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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Frankreich: Beginn des unbefristeten Streiks in vielen Sektoren Und ein kleiner Rückblick auf 20 Jahre Renten"reformerei" in Frankreich Zu Beginn des Streiktags am heutigen Dienstag, den 12. Oktober lässt sich noch keine Gesamtbilanz ziehen. Bei der französischen Eisenbahngesellschaft waren laut Zahlen der Direktion (die für gewöhnlich untertrieben sind, u.a. da sie alle Kategorien inklusive der leitenden Angestellten und Manager statistisch in einen Topf werfen) 40,4 % der abhängig Beschäftigten im Streik, gegenüber 37 % am letzten gewerkschaftlichen "Aktionstag" vom 23. September dieses Jahres. Der Zugverkehr war erheblich beeinträchtigt, so fiel jeder zweite Hochgeschwindigkeitszug - TGV - oder überregionale Zug (Corail) aus. Hingegen funktionierte der Pariser Nahverkehr, vor allem die Métro und mit Abstrichen die Buslinien, beinahe normal. Beeinträchtigt waren hingegen die den gesamten Großraum Paris befahrenden Vorortzüge, bei denen jeder zweite Zug (in West-Ost-Richtung, RER A) oder gar nur jeder fünfte Zug (in Nord-Süd-Richtung, RER B) verkehrten. An den Pariser Flughäfen mussten 50 Prozent (Paris-Orly) respektive 30 Prozent (Paris-Charles de Gaulle, in Roissy) der Flüge annulliert werden. Im Schulbereich war circa ein Viertel des Lehrpersonals im Streik; laut Zahlen des Bildungsministeriums waren es etwa im Grundschulbereich (der mit am stärksten betroffen schien) 27 Prozent, gegenüber 34 % beim letzten "Aktionstag" am 23. September. Allerdings breitete sich am heutigen Tag an den Oberschulen erneut ein Streik der lycéens und lycéennes (Oberstufenschüler/innen) erheblich aus. Deren Ausstand hatte bereits am Donnerstag und Freitag vergangener Woche begonnen. Am letzten Donnerstag waren laut Angaben der Oberschülerverbände UNL und FIDL 150 Oberschulen, am Freitag 116 Oberschulen vom Ausstand betroffen. Hingegen berief sich das Bildungsministerium zu dem Zeitpunkt darauf, es seien laut seinen Zahlen 84 Schulen und "nur zwei Prozent der insgesamt 4.302 Oberschulen" in Frankreich. Betroffen waren vor allem kleinere und mittelgroße Städte in Südwestfrankreich (Toulouse, Rodez, Auch), in Südost- und Ostfrankreich. Im ostfranzösischen Bonneville kam es dabei zu einem Unfall, weil zwei Schülerinnen auf einer Demonstration verletzt worden waren: Sie wurden im Gesicht verbrannt, nachdem sie versucht hatten, ein Fass mit einer brennbaren Flüssigkeit zu entzünden. In Saint-Quentin in der Picardie - nordöstlich von Paris - wurden hingegen drei Polizeibeamte (leicht) verletzt. Zuvor war es zu Zusammenstößen anlässlich einer Schülerdemonstration gegen die Renten"reform" bekommen, und Oberschüler hatten daraufhin beschlossen, den Bullen auf die Fresse zu hau..- pardon: sich auf nicht rechtskonforme Weise den uniformierten Ordnungshütern zu widersetzen. Am heutigen Dienstag waren es nunmehr bereits 299 Oberschulen, die von Streiks der Schüler/innen betroffen waren. 90 Einrichtungen waren durch den Ausstand "blockiert", und an 209 weiteren wurden "Unterrichtsstörungen" durch die Mobilisierung vermeldet. Damit wären nunmehr knapp 7 Prozent der Oberschulen in Frankreich betroffen. An den Universitäten ruft die - heute mit Abstand stärkste und sozialdemokratisch geführte - Studierendengewerkschaft UNEF zu einem "Tag tote Hochschule", also zum Lahmlegen des "Normalbetriebs", am heutigen Dienstag auf. Bislang hatte die Studierendenschaft allerdings in den letzten Tagen noch eher Schwierigkeiten gezeigt, sich zum Thema "Rentenreform" in Bewegung zu setzen. An Vollversammlungen in verschiedenen Universitäten, etwa Ende vergangener Woche in Nanterre (Paris-10), nahmen nur je circa 100 Studierende teil - weit unterhalb der bei früheren sozialen Protestmobilisierungen erreichten Teilnehmerzahl. Auch die französische Sozialdemokratie unterstützt (neben Gewerkschaften und Linken) die Straßendemonstrationen, die am heutigen Tag wiederum in zahlreichen französischen Städten stattfinden. In Paris ging es am frühen Nachmittag - ab circa 13.30 Uhr - vom Montparnasse-Bahnhof aus losging. Doch die Sozi-Partei hat ein ernsthaftes Problem: In einem Rapport des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die geplante französische Renten"reform" ausdrücklich als angeblich positive Weichenstellung begrüßt. Der aktuelle Direktor des IWF ist jedoch der französische Sozialdemokrat und Ex-Wirtschaftsminister von 1997 bis 99, Dominique Strauss-Kahn alias "DSK". Der amtierende Arbeits- & Sozialminister Eric Woerth "bedankte" sich darum am vergangenen Freitag öffentlich bei DSK und lobte ihn für seine wirtschaftspolitische Vernunft. Die französische Sozialdemokratie, deren Putativ-Präsidentschaftskandidat Strauss-Kahn ist - der Mann möchte Parteichefin Martine Aubry gar zu gern die Kandidatur für 2012 streitig machen, konnte aber seine Ambitionen bislang nicht öffentlich anmelden, da er sonst beim IWF 'rausflöge; nun soll im Herbst 2011 eine "Vorwahl" ähnlich den US-amerikanischen ,Primary Elections' stattfinden -, hatte ihre liebe Mühe & Not. Die Partei ließ daraufhin am Freitag erklären, "die Unterstützung Dominique Strauss-Kahns für die französische Rentenreform" sei "nicht erwiesen" (sic). Ähnlich wie der durch DSK geführte Internationale Währungsfonds äußerte sich am Wochenende, in einem Interview für die Sonntags-Ausgabe der Boulevardzeitung ,Le Parisien', auch der frühere "sozialistische" Premierminister (von Juni 1988 bis Mai 1991), Michel Rocard. Der Vertreter des besonders wirtschaftsliberalen Parteiflügels erklärte in dem Interview, er sei über die Zukunft Frankreichs besorgt, fürchte sich vor einer "Radikalisierung der Protestbewegung" und sei für eine Anhebung des Renteneintrittsalters als notwendige Weichenstellung. Der Name Michel Rocards führt uns dabei zu einem kurzen Rückblick auf die Vorgeschichte der aktuellen Renten"reform", an der die französische Sozialdemokratie ebenfalls nicht völlig unbeteiligt ist. Zwei Jahrzehnte Renten"reformerei" Am Rentensystem herum zu "reformieren", ist keine neue Angelegenheit; in Frankreich wie anderswo. Doch die letzte Reform im wortgetreuen Sinne - d.h. im Sinne des Reformbegriffs, der progressive soziale Veränderungen verspricht - war die Weichenstellung unter der "Links"regierung im Jahr 1982, die zum 1. April 1983 in Kraft trat. Sie beinhaltete das Recht, ab 60 Jahren in Rente zu gehen, sofern man genügend Beitragsjahre zusammen hat (damals 37,5 Jahre) oder aber Abzüge für fehlende Beitragsjahre in Kauf nimmt - und ansonsten ab spätestens 65 (und bei Erreichen dieses Alters dann ohne Abzüge). Die ersten rückwärtsgerichteten "Reform"idee waren im so genannten "Weißbuch Renten" enthalten, das unter der Verantwortung des damaligen sozialliberalen Premierministers Michel Rocard im April 1991 publiziert wurde. Es enthielt u.a. den Vorschlag, die Beitragsdauer von 37,5 auf 40 Beitragsjahren anzuheben. Die aktuell geplante "Reform" der Renten in Frankreich ist die dritte seit 1993. Sie wird insbesondere an drei "Stellschrauben" drehen: dem gesetzlichen Mindest-Alter für den Renteneintritt; der Zahl der erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse; und dem gesetzlichen "Normalter" (ab dem eine Rente ohne Abschlagszahlungen auch bei fehlenden Beitragsjahren bezogen werden kann). Die vorletzte "Reform" wurde unter der Regierung von Edouard Balladur im Hochsommer 1993 verabschiedet. Sie betraf nur die Arbeiter und Angestellten im privaten Wirtschaftssektor. Die Zahl der abgeforderten Beitragsjahre wurde für sie von zuvor 37,5 auf 40 erhöht. Ferner wurde die Berechnung der Rentenkalkulation verändert: Statt auf Grundlage der zehn "besten Verdienstjahre" wird seit damals die Rente auf Grundlage der 25 "besten Verdienstjahre" berechnet. Dies bedeutete für viele Lohnabhängige einen Verlust von 300 bis 400 Euro an der monatlichen Rente. Diese "Reform" betraf nicht die Staatsbediensteten. Die bislang letzte "Reform" wurde im Juli 2003 unter Premierminister Jean-Pierre Raffarin und Präsident Jacques Chirac verabschiedet, nachdem im Mai und Juni bis zu zwei Millionen Menschen dagegen auf die Straße gegangen werden. Damals wurde u.a. die "Reform" von 1993 nun auch für die öffentlich Bediensteten "nachgeholt": Das bedeutete 40 Beitragsjahre für alle Lohnabhängigen, bis im Jahr 2010. (Dies ist der nun erreichte, aktuelle Stand.) Perspektivisch wurden damals 42,5 Beitragsjahre bis 2020 ins Auge gefasst. Ferner verschwanden damals, ab 2003, die meisten "Sonder-Rentenregime", die historisch für bestimmte Beschäftigtengruppen errungen worden waren. - Auch die französische Sozialdemokratie hätte mutmaßlich eine vergleichbare Reform durchgeführt, hätte die Präsidentschaftswahl im April/Mai 2002 den damaligen "sozialistischen" Premierminister Lionel Jospin an die Staatsspitze befördert (er kam bekanntlich nicht in die Stichwahl). Jospin hatte sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Winter 2001/02 geweigert, bezüglich seiner Rentenpläne Farbe zu bekennen, und hatte sich darauf hinausgeredet, nach seiner Wahl würde 2002/03 "ein Jahr lang eine Konzertierung (mit Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften usw.)" stattfinden, "bevor eine Entscheidung getroffen wird". Die Pläne dürften freilich auch bei ihm längst in den Schubladen gelegen haben. Die Kapitalseite hatte die Regierung Jospin seit 2001 durch eine sozialpolitische Offensive dazu zu zwingen versucht, Pflöcke einzuschlagen: Im Frühjahr 2001 hatte der wichtigste Arbeitgeberverband MEDEF damit gedroht, innerhalb von kürzester Zeit die geschuldeten Sozialbeiträge der Unternehmen nicht mehr in die Rentenkasse abzuführen, sondern diese zu boykottieren und finanziell auszutrocknen. Er drohte dadurch mit einem Crashkurs, "falls die Frage der Finanzierungspolitik (für die kommenden Jahrzehnte) nicht in Bälde geklärt wird". Die ersten Demonstration gegen die drohenden "Reformen" des Rentensystems in Frankreich hatten deswegen am 25. April 01 stattgefunden. Die Sozialdemokratie hielt sich daraufhin bis zur Wahl ein Jahr später bedeckt - was ihre Glaubwürdigkeit jedoch nicht steigerte, da sie keinerlei Farbe bekennen mochte. Seitdem darf sie nun in der Opposition schmoren, und dort mitunter wohlklingende Töne anschlagen. Im Winter 2007.08 wurden auch die relativ günstigen Rentenregelungen für die Eisenbahner/innen gekippt. Diese werden nun ab dem Jahr 2017 verschwinden. Derzeit versuchen Politiker des Regierungslagers oder rechte Journalisten (wie der RTL-Kommentator Eric Zemmour), die Eisenbahner/innen von den Protesten gegen die Renten"reform" abzuspalten, indem sie sich darauf berufen, diese seien ja "erst ab 2017 betroffen", d.h. fielen erst ab jenes Jahr unter das allgemeine Rentenregime. Nur: Die aktuell geplante "Reform" soll ab dem Jahr 2018 greifen - und bis dahin werden die eben auch die Sonder-Rentenregelungen für Eisenbahner/innen und Transportbedienstete vom allgemeinen Rentenregime "geschluckt" worden sein. Aktuell, im Oktober 2010, sollen folgende Punkte neu geregelt werden: Erstens, das Mindest-Eintrittsalter. Es liegt seit dem Jahr 1982 und der Präsidentschaft François Mitterrands bei 60 - betrifft aber real nur jene Lohnabhängigen, die entweder die erforderlichen Beitragsjahre (derzeit noch 40) beisammen haben, oder aber einen Abschlag in Höhe von 6 Prozent der Rente pro fehlendes Beitragsjahr verkraften können. Dieses Mindest-Eintrittslter soll auf 62 angehoben werden. Ausnahmen sollen bei ärztlich attestierter Arbeitsunfähigkeit (ab einer Invaliditätsrate von 20 %, in begründeten Sonderfällen ab 10 %) gelten. Alle Gewerkschaften und die Sozialdemokratie lehnen dies ab. Zweitens, die Beitragsdauer: Diese soll von bislang 40 Jahren auf künftig 41,5 Beitragsjahre (ab dem Jahr 2018) angehoben werden. Dies wird u.a. durch die Mehrheit bei der französischen Sozialdemokratie und durch den, rechtssozialdemokratisch geführten, Gewerkschaftsbund CFDT ebenfalls befürwortet. Drittens, das "gesetzliche Alter": Auch bei fehlenden Beitragsjahren kann ab diesem Alter die Rente zu vollen Bezügen geltend gemacht werden. Es liegt derzeit bei 65, soll jedoch auf 67 angehoben werden. Das betrifft mehrheitlich Frauen, die wesentlich häufiger "Lücken in der Erwerbsbiographien" aufweisen als Männer (und deshalb im Durchschnitt mit fünf Beitragsjahren weniger in Rente gehen, deshalb oft auch später), und die heute nachwachsenden Generationen aufgrund längerer Schul- und Ausbildungszeiten gegenüber früher. Bis in die konservativ-wirtschaftsliberale Regierungspartei UMP hinein lehnen Frauenpolitikerinnen diese Maßnahme ab. Auch die Gewerkschaften, die Linke inklusive der Sozialdemokratie und Teile der bürgerlichen Mitte fordern, diese Stellschraube bei 65 Jahren zu belassen. Durchschnittlich gehen Lohnabhängige heute in Frankreich mit 61 Jahren in die Rente. Bezogen auf die gesamte Altersstufe zwischen 55 und 65 Jahren arbeiten heute weniger als 40 Prozent. Dies liegt jedoch oftmals nicht daran, dass die Menschen früher zu arbeiten aufhören würden, sondern das sie keine Arbeit mehr haben - denn ab Anfang 50 ist es wesentlich schwerer, eine Arbeit zu behalten oder gar eine neue zu finden. Die Betreffenden gelten bei Unternehmen als "unproduktiv". Die Erhöhung von Rentenalter und Beitragsdauer wird daran voraussichtlich wenig ändern - auch wenn die Regierung verspricht, Unternehmen ein Jahr lang die "Lohnnebenkosten" völlig zu erlassen, sofern sie "Senioren" einstellen. Entscheidender ist jedoch ein anderer Punkt: Nicht das Alter, an dem die Menschen aufhören zu arbeiten ,wird sich in der Mehrzahl der Fälle ändern - sondern die Höhe ihres Rentenanspruchs, aufgrund einer wachsenden Zahl fehlender Beitragsjahre. Dazu "passend" enthält das "Reform"gesetz ebenfalls Bestimmungen zur erleichterten Einführung privater Rentenversicherungen. Eine wachsende Anzahl von Menschen wird nämlich von ihrer gesetzlichen Renten kaum oder nicht mehr leben können. Ferner erlaubt ein im November 2008 sang- und klanglos verabschiedetes Mini-Gesetz es Lohnabhängigen, "freiwillig" bis zu 70 Jahren weiter zu arbeiten (davor war mit 65 prinzipiell Schluss), wenn sie von ihrer Rente allein nicht leben wollen - oder nicht mehr können... Artikel von Bernard Schmid vom 12.10.2010 Siehe dazu auch: Sozialer Aufruhr in Frankreich. Das Ringen um die Rente - ein Vergleich über die Grenzen hinweg zwischen Frankreich und Deutschland "In Frankreich sind die "sozialen Fronten" in Bewegung geraten. Zum ersten Mal seit den Massenprotesten im März und April 2006, die damals erfolgreich die Demontage des Kündigungsschutzes verhindern konnten (vgl. Staatsbegräbnis für das umstrittene Arbeitsgesetz), zeichnet sich ein möglicherweise harter und längerer sozialer Konflikt ab. Abhängig Beschäftigte bei der Eisenbahn, in Nahverkehrsbetrieben, in Raffinerien, Häfen, Energieversorgungsbetrieben und Metallfirmen, aber inzwischen auch Oberschüler und Studierende sind ab heute, Dienstag, zu Protesten gegen die geplante Renten"reform" aufgerufen. Diese werden in vielen Fällen die Gestalt von zeitlich unbefristeten Streiks annehmen." Artikel von Bernard Schmid in telepolis vom 12.10.2010 |