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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Frankreich : Streik vor Wende ? Drei von zwölf Raffinerien haben ihren Streik - vordergründig - eingestellt. Am gestrigen "Aktionstag" der Studierenden, zu dem die Studentengewerkschaft UNEF aufrief, blieb die Teilnehmer/innen/zahl eher gering, auch wenn einige Hochschulen - wie die Sorbonne und Nanterre - entweder administrativ geschlossen worden oder blockiert waren. Am wichtigsten aber ist, dass der Apparat der CFDT, des zweitstärksten Gewerkschaftsdachverbands in Frankreich, inzwischen erneut in eine Strategie des (Pseudo-)"Kompromisses" und der Verhandlungen eingebunden ist. Der Fortgang der Mobilisierung und des sozialen Ringens um die Renten"reform" könnte vor einem Wendepunkt stehen. Entscheidend dürfte der Verlauf des morgigen "Aktionstags" der Gewerkschaften sein: Je nachdem, wie die Teilnahme an ihm ausfällt, könnte es zu einem weiteren Abbröckeln der Mobilisierung (und der in einigen Sektoren noch bestehenden Streikfront) oder aber zu einer Fortführung des Kampfs in leicht veränderten Formen kommen. Besichtigen Sie Marseille, seinen Hafen, seine nahe gelegenen Raffinerien - und seine Müllberge! So sah es bis gestern aus: Die zweitgrößte Stadt Frankreichs hat inzwischen eine neue Attraktion. Am vergangenen Wochenende besichtigten rund 2.000 Teilnehmer/innen an Kreuzfahrten, vom Marseiller Hafen aus, in Booten die nahe gelegenen Müllhaufen. Die kleinen Boote mussten sie benutzen, weil der Hafen bestreikt wird. Derzeit warten dort 80 Tankschiffe, deren Ladung nicht gelöscht wurde, auf ihre Abfertigung. Unter ihnen auch Öltanker, denn die Erdölterminals in den Häfen der nahen Kleinstädte Fos-sur-Mer und Lavéra werden ebenso wie das Hafenbecken von Marseille schon seit Ende September bestreikt. Es geht unter anderem gegen die Renten"reform", aber auch gegen eine geplante Überstellung der Hafenbediensteten an Privatfirmen. Die südfranzösische Hafenstadt war bis jetzt das Zentrum des sozialen Konflikts, der derzeit ganz Frankreich erschüttert. Stärker als anderswo hat die Protestbewegung dort eine zahlreiche Berufsgruppen erfassende Dynamik angenommen: Streikende Lehrer, Eisenbahnerinnen, Müllabfuhrbedienstete und Raffineriearbeiter besuchen und unterstützen einander. Doch am Montag Abend setzte ein Teil der Müllabfuhr in der ,Cité Phocéenne' , wie man Marseille - auf seine Gründungsgeschichte während der griechisch-phönizischen Periode vor 2.600 Jahren zurückgehend, Phocea war eine griechische Stadt in der heutigen Türkei - auch nennt, ihren seit über zwei Wochen andauernden Streik aus. "Aus Hygiene- und gesundheitlichen Gründen", wie es hieß. Das Hygiene-Argument ist zwar durchaus einleuchtend: Die Stadt versank unter 8.000 Tonnen Abfällen, und rund eintausend Feuer waren durch genervte Nachbarn gelegt worden. Allerdings steckt hinter dem "Aussetzen" des Arbeitskampfs auch eine Entscheidung der Gewerkschaft FO (Force Ouvrière), die unter den städtischen Angestellten in Marseille die stärkste Einzelgewerkschaft stellt. FO ist in Marseille an z.T. ausgesprochen fragwürdigen Einstellungspraktiken beteiligt, eng mit Teilen der (auf Bezirksebene regierenden, im zentralen Rathaus dagegen oppositionellen) örtlichen Sozialdemokratie verwoben und verfilzt, und tritt zwar verbalradikal auf - ist aber gleichzeitig eine wirkliche "zivile Mafia". Wachsende Teile der örtlichen Sozialdemokratie, als lokale Regierungspartei, waren jedoch in den letzten Wochen zunehmend scharf gegen den Streik eingetreten. [1] Ferner wollte die Gewerkschaft aber auch Dienstverpflichtungen des Präfekten, die für den gestrigen Dienstag drohten - sofern sie "aus Gründen öffentlichen Interesses" ausgesprochen und gerichtlich bestätigt werden, droht bei Zuwiderhandeln Gefängnis -, zuvorkommen. Der Hafen von Marseille bleibt unterdessen auch am heutigen Mittwoch Mittag nach wie vor blockiert. Streik in drei Raffinerien (vorläufig??) eingestellt Psychologische Konfliktführung ist ein wichtiges Element in der Krisenverwaltung der französischen Regierung, Bluffen ist in ihren Augen erlaubt. Als Antwort auf die massiven Arbeitsniederlegungen, Streiks und Demonstrationen, die seit Wochen gegen ihre Pläne zur « Reform » des Rentensystems andauern, setzt sie vor allem auf eine Botschaft : « Normalität » kehre wieder. Am Sonntag fasste die Nachrichtenagentur Reuters es so zusammen, die Regierung setze auf eine « Entmutigung » der sozialen Opposition. Zur Kampfführung der französischen Regierung gehört mutmaßlich auch, dass sie die Treibstoffpreise - angesichts der anhaltenden Benzinknappheit, die noch immer ein Fünftel bis ein Viertel der französischen Trankstellen trocken liegen lässt - nach oben "entgleiten" lässt. An vielen Tankstellen sausten die Preise aufgrund der Knappheit nach oben. Zwar versichert die Regierung nach außen hin das Gegenteil, und Wirtschaftsministerin Christine Lagarde drohte schon mal Tankstellenbetreibern, die ungebührlich spekulierten, mit Sanktionen. Doch hinter den Kulissen profitiert die Regierung vom Ärger, den der Anstieg der Treibstoffpreise bei vielen Verbraucher/inne/n hervorruft. Parallel dazu saugt die Regierung sicherlich auch aus den "eisernen strategischen Reserven" an Treibstoff, die für Kriegs- und internationale Krisenzeiten vorgesehen sind, auch wenn sie ebenfalls das Gegenteil versichert - um die Auswirkungen des Raffineriestreiks aufzufangen. Am Dienstag früh stellten Regierung und Kapital zugleich entsprechend stark die Meldung in den Vordergrund, drei von zwölf in Frankreich gelegenen Raffinerien hätten ihren Streik eingestellt. In Wirklichkeit sieht die Situation komplexer aus. Zwar entschieden die Streikenden in den Raffinerien von Fos-sur-Mer in Südfrankreich, Gravenchon bei Rouen sowie Reichstetten bei Strasbourg tatsächlich, ihren Ausstand auszusetzen. Aber dies im vollen Wissen, dass ihre Anlagen deswegen nicht wieder anfahren werden : Alle drei werden über Ölterminals und -pipelines versorgt, die aufgrund des Streiks in den Ölhäfen von Fos-sur-Mer und Le Havre selbst total trocken liegen. Um vermelden zu können, der Streik bröckele ab, hatte die jeweilige Direktion überraschend hohe Angebote gemacht : Esso bezahlt für seine beiden Raffinerien sämtliche Streiktage - über zwei Wochen -, und die Schweizer Firma Petroplus verpflichtet sich, auf die geplante Schließung der Anlage in Reichstett zu verzichten. In den übrigen Raffinerien werden erst nach dem gewerkschaftlichen Aktionstag vom Donnerstag, am Abend danach, Vollversammlungen über eine Fortsetzung des Streiks oder Wiederaufnahme der Arbeit entscheiden. Ein Nebeneinander von Sektoren mit starker und mit schwacher Streikdynamik Der soziale Protest wird derzeit von einzelnen Sektoren mit starker Streikbeteiligung getragen, wie Raffinerien und Petrochemie, weitere Bereiche, wie der Transportsektor, weisen eine schwächere Streikdynamik auf, in anderen Branchen gibt es keine nennenswerten Streiks. Generell unterstützen die Lohnabhängigen zwar mehrheitlich den Protest, der letzten Umfragen zufolge nach wie vor über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung hinter sich weiß. Aber viele gehen lieber einzeln oder in kleinen Gruppen demonstrieren, hinter einem Transparent ihrer Gewerkschaft oder auch ohne Bezug auf ihren Arbeitsplatz, als den Verlust von mehreren Tagen Lohn hintereinander durch zeitlich unbefristete Streiks zu riskieren. Die wachsende Prekarisierung, die sinkenden Reallöhne und gewerkschaftliche Niederlagen sind nicht überall spurlos vorbeigegangen. Dennoch beginnen sich nun in manchen Sektoren, Beschäftigte zu organisieren, um zu versuchen, dem Risiko eines längerfristigen Lohnverlusts im Streikfall vorzubeugen oder entgegenzuwirken. In der Metallindustrie - wo derzeit vielfach zwei Stunden zu Schichtbeginn oder -ende gestreikt wird - oder bei der Müllabfuhr in Marseille, die bis am Montag streikte, sowie im Transportsektor wurde etwa beschlossen, dass Beschäftigte sich abwechseln und im Rotationsverfahren streiken oder dass Nichtstreikende Geld in eine gemeinsame Kasse einzahlen, aus der die streikenden Kollegen alimentiert werden. Denn eines der Grundprobleme vieler Streiks in Frankreich ist das Fehlen von Lohnersatz. Die Gewerkschaften zahlen grundsätzlich kein Streikgeld, üben aber auch keinerlei Kontrolle darüber aus, wann Lohnabhängige streiken oder die Arbeit wiederaufnehmen. Die Gewerkschaft kann ihnen zwar folgen und einen Arbeitskampf unterstützen, auf keinen Fall jedoch über Ausbruch und Dauer der Aktionen entscheiden. Historisch ist das ein großer Vorzug. Aber heute macht sich der materielle Verlust stärker als in der Vergangenheit bemerkbar. Früher bezahlten oft kommunistische Rathäuser den Streikenden eine Unterstützung. Zu Zeiten, in denen die Gewerkschaften noch stärker waren, wurde nach einem erfolgreichen Streik noch ein »Nachstreik« durchgeführt, um die Arbeitgeber zur Zahlung eines Teils der Streiktage zu zwingen. All dies ist in den vergangenen Jahren schwieriger geworden. CFDT verhandlungsbereit. Wie könnte es anders sein. ? Die wichtigste Wendung der Situation widerspiegelt sich jedoch in der Haltung der CFDT-Spitze. Am Montag Abend um 20 Uhr trat ihr Generalsekretär François Chérèque in den Abendnachrichten des französischen Fernsehens auf, zusammen u.a. mit der Chefin des zentralen Arbeitgeberverbands (MEDEF), Laurence Parisot. Dabei erklärte er, das Wichtigste liege nun darin, "über die Beschäftigung von Jugendlichen und Senioren zu verhandeln", um den Problemen Abhilfe zu verschaffen, die durch die Rentenreform aufgeworfen würden - etwa der geringen Beschäftigungsquote von Beschäftigung über 55/60. Laurence Parisot antwortete sofort: "Ich bin einverstanden." Die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné' (vom heutigen Mittwoch) zufolge handelte es sich um ein abgekartetes Spiel, das vom Sozialtechniker der bürgerlichen Rechten - respektive ihres moderaten Flügels - eingefädelt worden sei: Raymond Soubie, seit 1969 Berater der gaullistischen Rechten in Sachen Arbeits- & Sozialpolitik, seit 2007 Mitarbeiter Nicolas Sarkozys. Soubie wird zwar Ende November dieses Jahres in der Privatindustrie arbeiten gehen und schien politisch marginalisiert, ist aber - auch einem Artikel der Pariser Abendzeitung ,Le Monde' von gestern Abend zufolge - inzwischen zurück hinter den Kulissen, um die Beendigung der derzeitigen Krise bzw. des Sozialkonflikts zu managen. In den drei Raffinerien, die die Arbeit (pro forma, auch wenn die Anlagen weiterhin stillstehen) "wieder aufgenommen" haben, ist die CFDT in der Mehrheit - während in den sechs TOTAL-Raffinerien dagegen die CGT Mehrheitsgewerkschaft ist. Zwar ist auch die oberste Spitze der CGT (deren Generalsekretär der Szene im Fernsehstudio am Montag Abend schweigend beiwohnte, ohne den Mund aufzumachen) auf einer ähnlichen Linie wie die rechts von ihr angesiedelte CFDT-Spitze. Dennoch hat sie bislang ihrer Basis die Zügel locker gelassen. Und diese ist zum Gutteil auf weit radikaleren Positionen als ihre Führung. Übrigens (in anderen Proportionen) auch jene der CFDT: Dem ,Canard enchaîné' zufolge wollte sie die Beteiligung ihres Verbands am Sozialprotest schon vor Wochenfrist einstellen, aber anlässlich einer Funktionärstagung der CFDT am 20./21. Oktober hätten die Anwesenden quasi einstimmig für eine Fortsetzung des Kampfs gegen die Renten,reform" (und der Teilnahme der CFDT an ihm) plädiert. Entscheidend wird nun, vorläufig, das Ausmaß der Beteiligung am morgigen "Aktionstag" der Gewerkschaften werden. 1) Vgl. http://www.liberation.fr/economie/01012298280-a-marseille-des-elus-socialistes-jettent-la-greve-aux-ordures |