solche gegeben, dann hätte etwa die CGT-Spitze darauf dringen müssen, dass das Vorgehen in den Raffinerien und das unter den Eisenbahner/inne./n aufeinander abgestimmt wird, sobald sich abzeichnete, dass es keine Generalstreiks-Dynamik in allen Sektoren geben würde: Es wäre dann beispielsweise notwendig gewesen, den Streik der Eisenbahner (deren «harter Kern» durchaus darauf brannte, loszulegen) so lange zurückzuhalten, bis der Streik in den Raffinerien lange genug gedauert hat, dass die Treibstoffknappheit sich bemerkbar macht. Hätte man strategisch so gehandelt, dass man wartet, bis ein Fünftel ode rein Viertel der Tankstellen trocken liegt, bevor man der Regierung den Bahn- und Transportstreik zusätzlich ins Kreuz haut - dann hätte man ab dem Zeitpunkt wirklich beginnen können, den Count-down zu zählen ; 10 - 9 - 8 - 7… Dann hätte man die Schwierigkeiten beim Schienentransport und jene im Straßenverkehr so aufeinander abgestimmt, dass sie sich gleichzeitig zuspitzen und gegenseitig verstärken. So wie die Dinge real liefen, hatte der Bahnstreik (der durch eine aktive Minderheit von rund 30 % getragen wurde, also rund 50 % der Lokomotivführer) sich jedoch schon weitgehend erschöpft, bevor es mit dem Kraftstoffmangel richtig ernst wurde. A propos Bahnstreik: Am heutigen Freitag funktioniert der Verkehr bei der französischen Eisenbahngesellschaft (angeblich) wieder weitestgehend normal, obwohl am gestrigen «Aktionstag» der Gewerkschaften nochmals relativ hohe Werte an Streikbeteiligung erreicht wurden - 16,8 % laut Direktion und 26,5 % laut den Gewerkschaften. Auch der Flugverkehr an den Pariser Flughäfen Roissy und Orly war erheblich beeinträchtigt, und wird es am kommenden Donnerstag (o4 . November) nochmals sein. Trotz allem wurde auch der gestrige Aktionstag, in Anbetracht der augenblicklich andauernden Herbstferien (im Raum Paris etwa sind die Schüler/innen für zehn Tage von den Schulbänken weg und nehmen Mitte nächster Woche den Unterricht wieder auf), noch einmal zum relativen Erfolg. Frankreichweit demonstrierten laut französischem Innenministerium «560.000», laut CGT «rund zwei Millionen» Menschen. Real dürfte es gut eine Million gewesen sein, für den siebten «Aktionstag» innerhalb von anderthalb Monaten noch immer eine beträchtliche Zahl, wenngleich es einem spürbaren Rückfluss gegenüber dem bisher letzten gewerkschaftlichen Aktionstag am 19. Oktober entspricht. (Ein spezifischer «Aktionstag» der Studierenden am Dienstag, auf einen Aufruf der UNEF hin, hingegen blieb nur sehr schwach befolgt. In Paris demonstrierten rund 1.000, laut Agenturen, respektive 1.600 Personen laut UNEF vor dem Senat. Unter ihnen Studierende, aber auch Eisenbahner und Angehörige anderer Gruppen. In anderen Städten demonstrierten jeweils wenige Hundert Menschen.) Obwohl beide Parlamentskammern am Mittwoch in einem gemeinsamen, letzten Votum ihre Annahme der Renten«reform» definitiv bestätigt haben und das Gesetz nur noch auf seine Verkündung (d.h. feierliche Unterzeichnung durch das Staatsoberhaupt, Präsident Sarkozy, und sein Erscheinen im Amtsblatt/Gesetzesanzeiger) wartet, hat sich bislang keine Resignation breit gemacht. Der CGT-Gewerkschaft Jacques etwa bezeichnet den gestrigen Aktionstag als «schöne und nicht traurige Beerdigung» mit motivierten Teilnehmer/innen, da auch er den aktuellen Sozialprotest zwar weitgehend vor dem Ende stehen sieht, aber unter den Beteiligten keine Resignation oder Bitterkeit verspürt. Es hat in jedem Fall schon schlimmere Niederlagen, von denen die Teilnehmer/innen sich länger nicht erholten (wie jene vom Juni 2003 gegen die bisher vorletzte Renten«reform»), gegeben. Das Klima wirkt jedenfalls absolut nicht nach: «Geschlagen ziehen wir nach Haus, uns’re Enkel (erst) fechten’s besser aus…» Und nach wie vor kommt es zu einzelnen Aktionen, die freilich eher um Besetzungen und ähnliche «Nadelstichaktionen» denn um betriebliche Streiks herum konzentriert sind. Europas größte Müllverbrennungsanlage in Ivry-sur-Seine - am südlichen Stadtrand von Paris - etwa ist, seit zehn Tagen, zur Stunde noch immer blockiert. Und obwohl alle 219 Treibstoffdepots in Frankreich inzwischen «entblockiert» sind, kommt es dennoch immer wieder zu einzelnen Blockieraktionen. Am heutigen Freitag etwa bei einer Lieferzentrale für Supermärkte der Carrefour-Kette im südfranzösischen Aix-en-Provence. Am Samstag, den o6. November wird es noch einmal einen weiteren gewerkschaftlichen «Aktionstag» geben. Zuvor werden, am Donnerstag, den 04. November, die acht Gewerkschaftsverbände und -zusammenschlüsse zu einem gemeinsamen Gipfel (,Intersyndicale’) zusammen treten. Dieses Mal wohl nicht mehr in einer konsenshaften Atmosphäre, denn die «moderatesten» Verbände wie CFDT und UNSA werden nach dem definitiven Parlamentsvotum nunmehr für ein explizites Einstellen der Bewegung im Namen des «Respekts der Demokratie» plädieren. Andere Verbände möchten dies zumindest nicht erklärtermaßen tun. Noch kurz zur Repression Noch ein Wort zur Repression, das leider notwendig ist. Denn auch diese ist bei der diesjährigen Sozialprotestbewegung (bislang rund 2.300 Festnahmen) stärker als bei vorangegangenen. Am gestrigen Donnerstag, bei dem die Beteiligung der Oberschüler/innen und Jugendlichen - durch die Herbstferien bedingt - wesentlich schwächer ausfiel als an den vorausgehenden Aktionstagen, kam es «nur» zu 22 Festnahmen. Am heutigen Freitag früh wurden in Bordeaux drei SUD-Gewerkschafter festgenommen und befinden sich zur Stunde in Polizeigewahrsam. Ihnen wird vorgeworfen, an einer ,Opération Escargot’ («Aktion Schnecke», für Schneckentempo) auf der Autobahn - einer in den letzten Tagen und Wochen verbreiteten Aktionsform - teilgenommen zu haben. (Vgl. dazu eine Meldung vom Freitag mittag: http://www.europe1.fr/France/Bordeaux-Des-syndicalistes-en-garde-a-vue-299215/ ) In den letzten acht Tagen kocht zudem eine Debatte hoch, die zuerst durch den Chef der französischen «Linkspartei» PdG (einer Abspaltung von der Sozialdemokratie) - Jean-Luc Mélenchon - und seit seinem vorgestern erschienenen Interview auch durch CGT-Generalsekretär Bernard Thibault befeuert wurde. Beide behaupteten öffentlich, die Polizei unterwandere die Demonstrationen durch ,Agents provocateurs’, und diese seien für Randale- und Plünderungsaktionen verantwortlich. Davon zeugt angeblich auch ein kurzer Videofilm, der schon vor zwei bis drei Wochen im Internet publiziert worden war. Inhaltlich ist die Argumentation freilich ein bisschen dünn. Und vor allem steht sie in einer Tradition der französischen Parteikommunisten und CGT-Apparatschiks, die in früheren Jahrzehnten gerne alles, was ihrer Kontrolle entglitt oder links von ihnen stand - egal, ob es sich um vernünftige Ansätze oder durchgeknallte Pseudo-Strategien («bewaffneter Kampf in Westeuropa») handelte - leicht mal als «Agenten der Bourgeoisie» und «eingeschleuste Provokateure» abtat oder verteufelte. Auch, wenn bestimmte Aktionsformen durchaus kontraproduktiv sein mögen und beispielsweise Plünderungsaktionen nun wirklich niemandem nützen (außer denen, die sich an ihnen beteiligen und gütlich tun; und der Propaganda der konservativen Regierung sowie der sonstigen rechten Kräfte), so ist es ein bisschen billigen, Alles auf das Wirken bewusst agierender Provokateure zu schieben. Die soziale Wut, gepaart mit völliger politischer Orientierungslosigkeit, in Teilen des Subproletariats und die sich oft «unkontrolliert» Bahn brechende Frustration etwa unter Banlieue-Jugendlichen beispielsweise sind real. Und sie können mitunter die Motivation auch für kontraproduktive Aktionen, wie etwa Plünderungsszenen, liefern. Es muss ein Umgang damit gefunden werden. Aber überall eingeschleuste Polizisten am Werk zu sehen, trifft es nicht. Der durch den oben erwähnten, kurzen Videofilm im Internet angeblich enttarnte, «in Zivil agierende Polizist» jedenfalls entpuppte sich (glaubt man jedenfalls für’s Erste dem bürgerlichen Radiosender ,Europe 1’, unter Vorbehalt einer Überprüfung) als Doch-kein-Polizist. Es handelte sich, sofern die Angaben des Senders zutreffen, um einen Autonomen, der gestern Abend in einem besetzen Haus in Paris festgenommen wurde. Die, teilweise unkontrollierten und manchmal (in Einzelfällen) kontraproduktiven Aktionen am Rande von Demonstrationen dienten den beiden stärksten Apparaten - CGT und CFDT - auch dazu, beim letzten gemeinsamen Treffen der Gewerkschaftsverbände am 21. Oktober eine Distanzierung von allen außerhalb ihrer Reichweite stehenden Kräften und Aktionsformen vorzunehmen. So wurde in die Abschlusserklärung (die den Aufruf zu den neuerlichen Demonstrationen am 28. 10. und o6. November enthielt) ausdrücklich festgeschrieben, man fordere die Leute dazu auf, nur «im Respekt vor Personen und Gütern» zu demonstrieren. Es ist zwar in Ordnung, wenn man Angriffe auf Personen ablehnt und auch, wenn gewerschaftliche Ordnerdienste etwa versuchen, Plünderungen zu unterbinden. Doch damit war zugleich auch eine Distanzierung von den zahllosen «kleinen», sich spontan entwickelnden Besetzungs-, Blockier- und Nadelstichaktionen gemeint. Diese finden in der Abschlusserklärung der ,Intersyndicale’ vom 21. Oktober keinerlei Erwähnung; wurden durch die Apparate der stärksten Dachverbände in der Diskussion zuvor jedoch als «minoritäre Aktionen, die nicht die öffentliche Meinung hinter sich haben» abgetan. Artikel von Bernard Schmid vom 29. Oktober 2010 |