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Updated: 18.12.2012 15:51
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Unser Reporter vor Ort: Um ein Haar aus der Streikhölle entkommen!

(Nein, war nur ein Scherz: In Wirklichkeit steckt der Ärmste noch mitten drin)

Am Dienstag Vormittag - vor Beginn der Demonstrationen in vielen Städten, in Paris fand der Protestzug beispielsweise ab dem frühen Nachmittag statt - spitzte sich der Konflikt um die geplanten Renten"reform" in Frankreich weiter zu. Inzwischen waren laut Zahlen, die am Dienstag früh in der Presse zirkulierten (sofern sie überhaupt erscheinen konnten: mit Ausnahme einer Gratistageszeitung fielen sonst alle Zeitungen streikbedingt aus), 2.500 Tankstellen "trocken". Von insgesamt 12.500 Tankstellen, die in Frankreich existieren.

Den beruhigenden Versicherungen etwa von Wirtschaftsministerin Christine Lagarde und Transport-Staatssekretär Dominique Bussereau am Wochenende, dank der Reservekapazitäten stehe keinerlei Treibstoffknappheit oder Benzinkrise bevor, glaubt inzwischen fast niemand mehr. Offenkundig dienten diese Äußerungen vor allem dazu, als "Bluff" die Streikenden in den Raffinerien einzuschüchtern ("Wir können Euren Arbeitskampf aussitzen"), aber auch Vorrats- und Hamsterkäufe durch die Bevölkerung zu verhindern, die das Problem nur verschlimmern würden. In zwei ostfranzösischen Départements - Ardennes und Marne - wurden die Autofahrer/innen bereits offiziell durch die Behörden aufgefordert, "ihre (motorisierte) Fortbewegung einzuschränken". Am gestrigen Montag wurde im Innenministerium von Brice Hortefeux ein Krisenstab eingesetzt. Und dies passiert nun wirklich nicht bei jedem nichtigen Anlass. Die ,Cellule de crise' soll insbesondere auch die Situation an der Treibstofffront im Auge behalten.

Der Raffinerie-Streik (in inzwischen allen zwölf Erdöl-Raffinerien auf französischem Boden) zeitigt offenkundig seine Wirkung. Unterstützt wird er inzwischen auch durch LKW-Fahrer, die vielerorts die Reservedepots für Treibstoff blockieren - teilweise unterstützt durch Studierende (am Freitag Vormittag), oder durch Eisenbahner wie gestern in Dunkerque. Inzwischen vermehren die LKW-Fahrer auch die so genannten "Opérations Escargot' (Operation Schnecke), also Straßenblockaden durch langsam fahrende Lastwagen, die gestern auf der nordfranzösischen A1 zwischen Lille und Arras bspw. für zehn Kilometer Stau sorgten.

Die Sozialprotestbewegung hat derzeit drei "Zugpferde", da sich meistens ein Sektor als "Lokomotive" an die Spitze setzt (wie im Spätherbst 1995 die Eisenbahner/innen und Transportbediensteten, oder im Frühjahr 2003 die Lehrer/innen). Diese drei "Lokomotiven" sind derzeit die Häfen, die Raffinerien und die Oberschüler/innen. Wie oftmals, vermischen sich auch hier sektorielle Probleme (für die Petrochimie: die Pläne des Kapitals, die Raffineriekapazitäten aus Frankreichs auszulagern und im Land dicht zu machen; für die Häfen: die "Reform", die für eine Ausgliederung zusätzlicher Arbeitergruppen aus der Verantwortung der Hafenbehörden und ihre Unterstellung unter Privatfirmen beinhaltet) mit der allgemeinen Kampffront gegen die Renten"reform". Hingegen bleibt der Streik in anderen Sektoren oft unterentwickelt, in den städtischen Nahverkehrsbetrieben wie der Pariser RATP (Métro- und Buslinien) ist er sogar weitgehend gescheitert. Ursächlich dafür sind - neben der falschen und kurzsichtigen Auffassung, man sei nicht betroffen, da Eisenbahner und Transportbedienstete noch bis im Jahr 2017 eigene Rentenregelungen besitzen, die dann aber verschwinden - auch vergangene Niederlagen. Bei der Eisenbahn beispielsweise wurden sowohl im Winter 2007/08 (neun Tage Streik gegen die Abschaffung der Sonder-Rentenregeln) als auch im April 2010 (vierzehn Streik fur die Zukunft des Gütertransports, strategisch ungeschickt organisiert) zwei deftige Niederlagen in jüngerer Zeit einkassiert. Dennoch streikten auch nach Angaben der Direktion - die gewöhnlich bewusst untertrieben sind, und in ihren Prozentangaben alles Personal inklusive Managern und krankgeschriebenen Angestellten umfassen - am Samstag gut 25 Prozent und am Sonntag gut 26 Prozent der Beschäftigten bei der Bahngesellschaft SNCF. In Wirklichkeit dürfte die Streikbeteiligung über 30 Prozent liegen.

Insgesamt stellt die Streikbewegung aber - auf die Wirtschaftssektoren bezogen - derzeit einen Flickenteppich dar. Auch aufgrund der in den letzten Jahren gesunkenen Reallöhne (die Leute können es sich kaum erlauben, mehrere Tage am Stück ihren Lohn zu verlieren, es gibt keine Streikkassen in Frankreich), der Zunahme prekär beschäftigten Personals, und eben vergangener Niederlagen. Bislang ist die Sozialprotestbewegung zwar ausgesprochen breit, favorisiert aber in ihrer Mehrheit die massenhafte Demonstration und nicht den Streik als bevorzugtes Mittel. Gleichzeitig bleibt die Sozialprotestbewegung außerordentlich populär. 71 Prozent unterstützten beispielsweise den "Aktionstag" mit Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen (den achten in Folge) am heutigen Dienstag. Aber laut einer Umfrage von Ende vergangener Woche halten auch 54 Prozent einen "länger andauernden, breiten Streik wie 1995" (damals in den öffentlichen Diensten) für wünschenswert.

Ab jetzt dürften daneben aber auch vermehrt Sabotage-, Blockade- und Besetzungs-Aktionen hinzukommen; gleichzeitig wächst aber auch die Repression (in Saint-Nazaire wurden gestern erneut Demonstranten zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt). Ein Teil des Sozialprotests "radikalisiert" sich eher in dieser Form - während die ab dem 12. Oktober ausgerufenen, unbefristeten Streiks nicht überall gegriffen haben -, zumal in den letzten zehn Tagen auch ein massiver Jugendprotest hinzu gekommen ist. Am gestrigen Montag waren laut Angaben des Bildungsministeriums 261, laut Schülergewerkschaften UNL und FIDL hingegen 500 Oberschulen bestreikt und/oder blockiert. Einer Umfrage zufolge wünschen 68 Prozent der jungen Generation einen "Generalstreik".

In den Sozialghettos u.a. der Pariser Trabantenstädte hat sich inzwischen auch die Wut von jugendlichen Nicht-Schüler/innen/n zum Teil mit der Oberschüler-Streikbewegung vermischt. In Nanterre sollen sich am Montag "200 bis 250 Krwallmacher" unter eine Schülerdemonstration gemischt haben, und zündeten Autos an. In Seine-et-Marne (östlich von Paris) flogen einzelne Molotow-Cocktails, und in Lyon wurden Scheiben eingeworfen. Am Nachmittag vermeldete das Pariser Innenministerium, es seien insgesamt 196 "Krawallmacher" am Rande der örtlichen Schülerdemonstrationen festgenommen worden, am Abend belief sich ihre Zahl auf rund 300. Darunter sind aber auch Oberschüler, die sich einfach mit der Polizei anlegen, zumal die Jugendbewegung in den letzten Tagen bereits das Ziel besonders scharfer Repression geworden ist. Sinnbildlich dafür wurde der gezielte Schuss aus einer Flash-Ball (Gewehr für Gummigeschosse von 6,7 Zentimetern Durchmesser) am vergangenen Donnerstag auf den 16jährigen Schüler Geoffrey in der Pariser Vorstadt Montreuil.

An fünf Universitäten wurden am Dienstag Streikbewegungen oder Ausfälle des Vorlesungsbetriebs vermeldet, unter ihnen Rennes-2 ("aus Sicherheitsgründen" wurde diese Hochschule am vergangenen Donnerstag geschlossen) und Paris-8 in Saint-Denis. Allgemein greift die Protestbewegung aber bislang den Oberschulen wesentlich stärker als an den Universitäten.

Auch in der Privatindustrie (abgesehen von der Petrochimie, wo ohnehin der Bär los ist) finden spektakuläre Aktionen statt. Der "Standorts" des Automobilkonzerns Peugeot-PSA im elsässischen Mulhouse wurde beispielweise am gestrigen Montag durch circa 60 gewerkschaftliche Aktivisten blockiert, bevor sie durch die Gendarmerie vertrieben wurden.

Artikel von Bernard Schmid, Paris, 19.10.2010


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