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Updated: 18.12.2012 15:51
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Wie weiter gegen Rentenkürzung - und: mit wem?

"Wie am gestrigen Donnerstag berichtet, nahm die französische Nationalversammlung - das "Unterhaus" des Parlaments - an diesem Mittwoch, 15. September die geplante Renten"reform" in erster Lesung an. 329 Stimmen dafür und 233 Gegenstimmen wurden abgegeben. Nun folgt noch die Debatte im parlamentarischen « Oberhaus », dem Senat, ab dem 1. Oktober. Die Fachkommission des Senats für Sozialpolitik wird sich bereits ab dem 27. September mit der Vorlage befassen" so beginnt der Beitrag "Wie weiter im Kampf gegen die drohende "Reform" der Renten? Und: Wer steht wofür, bei Gewerkschaften und bürgerlicher Politik?" von Bernard Schmid vom 17. September 2010.

Wie weiter im Kampf gegen die drohende "Reform" der Renten? Und: Wer steht wofür, bei Gewerkschaften und bürgerlicher Politik?

Französische Gewerkschaften werden in unterschiedliche Richtungen gezogen und beeinflusst - Der gemäßigter Flügel der Bürgerlichen versucht, die CFDT in einen "Kompromiss" einzuspannen, während Teile der CGT zu einer "Radikalisierung" tendieren

Wie am gestrigen Donnerstag berichtet, nahm die französische Nationalversammlung - das "Unterhaus" des Parlaments - an diesem Mittwoch, 15. September die geplante Renten"reform" in erster Lesung an. 329 Stimmen dafür und 233 Gegenstimmen wurden abgegeben. Nun folgt noch die Debatte im parlamentarischen « Oberhaus », dem Senat, ab dem 1. Oktober. Die Fachkommission des Senats für Sozialpolitik wird sich bereits ab dem 27. September mit der Vorlage befassen.

Da die Regierung die parlamentarische Eilprozedur, die theoretisch nur für Notfallbeschlüsse konzipiert ist, gewählt hat, wird die Vorlage nach dem Votum im Senat nur noch ein einziges Mal in die Nationalversammlung eingebracht. Nach der üblichen Prozedur wären mindestens drei Lesungen sowie, im (zu erwartenden) Falle von Differenzen zwischen den beiden Kammern, die Aussetzung eines Vermittlungsausschusses erforderlich. Bis Ende Oktober 10, so plant es jedenfalls die Regierung, soll die "Reform" endgültig unter Dach & Fach sein - sofern die ziemlich massive gesellschaftliche Opposition dagegen ihr nicht doch noch einen Strich durch die Rechnung machen kann.

Die Gewerkschaften versuchen nun, besonders im Hinblick auf die Debatte im Senat Druck auszuüben. Dort verfügt die konservativ-reaktionäre und wirtschaftsliberale Regierungspartei UMP (die in der Nationalversammlung hingegen 60 % der Sitze inne hat) jedoch nur über eine relative Mehrheit ; vgl. folgende Graphik über die Zusammensetzung des Senats: http://www.senat.fr/grp/index.html .- Um eine absolute Mehrheit zustande zu bekommen, muss die Regierung auch noch Stimmen aus der christdemokratischen und liberalen Mitte-Rechts-Opposition, in Gestalt der Senatsfraktion ,Union Centriste', hinzugewinnen. Bei ihr, aber auch bei den Anhängern des Ex-Premierministers (zwischen 2005 und 2007) Dominique de Villepin innerhalb der UMP, wird jedoch gegen einzelne Bestimmungen des « Reform »entwurfs opponiert. Etwa gegen die Anhebung des Renten-Eintrittsalters für jene, die nicht die erforderliche Anzahl von Beitragsjahren - bislang 40 (seit diesem Jahr 2010, nach einer sukzessiven Anhebung von zuvor einmal 37,5) und zukünftig 41,5 - beisammen haben, von derzeit 65 Jahren auf in Zukunft 67 Jahre. Die Anhänger Dominique de Villepins enthielten sich bei der Abstimmung vorgestern in der Nationalversammlung der Stimme.

"Offen für Zugeständnisse" im Senat

Georges Tron, amtierender Staatssekretär für den öffentlichen Dienst (der in dieser Eigenschaft die "Reform", die auch die staatlichen Angestellten betrifft, mit vorbereitet hat) kündigte bereits "Diskussionsbereitschaft" für die Senats-Debatte an. Tron gehört der UMP an, aber zählt dort zu jener Minderheit, die Ex-Premierminister Dominique de Villepin statt Nicolas Sarkozy unterstützt - seine Ernennung in die Regierung sollte jene Minderheit gerade "neutralisieren".

Senatspräsident Gérard Larcher (UMP) seinerseits hat bereits mögliche Konzessionen angedeutet, und insbesondere eine stärkere Einbindung der - an ihrer Spitze rechtssozialdemokratisch ausgerichteten - CFDT gefordert. Larcher, der unter Jacques Chirac von 2004 bis 2007 auch Arbeits- und Sozialminister war, traf am 08. September - dem Tag nach den letzten großen Demonstrationen gegen die "Reform" - ihren Vorsitzenden François Chérèque. Auch kündigte er in einem Interview mit der Pariser Abendzeitung ,Le Monde' am Abend des 06. September an, "an gewissen Punkten" sei es möglich, "sich (mit den Gewerkschaften) zu treffen". Die so genannte Reform solle "so gerecht wie möglich ausfallen", und es sei nötig, "die Botschaft der Demonstranten (an)zuhören".1 Dafür bekam er jedoch durch Nicolas Sarkozy am folgenden Tag - dem 07. September, während der zur selben Zeit anlaufenden Demonstrationen - einen übergebraten. Teilnehmer an einem Treffen zwischen den beiden Herren im Elysée-Palast berichteten, der Staatspräsident habe in sarkastischem Tonfall moniert: "Es ist sehr gut, der Presse Interviews zu geben. Aber falls Sie die Gelegenheit hätten nutzen können, auch zwei oder positive Dinge (Anm.: über die so genannte Reform) anzumerken, wäre es nicht schlecht gewesen, oder?"2

Eventuelle "Zugeständnisse" dürfte es besonders bei der Frage der ,Pénibilité' (Arbeit unter erschwerten Bedingungen; körperlich besonders belastende Arbeit) geben. An dem Punkt ist bislang geplant, dass teilinvalide Lohnabhängige mit ärztlichem Attest bereits "vorzeitig" in Rente gehen dürfen. So ließ Nicolas Sarkozy in den Regierungsentwurf hineinschreiben, dass, wer eine medizinische Arbeitsunfähigkeit von 20 Prozent (oder in Ausnahmefällen von 10 %, nach Untersuchung des individuellen Falls durch eine Branchenkommission) nachweisen kann, "schon früher" in Rente gehen darf. Konkret bedeutet dies: im Alter von 60 wie bislang, statt (nach dem künftigen Mindest-Alter) erst mit 62. Implizit beinhaltet dies aber auch, dass, wer davon Gebrauch machen möchte und entsprechende körperliche Gebrechen aufweist, entweder über die volle Anzahl an Beitragsjahren verfügen muss - sonst gibt es nämlich im Prinzip keine Rente mit 60/62 - oder aber Strafbeträge (Abzüge in Höhe von 6 % pro fehlendem Beitragsjahr) hinnehmen muss. In dieser Frage könnte das Regierungslager, respektive der moderatere Flügel der bürgerlichen Rechten im Senat, aber eventuell noch ein Stückchen Entgegenkommen für nachweisbar körperlich kaputte Arbeitskräfte signalisieren.

Umgekehrt signalisiert aber schon jetzt ein Teil des "Arbeitgeber"-Lagers, dass es ihm schon fast zu viel der Zugeständnisse geworden sind. Am Mittwoch, 15. September prangte von der Titelseite der Wirtschaftstageszeitung ,La Tribune' die Aussage, dass den Arbeitgeberverband MEDEF "Sorgen um die Kosten der Kompromisse bei der Rente" plagten. Vielleicht ist dies auch Bestandteil der Kulisse und Theaterdonner, um die Positionen des Regierungslagers als - im Vergleich zu denen der "Arbeitgeber" und ihrer gewählten Vertreter - maßvoll erscheinen zu lassen. In jedem Falle könnte es von dieser Seite her auch Blockierversuche gegen weitere "Zugeständnisse" geben.

Schlüsselrolle für die CFDT?

Aus Sicht des moderateren, oder jedenfalls gemäßigter auftretenden, Flügels der Bürgerlichen fällt der CFDT (o. ihre Führung) also eine Scharnier-Rolle zu. Dieser zweitstärkste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, hinter der CGT, hält derzeit (noch?) mit allen anderen Gewerkschaftsverbänden - unter ihnen sogar die eher bürgerliche Gewerkschaft der leitenden und höheren Angestellten, CFE-CGC - gegen die "Reform" in ihrer geplanten Fassung zusammen.

Allerdings ist die CFDT unter François Chérèque gewissen inneren Spannungen ausgesetzt; und ein Teil ihres Apparats wünscht offenkundig, noch stärkeren Rechtstendenzen als bislang schon nachzugeben. Auf ihrem letzten Kongress, vom 07. bis 11. Juni 2010 in Tours, hatte der Gewerkschaftsdachverband zwar eine Beibehaltung des Mindest-Eintrittsalters für die Rente bei 60 Jahren (für jene, die entweder die erforderliche Anzahl von Beitragsjahren beisammen haben - oder aber bereit sind, Straf-Abschläge in Höhe von lt. geltendem Recht 6 % pro fehlendem Beitragsjahr hinzunehmen) gefordert. Aber sie hatte zugleich die, durch die Regierung geplante, Erhöhung der Zahl der abgeforderten Beitragsjahre - auf künftig 41,5 - befürwortet. Ein Antrag aus der gewerkschaftlichen Opposition, der dazu aufforderte, neben dem Mindestalter (60) auch eine Höchstzahl von Beitragsjahren im "Alternativentwurf" gegen die Regierungspläne festzuschreiben, wurde abgelehnt. Die Führung zeigte sich ausdrücklich bereit, die durch die Regierung geplante Anhebung der Beitragszeiten hinzunehmen. Jedenfalls sofern die Rente mit 60 (für jenen im Laufe der Jahre immer kleiner werdenden Teil der Lohnabhängigen, die so früh zu arbeiten anfingen - und ohne Lücken in der Erwerbsbiographie beschäftigt waren -, dass sie schon im Alter von 60 die Beitragsjahre beisammen haben) erhalten bleibe. - Vgl. http://labournet.de/internationales/fr/rente2010_5.html

Aber selbst diese "Kompromiss"position geriet oder gerät innergewerkschaftlich noch unter Druck, von Teilen des Apparats, denen das schon zu weit geht und zu viel gewerkschaftliche Kühnheit darstellt. Die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné' vom Mittwoch, den 15. September 10 berichtet jedenfalls, dass zwei frühere Vorsitzende der CFDT - Edmond Maire (der 1978 die Jagd auf die nach dem französischen Mai '68 massiv in die CFDT eingetretene Neue Linke eröffnete) und Nicole Notat (die 1995 eine konservative Regierung und ihre "Gesundheitsreform" gegen die massiven Herbststreiks in den öffentlichen Diensten unterstützte, und heute als Unternehmensberaterin tätig ist) - massiv gegen den Beschluss opponieren. Ihnen gefällt die Zahl "60" bei der Rentenforderung nicht, aufgrund derer sie den Beschluss als realitätsfern bezeichnen. Beide behalten im Apparat der CFDT noch ihre jeweiligen Kontakte und Seilschaften. Nicole Notat, unter deren Führung (1992 bis 2002) die CFDT ihren bisher stärksten Rechtsdrall erlebte und die damals den Spitznamen ,La tsarine' - Die Zarin - trug, war die unmittelbare Amtsvorgängerin des heutigen Generalsekretärs François Chérèque und hat ihn selbst zu ihrem Nachfolger ausgewählt3.

Dass die CFDT bislang (anders als 1995, als es um die Renten der Eisenbahner/innen sowie die "Gesundheitsreform" ging; und 2003, beim Konflikt um die bisher letzte Stufe der Renten"reform") nicht aus der Koalition der übrigen Gewerkschaften ausscherte, hat wichtige strategische Gründe.

Erstens hat die CFDT, deren Spitze durchaus pro-neoliberal orientiert war und wohl noch ist, im Laufe der neunziger Jahre auf eine Gewerkschaftspolitik unter dem Motto "(Ausgehandelter) Vertrag statt (allgemeingültiges) Gesetz" und eine "sozialpartnerschaftliche" Strategie gesetzt. Deren Schwerpunkt lag auf der (einzel)betrieblichen Ebene. Genauso wie Teile des "Arbeitgeber"-Lagers, die in den späten neunziger Jahren eine Kampagne für eine so genannte ,Refondation sociale' ("Neubegründung der sozialen Beziehungen") durchführten, vertrat die CFDT die Auffassung, einzelbetrieblich mit Gewerkschaften ausgehandelte Verträge - zuzüglich einiger überbetrieblicher Vereinbarungen unter "Sozialpartnern" - sei der Vorrang vor gesetzlicher Regulierung zu geben. Dabei war sie bereit, unzählige Rechtsgarantien und soziale Garantien zu "opfern", sofern nur eine Verhandlung zwischen Kapitalseite und Kapitalseite stattfinde: "Hauptsache, wir sind am Verhandlungstisch dabei; egal, was in der Sache dabei heraus kommt, jedes ausgehandelte Ergebnis ist besser als eine < starre >, allgemein verbindliche Regelung." Auf nationaler Ebene übernahm der damalige Staatspräsident Jacques Chirac im Jahr 2001 diesen Impuls, und sprach in einer Grundsatzrede programmatisch für "neue", sozialpartnerschaftliche Arbeitsbeziehungen aus. Bei jeder "Reform" solle zunächst erst unter "Sozialpartnern" verhandelt, und dann die Sache an den Gesetzgeber weitergereicht werden. Nur, der Haken dabei ist: Sein Amtsnachfolger Nicolas Sarkozy hat verbal diesen Anspruch übernehmen. In der politischen Praxis hat er ihn jedoch längst verworfen. Vielmehr regiert er jedenfalls jüngst in einer Weise, die keinen Spielraum mehr für Verhandlungen lässt, zugunsten der Interessen der aggressivsten Fraktionen des Kapitals autoritär durch. Obwohl Nicolas Sarkozy (unter dem Einfluss seines Beraters für Sozialpolitik, Raymond Soubie, eines "sozialen Gaullisten") genügend politische Intelligenz aufbrachte, um im Jahr 2008 durch die Neufassung der gewerkschaftlichen "Tariffähigkeit" - per Gesetz vom 20. August 08 - auch die einstmals "rote" CGT intensiv einzubinden, nimmt er heute wiederum auf die Gewerkschaften kaum oder keine Rücksicht. Nicht einmal auf die zutiefst "moderate" CFDT und ihre Spitze. Deswegen hat Sarkozy derzeit die CFDT-Führung verprellt.

Zum Zweiten hat die CFDT aufgrund ihrer Positionierung im Mai/Juni 2003 (zugunsten der damaligen Stufe der Renten"reform", infolge einer Vereinbarung François Chérèques mit dem damaligen Premierminister Jean-Pierre Raffarin vom 15. 05. 03, und also gegen die massive Protestbewegung) mehrere Zehntausend Beitrag zahlende Mitglieder verloren. Die Schätzungen gingen damals bis zu 100.000 von real rund 600.000 CFDT-Angehörigen - offiziell waren es damals angeblich 800.000 -, die infolge dieses Konflikts gingen. Viele gründeten damals linke Basisgewerkschaften vom Typ SUD neu, andere gingen zur CGT, wobei Letztere oft enttäuscht wurden.

CGT: Hin- und hergerissen

Andere Gewerkschaftsbünde nehmen kämpferischere Positionen als die CFDT ein. Insbesondere die CGT, der nach wie vor stärkste Dachverband in Frankreich, wird ihrerseits von gegenläufigen Tendenzen und Orientierungen durchzogen. Derzeit wird sie vom Streit, ob und in welcher Form der Dachverband ab dem "Aktionstag" vom 23. September zu einer << Grève reconductible >> - also einem über die geplanten 24 Stunden hinaus reichenden, und zunächst zeitlich nicht befristeten Streik - aufrufen soll, geschüttelt. Auch innerhalb der Führung der CGT wächst die Tendenz zugunsten eines Aufrufs dazu. Doch Teile der obersten Führungsspitze, also der Berater von Generalsekretär Bernard Thibault, sperren sich noch dagegen; vor allem, weil sie die "gewerkschaftliche Einheit" (d.h. konkret jene mit der CFDT unter François Chérèque) als strategisch wichtigsten Zug ihrer Gewerkschaftspolitik betrachten.

Auch hat ein Teil des CGT-Apparats kalte Füße, weil er den Ausbruch einer politischen Krise in Gestalt einer handfesten Regierungskrise befürchtet, für den er derzeit noch keine "Alternative" sieht. Denn die französische Sozialdemokratie ist laut eigener Auffassung "noch nicht bereit" für eine eventuelle Regierungsübernahme - bis zu den turnusmäßig im Frühjahr 2012 anstehenden, nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen muss sie erst selbst noch einige Richtungsentscheidungen in ihrer eigenen Reihen treffen. Dazu zählt auch jene zur Rentenpolitik, in der die französische Sozialdemokratie sich bislang noch nicht wirklich festgelegt hat, was die Partei durch Formelkompromisse zu überdecken sucht. Ihre Vorsitzende Martine Aubry hatte bspw. am 16. Januar 2010 noch erklärt, sie sei für eine Preisgabe des bisherigen Mindest-Rentenalters von 60 (für jene Lohnabhängigen, die entweder genügend Beitragsjahre aufweisen oder aber 6 % Abschlag pro fehlendes Beitragsjahr hinnehmen können) - das als "historische Errungenschaft" der Ära ihres Präsidenten François Mitterrand gilt. Originalton Aubry an jenem Tag: "Wir werden zweifellos in Richtung 61 oder 62 gehen." Infolge heftiger Proteste, innerhalb der Partei und aus dem Rest der Linken, ruderte Aubry nach zehn Tagen zurück und behauptete, sie habe überhaupt nicht vom gesetzlichen Mindest-Eintrittsalter gesprochen, sondern vom "realen Eintrittsalter in der Praxis" (doch dieses liegt jetzt bereits bei durchschnittlich 61). Ihr innerparteilicher Rivale, der wirtschaftspolitisch weiter rechts stehende frühere Finanzminister Dominique Strauss-Kahn - derzeit Direktor des Internationalen Währungsfonds/IWF in Washington, aber an der Präsidentschaftskandidatur für 2012 in Frankreich interessiert - denkt in dieser Richtung konsequent weiter. Er erklärte am 20. Mai 2010, das symbolische Mindest-Eintrittsalter von 60 sei doch "kein Tabu, kein Dogma"4. Noch ist nicht entschieden, in welche Richtung sich die Partei letztendlich orientieren wird. Die "sozialere" Position dürfte ihr erheblich mehr Popularität versprechen. Allerdings befürchtet ein Teil der Partei, wenn sie in der Opposition "soziale" Positionen scheinbar konsequent gegen die Rechtsregierung verteidige - wie Martine Aubry dies derzeit verbal tatsächlich tut -, aber nach einem Regierungswechsel dann selbst eine gegenläufige Politik verfolge, füge ihr dies längerfristig nur noch größeren Schaden zu.

Noch ist die Sozialdemokratie also noch nicht hinreichend für einen Regierungswechsel ausgestellt. Doch die Führung CGT, aber auch - aus den o.g. Gründen - der CFDT (die unter der letzten sozialdemokratischen Regierung in den Jahren 1997 bis 2002 noch in der Rechtsopposition stand5) setzen auf die strategische Option eines Regierungswechsels im Jahr 2012 zu ihren Gunsten. Und falls die derzeitige soziale Mobilisierung dazu ihren Teil beiträgt, umso besser - unmittelbar unter dem Druck der Proteste gestürzt oder in eine schwere Niederlage hineingedrängt werden soll die Rechtsregierung aber nicht. Könnte dies die Sozialdemokratie doch eventuell schon früher unter Zugzwang setzen, und dadurch in Verlegenheit bringen.

Angesichts der starren Kompromisslosigkeit im Regierungslager bereitet sich die CGT-Spitze jedoch darauf, dass sie ihren Regional- und Brachenverbänden (,fédérations') die Zügel locker lässt, falls diese zu einer << Grève reconductible >> aufrufen möchten. Eine solche Streikform, bei welcher der Arbeitskampf nicht vorne herein zeitlich befristet wird (sondern auf einen unbefristeten Aufruf eine Abstimmung der Streikenden, i.d.R. alle 24 Stunden, über Fortsetzung oder Abbruch folgt), ist bei Regierung und Arbeitgebern besonders gefürchtet. Die letzte erfolgreiche << Grève reconductible >> auf breiter Ebene fand in den öffentlichen Diensten Frankreichs im November und Dezember 1995 statt. Die damalige konservative Regierung unter Alain Juppé wurde daraufhin u.a. zur Rücknahme ihres Angriffs auf die Eisenbahner-Renten (nicht jedoch ihrer "Gesundheitsreform", die modifiziert beibehalten wurde) gezwungen und steckte danach derart in der Offensive, dass sie während der kommenden anderthalb Jahre keine einzige "Reform" mehr durchbringen konnte. Aufgrund ihres Scheiterns rief die regierende Rechte daraufhin im April 1997 vorgezogene Neuwahlen aus, welche sie haushoch verlor. (Die daraufhin regierende Sozialdemokratie setzte jedoch in den folgenden Jahren einige ihrer Pläne zu wirtschaftsliberalen "Reformen" fort.) Dagegen wurden die vorhandenen Ansätze dazu in französischen Transportbetrieben im Mai und Juni 2003, beim Streit um die damalige Stufe der Renten"reform", durch den Apparat der CGT und durch die CFDT eiskalt abgewürgt. Dies trug zur Niederlage der damaligen Protestbewegung erheblich bei.

Unbefristeter Streik: Bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern jetzt beschlossene Sache

Am gestrigen Donnerstag (16. September) wurde für den kommenden Streiktag, am 23. September, bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten - u.a. "France 2" und "FR 3" - tatsächlich ein Aufruf zur << Grève reconductible >> verabschiedet und eine unbefristete Streikwarnung angekündigt. Ihn tragen dort die CGT, die populistisch-schillernde Gewerkschaft FO (Force Ouvrière) und sogar die, eher rechte aber bei den Fernsehjournalisten stark verankerte, christliche Gewerkschaft CFTC mit. Hingegen ruft die dortige Sektion der CFDT nur zu auf 24 Stunden befristeten Arbeitsniederlegungen auf.

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1 Vgl. uA: http://www.lesindiscrets.com/article-14799-retraites-larcher-veut-que-l-on-ecoute-le-message-de-mardi.html

2Vgl: http://lci.tf1.fr/filnews/politique/le-tacle-de-sarkozy-a-larcher-6060175.html

3 Vgl: http://www.labournet.de/internationales/fr/cfdt-l.html

4 Vgl dazu ausführlich: http://abonnes.lemonde.fr/cgi-bin/ACHATS/ARCHIVES/archives.cgi?ID=79f27410422182e6fb164db4956f3a9da9da38fbd5d784ed

5 Ihre damalige Generalsekretärin Nicole Notat betrachtete die sozialdemokratische Regierungspolitik untre Lionel Jospin als « zu etatistisch », zu wenig neoliberal respektive zu wenig auf « sozialpartnerschaftliche » Vertragspolitik ausgerichtet. Vor der Präsidentschaftswahl 2002 gab sie ihm offen den Laufpass und bedauerte in einem Gastbeitrag für die konservative Tageszeitung ,Le Monde', dass sich nicht die stärker wirtschaftsliberale Linie unter Dominique Strass-Kahn innerparteilich durchgesetzt habe. Vgl. dazu http://www.labournet.de/internationales/fr/wahlwirren.html


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