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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zahlenkrieg...

"Am Donnerstag Abend und Freitag tobt in Frankreich der « Krieg der Zahlen » (la guerre des chiffres). Es geht um die Bewertung der Beteiligung an den Demonstrationen in 232 französischen Städten und Gemeinden am gestrigen 23. September, gegen die (in der parlamentarischen Debatte befindliche) "Reform" der Renten. Alle beteiligten Akteure fragen sich, wie sie im Vergleich zu den letzten Demonstrationen vom 07. September einzuschätzen ist - und welche politischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind" - so beginnt der Artikel "Das Kräftemessen tritt in seine entscheidende Phase ein" von Bernard Schmid vom 24. September 2010.

 Erneute massive Demonstrationen gegen die französische Renten"reform":

Das Kräftemessen tritt in seine entscheidende Phase ein

Am Donnerstag Abend und Freitag tobt in Frankreich der « Krieg der Zahlen » (la guerre des chiffres). Es geht um die Bewertung der Beteiligung an den Demonstrationen in 232 französischen Städten und Gemeinden am gestrigen 23. September, gegen die (in der parlamentarischen Debatte befindliche) "Reform" der Renten. Alle beteiligten Akteure fragen sich, wie sie im Vergleich zu den letzten Demonstrationen vom 07. September1 einzuschätzen ist - und welche politischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind.

Bei den letzten Demonstrationen hatten die verschiedenen Akteure die Teilnehmerzahlen wie folgt angegeben: das französische Innenministerium mit "1,12 Millionen", die CFDT bei "2,5 Millionen", die CGT bei "2,73 Millionen" und die Union Syndicale Solidaires (Zusammenschluss u.a. der SUD-Basisgewerkschaften) bei "drei Millionen".

Nun stellte sich die Frage, ob diese Zahlen - unabhängig davon, welche nun stimmen bzw. der Wirklichkeit am nächsten kamen - erneut erreicht werden konnten. Die Schwelle war dadurch freilich schon sehr hoch angesetzt, denn es musste allen Beteiligten klar sein, dass ein (auch nur relativer) Rückgang der Mobilisierung durch die Regierenden sofort benutzt werden würde, um es propagandistisch auszuschlachten; und auf eine Resignation, Demoralisierung und Demobilisierung der Protestierenden hinzuwirken.

Genau dies passierte am gestrigen Tage auch, sofern es um die Rolle der Regierungspropaganda geht. Schon um 13 Uhr, also noch bevor die Pariser Demonstration los ging, verkündeten Radiosender, die Mobilisierung falle geringer aus als zwei Wochen zuvor, und in Frankreich seien "410.000 Demonstranten" zusammen gekommen. Aber zu dem Zeitpunkt war noch keineswegs absehbar, wie beispielsweise die hauptstädtische Demonstration ausfallen würde. "Der Elysée-Palast", fügten die Radionachrichten hinzu, deute dies als sichtbares Anzeichen "einer wachsenden Zustimmung der Franzosen zu der Reform" (sic). Eine Aussage, die die Protestierenden nur als - pardon - Verarschung empfinden konnten.

Zwischen 13.30 Uhr und 14 Uhr setzte sich der Pariser Protestzug dann in Bewegung, auf zwei parallelen Strecken: Vor allem die Angehörigen und Sympathisant/inn/en der CGT waren derart zahlreich, dass sie auf einer eigenen Route gingen, damit die Letzten nicht erst sechs Stunden nach den Ersten loslaufen konnten. Sicherlich wollte die CGT, die in beiden Fällen mindestens 60 Prozent der Gesamtlänge der Demo(s) ausmachte, auch eine Stärkedemonstration absolvieren. Bei der Ankunft, an der Place Denfert-Rochereau im Süden von Paris, liefen die beiden Züge wieder zusammen und vereinigten sich am Zielort. Die Demonstration dauerte - von einem fixen Punkt aus betrachtet - länger als jene vom 07. September (gut sechs Stunden, gegenüber damals gut fünf Stunden), war aber weniger breit und lief stärker auseinandergezogen statt ähnlich kompakt wie vor zwei Wochen. Höchstwahrscheinlich war die Gesamt-Teilnehmerzahl etwas kleiner als am 07. September. Die Pariser Demonstration strahlte insgesamt zwar einen (zahlenmäßig) massiven Charakter, aber - von der Stimmung her - in guten Teilen keine besonders kämpferische Wut aus. Zum Teil mag sich bei den Protestierenden wirklich in Ansätzen ein Stück weit Resignation eingestellt haben. Die Protagonisten bezifferten die Teilnehmer/innen/zahlen wie folg: die Polizeibehörden mit 65.000 (gegenüber 80.000 vor zwei Wochen, also - 15.000) und die Gewerkschaften mit 300.000 (gegenüber 270.000 beim Mal zuvor, also + 30.000).

Frankreichweit gibt das Innenministerium die Anzahl der Demonstrierenden mit "997.000" an, setzt den Gradmesser also knapp unterhalb der symbolträchtigen Millionenschwelle an. Dies entspräche einem Rückgang um gut 120.000 Teilnehmer/inne/n gegenüber dem 07. September. Ihrerseits gibt die CFDT die Beteiligung mit "2,9 Millionen" an, die übrigen Gewerkschaften setzen sie bei "drei Millionen" an. Dies entspräche einem (relativ geringen) Zuwachs gegenüber den Protestzügen von vor 14 Tagen.

Wie es nun weitergeht - das wird die zentrale Frage sein. Denn in den nächsten acht bis 14 Tagen, unmittelbar vor oder unmittelbar nach dem Beginn der Debatte im französischen Senat (dem "Oberhaus" des Parlaments), wird sich die Frage von Durchsetzung oder Niederlage der Sozialprotestbewegung entscheiden.

Die ,Intersyndicale', der übergewerkschaftliche Ausschuss bzw. das Gipfeltreffen der acht französischen Gewerkschaftsdachverbände, trifft schon am heutigen Freitag (24. September) wieder zusammen, um über den Fortgang der Proteste zu entscheiden. Dessen Beschlüsse stehen bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Es zeichnete sich jedoch am Freitag Vormittag ab, dass es mutmaßlich keinen weiteren "Aktionstag" mit Streiks und Demonstrationen an einem Werktag in den kommenden Wochen geben wird. Dies wäre wahrscheinlich auch wenig sinnvoll, denn weitere "Latschdemonstrationen" - ohne Fortsetzung durch Streiks, die direkt am folgenden Tag weitergehen - werden das Kräfteverhältnis auch nicht mehr entscheidend weiter beeinflussen können. Zumal ab jetzt eher mit einem Rückgang der Teilnehmer/innen/zahlen zu rechnen wäre. Bei weitem nicht alle Lohnabhängigen können es sich erlauben, zum dritten Mal in Folge auf einen Tag Lohn zu verzichten und bei ihrem Chef dessen schlechte Laune noch zu steigern - jedenfalls nicht ohne massiven, Sektoren übergreifenden und den "Arbeitgebern" einschüchternd wirkenden (General-)Streik im Rücken.

Zwei Optionen schälen sich deswegen heraus. Die erste lautet: Ab heute sollen ,Grèves reconductibles', also zeitlich (zunächst) unbefristete Streiks - über deren Fortführung oder Abbruch/Aussetzung die Teilnehmenden im Optimalfall alle 24 Stunden in Vollversammlungen entscheiden - stattfinden und den sozialen Konflikt auf eine andere Ebene heben. In einigen Sektoren wurde bzw. wird für den heutigen Freitag auch tatsächlich zu Arbeitskämpfen solchen Typs aufgerufen. Beispielsweise durch die CGT der Chemieindustrie in den Raffinerien von TOTAL. Auch bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern der gemeinsamen Sendeanstalt ,France Télévisions' gibt es einen Aufruf dreier Gewerkschaften zur, vorläufig unbefristeten, Fortsetzung des Streiks ab heute. Daneben gibt es ähnliche Aufrufe in kleineren Sektoren, bspw. bei den Kommunalbediensteten im nordfranzösischen Lille. Ihr Erfolg bleibt nun abzuwarten. - Teile der CGT sowie die linken SUD-Gewerkschaften favorisieren diese Option. Bei der ,Intersyndicale', dem Zusammenschluss aller acht Gewerkschaften verliert diese Option jedoch (nach Stand vom heutigen Freitag früh) an Boden.

Die zweite, "gemäßigtere" Option läuft auf einen weiteren Demonstrationstag hinaus, der jedoch an einem der kommenden Wochenenden stattfinden soll, auf dass die Lohnabhängigen "mit ihren Familien, und ohne die Arbeit niederlegen oder einen Urlaubstag nehmen zu müssen" dann in Scharen herbeiströmen. Letztere Option wurde anfänglich vor allem durch die CFDT verfochten. Inzwischen scheint auch die CGT ihr stärker zuzuneigen. Konkret im Gespräch dafür ist nun der kommende Samstag, 02. Oktober dieses Jahres. (Bestätigung durch das gewerkschaftliche Gipfeltreffen steht noch aus.)

Die linken Gewerkschaften des Zusammenschlusses Union Syndicale-Solidaires sprechen sich in den letzten Tagen, aber aus anderen Gründen als die (rechtssozialdemokratische) Spitze der CFDT, für diese Demo-Option an einem Samstag aus. Allerdings muss dazu präzisiert werden, dass die Union syndicale-Solidaires sie zusammen mit der erstgenannten Option (den ,grèves reconductibles') kombinieren möchte. Annick Coupé schlug vor nunmehr drei Tagen in einem Interview mit der liberalen Pariser Abendzeitung ,Le Monde' vor, den Anlass einer solchen Demonstration zu nutzen, um die bis dahin stattfindenden und fortdauernden Streikbewegungen "zu bündeln": Die Demonstrationsblöcke der dann im Arbeitskampf (gegen die Renten"reform") befindlichen Sektoren könnten dann den kämpferischen Kern einer solchen Demonstration bilden.

Sollte sich diese Option im Ansatz durchsetzen, so könnte es noch zu einem Erfolg versprechenden Aufschwung der Proteste kommen, der Druck gegen die definitive Annahme der Renten"reform" entfalten könnte. Im Gegensatz dazu würde eine reine Lauf-Demonstration an einem Wochenende zwar noch einmal für stattliche Teilnehmerzahlen sorgen, wäre aber voraussichtlich der Beginn eines "ehrenvollen" Abgesangs - man würde die "Reform" nicht verhindern können, wohl aber "das Gesicht dabei wahren".

Als wahrscheinlichen "Kompromiss" - im Falle, dass die Gewerkschaften die Auseinandersetzung um die Renten"reform" insgesamt verlieren, aber dennoch durch die Mobilisierung nach wie vor einiges Gewicht auf die Waagschale legen könne - deutet sich an, dass die christdemokratische "Zentrums"fraktion im Senat (auf deren Zustimmung die weiter rechts stehende Regierungspartei UMP im Senat angewiesen ist) zwei Ausnahmeregelungen für das neue Rentenalter verabschiedet.

Die erste der genannten Ausnahmeregeln beträfe die Mütter von mindestens drei Kindern, die zwar einen Rentenanspruch als (frühere) Lohnabhängige geltend machen können, aber erhebliche "Lücken in der Erwerbsbiographie" aufweisen. Diese bilden aber nur eine relativ kleine Minderheit in der französischen Gesellschaft.

Die geplante Ausnahmeregelung wäre die Antwort der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierung auf den Einwand, dass die neuen Rentenregeln - und vor allem die Hinausschiebung der Rente "bei fehlenden Beitragsjahren" (ohne Abzüge) auf das Alter von 67 - besonders Frauen zu diskriminieren drohen. Sogar die, unter ihrer neuen Vorsitzenden Jeanette Bougrabe absolut handzahme, Anti-Diskriminierungs-Behörde HALDE hat dies in einer Stellungnahme als flagrante Diskriminierung von Frauen eingestuft. Auch feministische Gruppen, wie ,Osez le féminisme', waren deswegen massiv an den Protesten (wie den Demonstrationen vom 07. September oder einer Großveranstaltung der politischen und gewerkschaftlichen Linken am 08. September in Montreuil) beteiligt. Derzeit gehen Frauen mit durchschnittlich fünf Beitragsjahren weniger als Männer in Rente - nach den geltenden Regeln gäbe es für "fünf fehlende Beitragsjahre" einen Abzug von 30 Prozent an der Rente -; deswegen auch öfter erst mit dem Höchstalter von derzeit noch 65, das künftig auf 67 angehoben wird. Ferner liegen die Renten von weiblichen Lohnabhängigen durchschnittlich heute um 42 Prozent unter denjenigen von männlichen (Ex-)Arbeitskräften. Die geplante Ausnahmeregel für die Mütter von mindestens drei Kindern wird das Problem aber nur für eine relativ kleine Gruppe unter ihnen - die weiterhin mit 65, statt67, in Rente gehen könnte - "lösen", oder zumindest anpacken.

Die zweite, derzeit angedachte Ausnahmeregel würde darauf hinauslaufen, dass zwar das Rentenalter insgesamt für alle Lohnabhängigen auf 67 (oder, für jene, die die abgeforderten 41,5 Beitragsjahre beisammen haben bzw. Abschläge hinnehmen können, ab 62) angehoben wird; dass aber Branchen-Kollektivverträge ausgehandelt werden können, in denen ein niedriges Rentenalter vereinbart bleibt bzw. ausgehandelt wird. Dies setzt aber jeweils einen Konsens der Kapitalseite mit den (bzw. einem Teil der) Gewerkschaften auf der Ebene der jeweils einzelnen Wirtschaftsbranche voraus. 70 Prozent der Französinnen und Franzosen sind laut Umfragen von Anfang der Woche sind gegen das "Herzstück der Reform", wie Arbeitsminister Eric Woerth die geplante Anhebung des Eintrittsalter für die Rente bezeichnet.

B.Schmid, 24.9,2010


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