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Updated: 18.12.2012 15:51
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Französische Gewerkschaften entscheiden mutig

Nächste Stufe der Renten,reform’ mit neuen sozialen Rückschritten droht akut - Protest tut not. Aber bitte nicht sofort: Am 1. Mai ist auch noch Zeit! Der Elysée-Palast zittert vor Furcht…

Nein, es ist kein (übler) Aprilscherz, denn die gemeinsame Tagung von fünf der insgesamt acht wichtigsten französischen Gewerkschaftszusammenschlüsse fand schon am Dienstag Abend, den 30. März statt. Auf ihr wurde beschlossen, dass es dringlich sei, gegen die derzeit akut drohende nächste Stufe der Renten,reform’ in Frankreich - nach jenen von 2003 und 2007/08 - und die durch die Regierung programmierten sozialen Rückschritte zu protestieren; dass das geeignete Mittel dafür aber die 1. Mai-Demonstrationen seien. Die französische Nachrichtenagentur AFP titelte dazu, sinngemäß: „Die Gewerkschaften setzen auf große, forderungsreiche 1. Mai-Demonstrationen.“ (Vgl. Artikel externer Link)

Dem Vernehmen nach zittert der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Elyséepalast wie Espenlaub: „Hilfe, das können sie mir doch nicht zumuten! Die französischen Gewerkschaften wollen am 1. Mai demonstrieren! Unglaublich und noch nie dagewesen!! Die wollen mich mit solchen fiesen Methoden doch glatt einschüchtern.“ - Aber nein, pardon, in die vorausgegangene Passage war (leider) unser diesjähriger Aprilscherz eingebaut.

Zum Ernst der Sache: Seit Jahresbeginn verdichten sich alle Hinweise darauf, dass die konservativ- wirtschaftsliberale Regierung unter Präsident Sarkozy und seinem Premierminister François Fillon in diesem Jahr 2010 die Kraftprobe suchen, um die dritte Stufe der Renten,reform’ durchzudrücken. Die erste Stufe war (trotz massiver Proteste und nachdem bis zu zwei Millionen Menschen dagegen demonstrierten hatten, wobei die sozialliberal angeführte Gewerkschaft CFDT genau 48 Stunden nach den ersten Demonstrationen vom 13. Mai 2003 aus der Streikfront ausgeschieden war und die „Reform“ unterstützt hatte) am 24. Juli 2003 verabschiedet worden. Sie beinhaltete die Anhebung der obligatorischen Anzahl von Beitragsjahren, die für eine Pension zum vollen Satz erforderlich ist, für alle Berufsgruppen auf 40 bis in diesem Jahr 2010 (zuvor waren es im öffentlichen Dienst noch 37,5 Beitragsjahre; im Privatsektor zunächst ebenfalls, doch im Jahr 1993 wurde dort die Anhebung vorgenommen). Perspektivisch sah sie bereits, nach einer „Bilanz“ im Zeitraum 2008 und einer neuen Entscheidung in 2010, die weitere Anhebung auf 42,5 Beitragsjahre bis im Jahr 2020 vor.

Im Winter 2007/08 wurden zudem, als „zweite Stufe“, die bislang bestehenden Sonder-Rentenregime oder ,Régimes spéciaux’ bspw. für Eisenbahner/innen (für die historisch die, allerdings relativ schlecht bezahlte, Rente mit 55 errungen worden war) ausgehebelt. Und zum Jahresende 2008 wurde, per Überraschungscoup des Gesetzgebers, ein neues Höchstalter für den Renteneintritt von 70 (statt bislang 65) eingeführt, vgl. im LabourNet ) - Als gesetzliches Mindestalter für den Renteneintritt gilt weiterhin die Grenze von 60, wobei (wenn einmal jene Generationen, in denen man noch häufig mit 14 in die Lohnarbeit ging, vollständig verrentet sein wird) in naher Zukunft kaum noch Kandidat/inn/en dafür in Betracht kommen. Oder wer wird schon mit 60, 61 oder 62 die erforderlichen Beitragsjahre zusammen haben? Alternativ lässt sich natürlich auch ein kräftiger Abschlag (aufgrund fehlender Beitragszeiten) von der Rente hinnehmen - sofern man es sich denn leisten kann, ohne im Alter in einer kalten Wohnung zu sitzen und Hundefutter zu essen…

Nunmehr wird die nächste Stufe in Angriff genommen. Alternativ oder auch kumulativ (also unter gleichzeitigem Angriff auf verschiedene, historisch errungene Positionen der Lohnabhängigen) wird an eine weitere Anhebung der Beitragsjahre - etwa auf die beim letzten Mal anvisierten 42,5 Beitragsjahre bis 2020 -, an eine Anhebung des gesetzlichen Mindestalters für den Renteneintritt (statt des bislang dafür geltenden Lebensalters von 60) oder, drittens, an eine Absenkung der Pensionshöhe gedacht. Oder eben auch an alle drei!

Der Arbeitgeberverband MEDEF powert im Augenblick eher für eine Anhebung des Mindest-Eintrittsalters, wobei seine Vorsitzende Laurence Parisot in Talkshows diese Ebene demagogisch gegen die (auch in ihren Worten) „zu niedrige Höhe“ der Pensionen ins Spiel brachte. Die Vorsitzende der französischen Sozialdemokratie und damit der größten parlamentarischen Oppositionspartei, Martine Aubry, hatte im Januar dieses Jahres zunächst auch ein Entgegenkommen bei dieser Frage - in Form etwa einer Anhebung auf (61 oder) 62 Jahre - angekündigt, bevor sie unter massivem Druck aus ihrer eigenen Partei und aus der Linken zurückruderte. Offiziell befindet die Sozialdemokratie sich nun auf Oppositionskurs zu den Regierungsplänen. Doch Aubrys innerparteilicher Herausforderer vom „modernsten“ rechten Parteiflügel, Manuel Valls - der Bürgermeister von Evry, der u.a. als wirtschaftlicher Modernisierer auftritt und auch schon mal die Abschaffung des Begriffs „Sozialistisch“ im Parteinamen sowie seine Ersetzung durch „Demokratisch“ forderte (aber im Juni 2009 auch schon mal durch rassistische Sprüche in seiner Stadt auffiel)- forderte vor acht Tagen in einem Interview einen „Pakt auch mit der Regierung“ zur Rentenfrage. Darin spricht er sich seinerseits für eine Anhebung des Eintrittsalters aus, die Bevölkerung werde schließlich älter.

Am 15. Februar 2010, anlässlich des „Sozialgipfels“ im Elysée-Palast mit den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, verkündete Nicolas Sarkozy den Anwesenden, die „Rentenreform“ sei eine der wichtigsten anstehenden Weichenstellungen im laufenden Jahr. Nach „Konzertrationen“ und dem „Dialog mit den Sozialpartnern“, denen die nötige Zeit eingeräumt werden solle, werde die Regierung auf jeden Fall ihren Gesetzentwurf zum Thema im Oktober 2010 dem Parlament vorlegen. Zudem schrieb die investigativem Journalismus verpflichtete Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ in ihrer Ausgabe vom 17. Februar 10, Sarkozy wolle unbedingt im Herbst 2010 diese Reform durchdrücken und nehme gern auch Proteste dazu in kauf: Umso lieber, als ein Konflikt um die Rentenreform dann im Herbst die anderen Streitfragen überdecken werde - was demnach vermeiden hilft, dass die sonst um diese Jahreszeit üblichen Lohnforderungen in der Nach-Krisen-Zeit an Bedeutung gewinnen und einen Flächenbrand auslösen. „Ein Streit um die Rentenreform ist mir lieber als eine Debatte um Lohnerhöhungen“, zitiert das Blatt Sarkozy.

Nachdem seine bürgerliche Rechte die jüngsten Regionalparlamentswahlen im März 2010 haushoch verlor (vgl. Artikel externer Link), hat Sarkozy - und haben andere Spitzenpolitiker des Bürgerblocks mit ihm - jedoch in dieser Frage nicht locker gelassen: Im Gegenteil: Wichtige Sprachrohr des Regierungslagers wie Frédéric Lefebvre (UMP-Parteisprecher und „Pitbull“ Sarkozys) und der mit Sarkozy im Hinblick auf künftige Präsidentschaftswahlen rivalisierende Jean-François Copé (Fraktionsvorsitzender der UMP in der Nationalversammlung) trompeteten in den Fernsehdebatten am Wahlabend lautstark hinaus, nunmehr gelte es, „die Reformen zu beschleunigen“. Denn die Wähler/innen seien deswegen frustriert - woraus die hohe Stimmenthaltung resultiert habe -, weil die Umrisse der „Reformen“ noch nicht scharf genug erkennbar seien, weil sie noch keine Ergebnisse zeitigten, weil man ihre Umsetzung noch nicht früh und zügig genug in Angriff genommen habe. Man müsse nun also, auch im Namen der „wirtschaftlichen Notwendigkeiten“ und des „Älterwerdens der Bevölkerung“, schleunigst an die Umsetzung der Rentenreform darangehen. Dann seien auch die Anhänger des Regierungslagers nicht so enttäuscht und frustriert. Am darauffolgenden Tag titelte die linksliberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ folgerichtig: „Nach der Niederlage bei den Regionalparlamentswahlen: Nicolas Sarkozy setzt auf die Rentenreform“.

CGT-Generalsekretär Bernard Thibault, der in der Woche nach den Regionalparlamentswahlen zu politischen Talkshows eingeladen worden war, schlussfolgerte daraus durchaus richtig: Es werde nun schwieriger werden, die Regierung davon zu überzeugen, von ihren Plänen (sofern diese die Interessen der Lohnabhängigen verletzten) abzubringen, da Sarkozy nun „eine politische (Grundsatz)frage daraus“ mache, etwa um seine noch vorhandene Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren. Aber, so warnte Bernard Thibault verbal, er werde die Gewerkschaften auf seinem Weg vorfinden.

Am Abend des 15. Februar, an dem der „Sozialgipfel“ stattgefunden hatte, trafen sich die wichtigsten Gewerkschaftsverbände und -zusammenschlüsse zu einem gemeinsamen Termin, um über ihre nunmehr zu ergreifenden (Gegen)maßnahmen zu beraten. „Trotz spektakulärer gegenseitiger Beschimpfungen zwischen der CFDT und SUD“ (also der Union syndicale Solidaires, in welcher u.a. die linken Basisgewerkschaften vom Typ SUD zusammengeschlossen sind), laut einer Formulierung des ,Canard enchaîné’, kam es schlussendlich zu einem Beschluss für Protestdemonstrationen am Dienstag, 23. März. Diese haben auch frankreichweit stattgefunden, und brachten rund 600.000 Personen zusammen (laut Polizei: 380.000, CGT: 800.000). Dies ist für einen ersten Anfang nicht gar schlecht, auch wenn die erste Anti-Rentenreform-Demonstration nach der Bekanntgabe der damaligen Pläne durch den seinerzeitigen Arbeits- & Sozialminister und jetzigen Premier François Fillon Ende April 2003 - am 13. Mai desselben Jahres - damals schon über eine Million Personen frankreichweit vereinigte. Keine Spitzenbeteiligung also, aber auch kein niederschmetternd schlechtes Ergebnis.

Doch was haben die Gewerkschaften, die sich für den 30. März zu einem erneuten Treffen (am Hauptsitz der CFDT) verabredet hatten, nun beschlossen? Dies: „dezentrale, lokale Aktionen“ - ohne zentralen Aufruf - am 20. April. (Also Aktiönchen, die man in der Pfeife wird rauchen können, und durch die meisten Medien bei ihrer Aufzählung der Beschlüsse des Treffens auch nicht erwähnt werden.) Und, welch eine gar furchterregende Perspektive für die Regierung!, Demonstrationen am 1. Mai dieses Jahres. Die nun aber auch wirklich ganz groß und kämpferisch ausfallen sollen, gelle? (Vgl. Artikel 1 externer Link oder Artikel 2 externer Link)

Der Gewerkschaftsdachverband der höheren Angestellten, die CFE-CGC, hat sich diesem gar revolutionären Beschluss nun inzwischen angeschlossen. Der Gewerkschaftsdachverband Force Ouvrière (FO), der vor allem auf populistische Demagogie und einen schwer berechenbaren Zick-Zack-Kurs spezialisiert ist, war dem Treffen am 30. März ebenso ferngeblieben wie die eher rechte Christengewerkschaft CFTC.

Bernard Schmid, Paris, vom 01.04.2010


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