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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Wie der Widerstand weitergehen soll... "Aller Anfang ist schwer. So auch am Dienstag Abend, in dieser Woche. "Am Ende von Geleis 4", im Pariser Ostbahnhof, da finde die Versammlung von Streikaktivisten aus verschiedenen Sektoren, die eine Radikalisierung der Protestbewegung wünschen, statt - so hieß es zuvor in einer e-Mail. Da stehe ich nun am Gleis 2, aber es hechten mir nur ankommende Reisende aus dem TGV (Schnellzug) Metz-Paris entgegen, die es anscheinend eilig haben. Guter Rat ist teuer. Und wenn das andere Ende gemeint war? Das ist des Rätsels Lösung. Mehrere hundert Meter außerhalb des Bahnhofs stehen sie, rund 100 Menschen, in einem Kreis. Neben einem Gebäude, wo die Reinigungskräfte der französischen Bahngesellschaft SNCF sich umkleiden und auf ihre Einsätze vorbereiten, und im nahen Lärm aufwärmender TGV-Motoren. Es ist schwer, sich Gehör zu verschaffen" - so beginnt der Artikel "Schlecht für den Opa: Rentenpolitik in Europa - Gut für die Oma: Demos für Renten & die Roma" von Bernard Schmid vom 01. Oktober 2010. Schlecht für den Opa: Rentenpolitik in Europa - Gut für die Oma: Demos für Renten & die Roma Aller Anfang ist schwer. So auch am Dienstag Abend, in dieser Woche. „Am Ende von Geleis 4“, im Pariser Ostbahnhof, da finde die Versammlung von Streikaktivisten aus verschiedenen Sektoren, die eine Radikalisierung der Protestbewegung wünschen, statt – so hieß es zuvor in einer e-Mail. Da stehe ich nun am Gleis 4, aber es hechten mir nur ankommende Reisende aus dem TGV (Schnellzug) Metz-Paris entgegen, die es anscheinend eilig haben. Guter Rat ist teuer. Und wenn das andere Ende gemeint war? Das ist des Rätsels Lösung. Mehrere hundert Meter außerhalb des Bahnhofs stehen sie, rund 100 Menschen, in einem Kreis. Neben einem Gebäude, wo die Reinigungskräfte der französischen Bahngesellschaft SNCF sich umkleiden und auf ihre Einsätze vorbereiten, und im nahen Lärm aufwärmender TGV-Motoren. Es ist schwer, sich Gehör zu verschaffen. Bahnbeschäftigte sind gekommen, aber auch LehrerInnen und Postbedienstete und Einzelne, die in Privatfirmen arbeiten. Einige sind nicht gewerkschaftlich organisiert, andere gehören den linken Basisgewerkschaften SUD an, viele dürften wohl radikale Linke sein. Sie zählen sich zum harten Kern der Proteste, die sich gegen die aktuell in der parlamentarischen Debatte befindliche „Reform“ der Renten in Frankreich richten und die an zwei Wochentagen im September d.J. bereits zwei bis drei Millionen Demonstranten auf die Beine brachte. Alle acht französischen Gewerkschaftsverbände riefen dazu auf. Auch am Samstag dieser Woche (o2. Oktober) und am übernächsten Dienstag, den 12. Oktober soll wieder dagegen demonstriert werden; im zweiten Falle soll es auch Arbeitsniederlegungen geben. Diese Mobilisierung an einem Wochenendtag – im Falle des morgigen Sonnabend – soll vor allem auch dazu dienen, es Lohnabhängigen und ihren Familienmitgliedern zu erlauben, ohne einen Streiktag absolvieren zu müssen (also Lohn zu verlieren) oder ihren Chef ein weiteres Mal zu verärgern, an den Demonstrationen teilzunehmen. Dadurch soll sich das quantitative Ausmaß der Mobilisierung, also die Anzahl der Demonstrierenden, erhöhen und die Mobilisierung noch verbreitern. Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur AFP vom heutigen Freitag fRüh erklärt jedoch CFDT-Chef François Chérèque, er rechne mit „zwei bis drei Millionen Demonstranten“ am morgigen Samstag. Dies würde einem quantitativen Rückschritt gegenüber den letzten Demonstrationen am 23. September (laut gewerkschaftlichen Angaben gab es damals drei Millionen Teilnehmer/innen) entsprechen – die das Regierungslager selbstverständlich auch entsprechend ausschlachten würde. Schon am 23. September hatte es (damals zu Unrecht) behauptet, die Demos widerspiegelten einen Rückgang der Mobilisierung, Arbeitsminister Eric Woerth sprach etwa von ihrer ,décélération’ (wörtlich: einer „Entschleunigung“, also Drosselung ihres Tempos). Das Präsidialamt im Elysée-Palast hatte gar einen „deutlichen Rückgang“ behauptet, was jedoch schon vor Beginn der Pariser Demonstration um 13 Uhr an jenem Donnerstag verkündet wurde und deswegen Wutschreie der Gewerkschaftsführungen hervorrief. Letztere sprechen einmütig von „Manipulation“. Die Mobilisierungen morgen und der darauffolgende „Aktionstage“ zehn Tage später gehen dem Beginn und dem Ende der Debatte über die „Reform“ im Senat – dem Oberhaus des französischen Parlaments – jeweils um zwei Tage voraus. Am 14. Oktober wird der Senat abstimmen. Das Unterhaus, die französische Nationalversammlung, hat die Vorlage schon am 15. September in erster Lesung angenommen. Da der Senat aber einige Änderungen am Text vornehmen wird, die ihn abmildern sollen, muss die Nationalversammlung im Anschluss noch einmal debattieren. Einige der acht französischen Gewerkschaftsbünde – ihre Mehrheit - wollen die „Reform“ in ihrer jetzigen Fassung ganz verhindern und das Thema Renten im Anschluss „auf neuer Grundlage“ diskutieren; wobei die offiziellen Stellungnahmen der größeren Dachverbände oft relativ ambivalent ausfallen, indem sie „eine andere Reform“ postulieren, aber nicht (wie ihre radikaleren Kräfte es fordern) schlicht „den Rückzug/die Rücknahme“ der jetzt debattierten Vorlage verlangen. Andere erhoffen sich gar noch „Verbesserungen“ am Text. Dessen Kerninhalt besteht darin, das Eintrittsalter in die Rente anzuheben. Drei Richtwerte stehen dabei zur Debatte. Im Mittelpunkt stehen die obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse – wem welche davon fehlen, der oder die verliert pro fehlendes Jahr sechs Prozent an der Rente. Bis im Jahr 1972 wurden den Lohnabhängigen in Frankreich 30 Beitragsjahre abgefordert. Danach waren es 37,5. Seit 1993 werden von den Beschäftigten in der Privatwirtschaft, seit 2003 von denen im öffentlichen Dienst nun 40 verlangt. Und es soll weitergehen: Bis im Jahr 2018 sollen es 41,5 werden. Und für danach behält die Regierung sich eine weitere Anhebung vor, da die Lebenserwartung steige. Wer diese Beitragsdauer aufweisen kann, darf in Rente, aber frühestens bei Erreichen eines Mindestalters. Das lag bisher bei 60, und wird auf 62 angehoben. Wer die Beitragsjahre nicht beisammen hat und nicht auf einen Anteil an der Rente verzichten kann, musste bislang bis 65 warten. Künftig sollen es 67 Jahre sein. An diesen Grundsätzen möchte die Regierung auch nach den seit Monaten andauernden Protesten nicht rütteln. Nur will der Senat, wo die rechte Regierungspartei UMP nur zusammen mit den moderateren Mitte-Rechtes-Kräften des „Zentrums“ (Union Centriste) mehrheitsfähig ist, jetzt noch Ausnahmeregelungen einbauen. Etwa für Mütter von mindestens drei Kindern, die „gebrochene Erwerbsbiographien“ aufweisen, oder Körperbehinderte. Diese sollen bereits früher aufs Altenteil gehen dürfen. Am vorigen Sonntag, 26. September, hatte Senatspräsident Gérard Lercher in einem Gespräch mit der Sonntagszeitung ‚JDD’ durchblicken lassen, seine Parlamentskammer werde – aus Sorge um „Gerechtigkeit“ – eine Reihe von Änderungsanträgen zu dem „Reform“entwurf verabschieden; und dies geschehe mit ausdrücklichem Einverständnis des Elysée-Palasts. Allerdings hat der Berichterstatter in der zuständigen Senatskommission – Dominique Leclerc (UMP) -, der über 100 Änderungs- oder Zusatzanträge zu dem Entwurf ausgearbeitet hatte, diese am gestrigen Tage ersatzlos zurückgezogen. Die Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ interpretierte dies so, als habe es Druck von der Staatsspitze gegeben, wo man darauf dränge, die Debatte im Senat so schnell wie irgend möglich „durchzuziehen“. Abzuwarten bleibt, ob erneut Zusatzanträge während der Senatsdebatte, diesmal mündlich, präsentiert werden; und falls ja, ob dies mit Unterstützung aus Regierungskreisen geschehen wird. Widrigenfalls hat das Regierungslager sich doch noch von den angekündigten, mageren „Kompromissen“ verabschiedet. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/politique/article/2010/09/29/reforme-des-retraites-le-rapporteur-ump-de-la-commission-des-affaires-sociales-retire-ses-amendements_1417493_823448.html) Die französische Sozialdemokratie und die rechteren Gewerkschaften – wie die rechtssozialdemokratische CFDT – sind gegen die Anhebung der beiden Altersgrenzen (60 und 65), aber treten gleichzeitig für die Verlängerung der Beitragsdauer ein. Dies läuft de facto darauf hinaus, innerhalb der Altersspanne von 60 bis 65 eine wachsende Anzahl von Lohnabhängigen in Richtung der oberen Grenze (von 65) zu drücken. Derzeit liegt das Durchschnittsalter des realen Renteneintritts bei circa 61 Jahren; wobei nicht alle Lohnabhängigen freiwillig über den Endzeitpunkt ihres Alterslebens entscheiden, sondern viele auch ab 50 von extremen Schwierigkeiten, einen Job zu finden oder zu behalten, betroffen sind. CFDT-Chef François Chérèque hat sich in einem Interview mit der linksliberalen Tageszeitung ,Libération’ – als „kompromiss“fähige Teilforderung? – dafür ausgesprochen, die Anhebung der oberen Altersgrenze von 65 auf 67 aus dem übrigen „Reform“paket herauszunehmen, zu isolieren und darüber dann im Jahr 2015 getrennt abzustimmen. Die Mehrheit der Gewerkschaften dagegen möchte die Rente mit 60, die schon heute für viele Lohnabhängige aufgrund der Zahl der Beitragsjahre nur ein rein theoretisches Recht darstellt, als Recht für alle Lohnabhängigen. Im Prinzip ohne weitere Konditionen. Zurück in die Gare de l’Est. Die Versammelten am Pariser Ostbahnhof jedoch sind der Auffassung, die Gewerkschaften täten nicht genug dafür. Alle paar Wochen eine größere Zahl von Beschäftigten zu Demonstrationen auf die Straße zu bringen – wie am 27. Mai, 24. Juni, 07. September, 23. September und nun wieder am 02. und 12. Oktober – führe nun nicht mehr weiter: Die Regierung sei trotz der Millionenproteste fest zum Weitermachen entschlossen. Der junge Lehrer Michel etwa meint, schon die nächsten „Latschdemonstration“ seien vielleicht „die Demo zu viel“: Irgendwann nutze sich das ab, und beim ersten Rückgang der Teilnehmerzahlen würden die Regierung und ein Teil der Medien alles tun, um die Proteste zu demobilisieren. Stattdessen müssten schnell Streikbewegungen in möglichst vielen Sektoren her, deren Arbeitsniederlegungen nicht auf die 24 Stunden eines „Aktionstags“ befristet seien, sondern unbefristet weitergeführt werden. Aber, so fügen, alle Anwesenden hinzu, überall erweise es sich als schwierig, eine solche unbefristee Streikbewegung in Gang zu bringen: An den Streiks im Pariser Ostbahnhof bspw. beteiligte sich rund die Hälfte der 5.000 dort Beschäftigten, aber zu den Vollversammlungen kamen dann maximal 70 Leute – eine zu geringe Zahl, um auf breiterer Grundlage einen Streik zu entfachen. Von überall her treffen ähnliche Meldungen ein, aus den Vollversammlungen von streikenden Lehrer/inne/n oder Pariser Stadtbediensteteten etwa. (Vgl. auch einen Bericht der Internetzeitung ,Médiapart’ – die auf derselben Vollversammlung war wie der Autor dieser Zeilen, der auf einem ihrer Fotos sogar zu sehen ist, hihihi – dazu: http://www.mediapart.fr/journal/france/280910/des-greves-reconductibles-ou-pas-les-hesitations-de-la-base ) Notfalls, wenn breitere Ausstände vorerst ausbleiben, so die am Dienstag Abend Versammelten, müssten kleinere „harte Kerne“ damit anfangen. Um dahin zu kommen, möchten die Versammelten nun kleine „Nadelstichaktionen“, etwa Blockaden oder unangekündigte Demos in Pariser Kleine Leute- und Migranten-Vierteln, durchführen. Die verbalradikalen Sprüche einiger der Anwesenden, eher aus dem anarchistischen Spektrum („Die Rente ist mir im Prinzip wurscht, ich bin für Zaster für Alle – jung oder alt -, auch wenn sie gar nicht arbeiten möchten“, meint ein 28jähriger, der für ein Computerunternehmen arbeitet), die einen nicht ganz geringen Anteil der Vollversammlung ausmachen, dürften sich freilich längerfristig eher als hinderlich erweisen. Um solche Vorstellungen herum dürfte sich jedenfalls wohl keine breitere Bewegungen der Lohnabhängigen kristallisieren, da ihnen da doch ganz massiv der Glaube an die Durchsetzungsfähigkeit oder „Durchkämpfbarkeit“ abgehen dürfte... Kleine harte Kerne einer Streikbewegung: Vergangene Woche hat es dies bereits an einigen Stellen gegeben. Vielerorts wurden die Streiks, die den Demonstrationstag am letzten Donnerstag begleitet, vor Ort einfach weitergeführt (doch liefen sich dann irgendwann tot). Fünf von sechs Raffinerien, die der Ölkonzern TOTAL – das größte Unternehmen im Land – auf französischem Boden hat, streikten mit einer Mehrheit der Beschäftigten bis zum Wochenende weiter. Bei der Bahn war der Verkehr noch bis zum Samstag beeinträchtigt, der Streik lief sich dann aber vorläufig tot, weil eine Mehrheit der Eisenbahner noch abwartet. In Hafenstädten wie Le Havre und Saint Nazaire waren Hafen- und Industriegebiet am vergangenen Freitag stundenlang blockiert. Dabei wurde die Wut in Saint-Nazaire inzwischen noch zusätzlich angefacht: Am Freitag wurden drei junge Demonstrationen vom Vortag zu ein- bis zweimonatigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt, zwei wurden sofort eingeknastet. Sie sollen am Donnerstag bei Zusammenstößen mit der Polizei im Anschluss an den Protestzug beteiligt gewesen sein. Bezüglich Streikbewegungen zeigten sich die größeren Gewerkschaftsverbände bislang noch zögerlich und abwartend. Aber inzwischen bahnt sich auch innerhalb der CGT, des stärksten Gewerkschaftsverband, die Forderung nach unbefristeten Arbeitskämpfen oder sogar einem Generalstreik immer stärker den Weg. Mittlerweile möchte sogar die Führung – die früher noch der KP nahe stand, aber heute eher sozialdemokratisch ist -, die lange eher um Mäßigung bemüht war, dieser Forderung voraussichtlich nachgeben, „sofern die Regierung unnachgiebig bleibt“. Druck von der EU-Ebene Dabei wissen die Protestierenden, dass sie nicht ausschließlich die französische Regierung gegen sich haben. Denn die Rentenpolitik wird längst auf Ebene der Europäischen Union koordiniert, auch wenn dieses Gebiet juristisch nicht unter EU-, sondern unter nationales Recht fällt. Im März 2002 hatte ein EU-Gipfel in Barcelona beschlossen, in den Mitgliedsländern das Alter des Renteneintritts um durchschnittlich fünf Jahre anzuheben. In Frankreich nahm man daraufhin 2003 eine „Reform“ an (ANMERKUNG: siehe oben), aber auch etwa im selben Jahr Österreich. Oder 2006 in Deutschland, wo damals die „Rente mit 67“ durch die Regierung der Großen Koalition aus SPD und CDU/CSU beschlossen wurde. Seit Ende August dieses Jahres ist nun aber die SPD, die inzwischen in der Opposition sitzt, von dieser Zielvorgabe wieder abgerückt. Ihr Parteichef Sigmar Gabriel fordert nun, wenn eine schrittweise Anhebung des Rentenalters ab 2012 – ein Beginn, dessen Verschiebung um drei Jahre (auf 2015) er fordert – stattfinden solle, dann müsse zuvor ein zentrales Problem gelöst werden. Denn in Deutschland arbeiten derzeit nur 21 Prozent unter den 60- bis 64jährigen. Die Mehrzahl von ihnen hat sich jedoch noch nicht – freiwillig – aufs Altenteil zurückgezogen, sondern hat schlicht keinen Job. In Unternehmen gelten die Älteren oder „Senioren“ als unproduktiv, und wer ab circa 50 Jahren vorübergehend arbeitslos wird, findet meistens auch keine Einstellung mehr. Bevor man mit der sukzessiven Anhebung des gesetzlichen Rentenalters beginne, so lautet nun die Vorstellung der SPD, die in ihr aber erst auf den Oppositionsbänken einfiel, müsse zuvor dieses Problem gelöst bzw. eine Bilanz zur Beschäftigung der „Älteren“ gezogen werden. Diese neue „Forderung“ der nunmehrigen Oppositionspartei ist zwar absolut unzureichend, ist aber taktisch interessant, weil sie den Finger auf eine besonders wunde Stelle legt. Auch in Frankreich stellt sich das Problem ähnlich. Regierungssprecher Laurent Wauquiez behauptet, eine Lösung für das Problem zu haben, indem Unternehmen, die „Senioren“ einstellen, ein Jahr lang keine Sozialabgaben für diese Beschäftigten abführen sollen. Die SPD hat durch ihren Beschluss den Finger auf eine der Stellen gelegt, wo es weh tut, weil offene Widersprüche zu Tage treten, etwa zwischen der proklamierten „Verlängerung der Lebensarbeitszeit“ und der Realität des Arbeitsmarkts. Im Geiste derer, die solcherart „Reformen“ entwerfen und auf ihre Verabschiedung drängen, ist dies allerdings gar nicht widersprüchlich. Sie wissen längst, dass deren reale Folge in vielen Fällen gar nicht die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit sein wird, sondern eher eine Ausbreitung der Altersarmut – viele Menschen werden mit Renten auf Sozialhilfeniveau oder knapp darüber leben müssen. Aufgrund fehlender Beitragsjahre oder weil sie, deutlich bevor sie einen Rentenanspruch geltend machen können, arbeitslos werden oder bleiben. Darauf haben die „Reformer“ jedoch wiederum eine Antwort: Die breitere Einführung von „kapitalgedeckten Rentensystemen“. Also Rentenkassen, die nicht durch Beiträge der jeweils in Lohnarbeit stehenden Generationen aufgefüllt werden und dieselben nach dem „Solidarprinzip“ auf die heute Älteren umlegen, sondern nach dem Versicherungsprinzip funktionieren: Nur wer individuell freiwillig in eine zusätzliche einzahlt, bekommt später auch etwas heraus. Verwaltet werden letztere Kassen nicht mehr wie die „Solidarsysteme“ durch die öffentliche Hand, sondern etwa durch private Versicherungskonzerne oder durch Rentenfonds, die mit ihren Einlagen an der Börse spekulieren – wie in den USA, wo 2001, bei Ausbruch des ENRON-Skandals an den Finanzmärkte, viele Ältere mehrere Jahre an Rentenansprüchen auf einmal verloren. Die Europäische Kommission publizierte am 7. Juli dieses Jahres ein „Grünbuch“ unter dem Titel „Hin zu adäquaten, lebensfähigen und sicheren Rentensystem“, das zwar noch keine konkreten Gesetzesvorschläge enthält – diese sollen später in einem detaillierteren „Weißbuch“ folgen -, aber grundlegende „Überlegungen“, die in allen EU-Ländern angestellt werden sollen. (VgL. dazu http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=fr&catId=89&newsId=839&furtherNews=yes ) Ausdrücklich wird darin – unter dem Titel „Konsolidierung des Rentenmarkts“ (sic!) – die Entwicklung privater Rentenkasse gefordert. Um ihnen „einen günstigen Rahmen“ zu bieten, sollen die Finanzmärkte „besser reguliert werden“. Alle EU-Staaten sollen in diese Richtung tendieren. Das trifft sich gut: Das derzeit beratene französische Gesetz sieht eine Passage vor, die zum ersten Mal eine private „Rentenvorsorge“ ausdrücklich vorsieht, rechtlich und steuerlich begünstigt. B. Schmid, 01. Oktober 2010 |