letzte Änderung am 20. November 2003

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»Der Streik lässt sich nicht verordnen«

Reflexionen zur Protestbewegung in Frankreich

Generalstreiks und Gewerkschaften, die sich unabhängig machen von Kapital und Regierung: Wunschbild vieler Linker gerade angesichts der akuten gesellschaftlichen Umbrüche in der BRD. Die »französischen Verhältnisse«, insbesondere aber die SUD-Gewerkschaften und ihr Zusammenschluss im Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften G 10-Solidaires stehen hierzulande für Ansätze in diese Richtung. Grund genug, sich anhand aktueller Auseinandersetzungen genauer anzusehen, wie es steht um Praxis und Perspektiven der »unabhängigen« Bewegung in Frankreich. Der folgende Beitrag von Annick Coupé (G 10-Solidaires), Noelle Ledeur (SUD Éducation) und Christian Mahieux (SUD Rail) beleuchtet die Hintergründe der Streiks, die im Mai/Juni d.J. anlässlich der sog. Rentenreform in Frankreich stattfanden (s. express, Nr. 5/03). Entzündet hatten sich die Auseinandersetzungen an dem Regierungsvorhaben, im ersten Schritt die Mindest-Beitragsdauer für die Beschäftigten des Öffentlichen Sektors von noch 37,5 Jahren an die 1993 hochgesetzte Beitragsdauer der Beschäftigten im privaten Sektor anzupassen. Im zweiten Schritt sollte diese dann für alle Beschäftigten auf 42 Jahre erhöht werden.

Im folgenden Beitrag wird gefragt, warum bzw. worin die Bewegung gescheitert ist und warum es trotz anfänglicher Erfolge nicht zu dem von G 10-Solidaires angestrebten Generalstreik kam.

Im Mai und Juni sind wir in Frankreich Zeugen der größten sozialen Bewegung seit 1995 geworden. Am 13. Mai gingen fast zwei Millionen Menschen auf die Straße. Dennoch hat es die Bewegung nicht geschafft, der Regierung in der Rentenfrage eine Niederlage zu bereiten.

Die Bewegung im Bildungsbereich war etwas erfolgreicher: Sie konnte die Regierung zwingen, ihren Fahrplan für die Reform der Universitäten und für die Dezentralisierung der Arbeitsplätze der nicht in der Lehre tätigen Beschäftigten der Bildungseinrichtungen (und damit mögliche bzw. absehbare Privatisierung, d.Ü.) zu ändern. Ein Erfolg im Kampf gegen die Zerschlagung des Bildungssystems – wenn auch nur ein vorläufiger, denn langfristig kann die Regionalisierung der Anstellungsbedingungen der »sonstigen Beschäftigten« wohl nicht mehr aufgehalten werden.

Eine Stärke der Bewegung bestand aber auch in der Eröffnung öffentlich geführter Debatten über grundlegende soziale Fragen jenseits der Rente. Es gelang ihr zu zeigen, dass es zu den liberalen Projekten der Regierung und des Arbeitgeberverbandes sehr wohl Alternativen gibt. Sie hat Fragen gestellt nach dem »Gemeinwohl« (Renten, öffentliche Dienste, Bildung) und nach der Verteilung des Wohlstandes. Sie hat durch ihre lokalen Mobilisierungskomitees die Knüpfung sektorübergreifender Verbindungen, Treffen zwischen Beschäftigten öffentlicher und privater Arbeitgeber, Allianzen von gewerkschaftlich organisierten und unorganisierten Beschäftigten sowie eine mehrheitliche Unterstützung durch die breitere Bevölkerung ermöglicht, welche bis zum Schluss anhielt.

Demgegenüber hat die Regierung von Anfang bis Ende des Konflikts eine sehr unnachgiebige Haltung gezeigt, ihre Politik mit propagandistischen Mitteln zu verkaufen versucht und sich massiver Repressionen (Vorgehen gegen Streikende, Verbot von Demonstrationen, strafrechtliche und disziplinarische Verfolgung) bedient, um den Konflikt zu beenden.

Für die Einschätzung künftiger Möglichkeiten ist die Analyse der schlussendlichen Niederlage von zentraler Bedeutung. Die Regierung hat die Machtprobe bewusst provoziert, um der sozialen Bewegung eine Niederlage zu bereiten und dann ungehindert mit ihren liberalen Gegenreformen ans Werk zu gehen – ganz nach dem Vorbild von Thatchers Vorgehen gegen die streikenden Bergarbeiter im Jahre 1989. Allerdings existiert zwischen beiden Situationen ein entscheidender Unterschied: Die britischen Bergarbeiter waren total isoliert, die Bevölkerung stand hinter der Regierung. Ganz anders die französische Bewegung im Frühjahr dieses Jahres: Sie wurde von der Öffentlichkeit massiv unterstützt. Auch der Versuch der Regierung, Beschäftigte des öffentlichen und des privaten Sektors gegeneinander auszuspielen, scheiterte. Dadurch ist ihr Handlungsspielraum ohne Zweifel enger geworden. Dennoch lässt ihr momentanes Agieren (vor allem hinsichtlich der Pläne zu Privatisierung und sozialer Sicherung) darauf schließen, dass sie glaubt, die Machtverhältnisse hätten sich durch das Scheitern der sozialen Bewegung hinreichend zu ihren Gunsten verschoben, um weitere Gegenreformen durchdrücken zu können. Dies trotz einer sehr starken Mobilisierung und gegen die öffentliche Meinung, einzig gestützt auf die Zustimmung minoritärer Organisationen wie der CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail).

Immerhin hat die Regierung in Reaktion auf die Bewegung vom Mai und Juni ihre Taktik bei der sozialen Sicherung geändert: Wenige Monate vor den nächsten Wahlen verzichtet sie nun auf den neuen Generalangriff zu Gunsten einer Salamitaktik kleinerer Attacken – auch wenn ihr Ziel nach wie vor darin besteht, unser System fundamental umzubauen.

Die Strategie von G10-Solidaires und ihre Grenzen

G10-Solidaires hat sich schnell auf einen Forderungskatalog im Rentenstreit und auf eine Strategie geeinigt. Uns war klar, dass die Rentenfrage zum Gegenstand einer massiven Konfrontation mit der Regierung werden würde und wir uns darauf vorbereiten mussten. Und weil viel auf dem Spiel stand, musste unsere Perspektive im Konflikt lauten, die Konstruktion eines unbefristeten Generalstreiks anzustreben. Im Zentrum der Forderungen für die politische Konfrontation stand die Dauer der Beitragszahlungen: Die Regierung würde deren Anhebung dazu benutzen, das Rentenniveau zu senken.

Am Ende des Konflikts ist unsere Bilanz jedoch sehr durchwachsen. Trotz regionaler Schwankungen waren wir insgesamt auf lokaler Ebene gut vertreten, und in manchen Orten gehörten wir den gewerkschaftsübergreifenden Versammlungen (intersyndicales) an. Wir haben es jedoch nicht erreicht, in die landesweite gewerkschaftsübergreifende Versammlung (cadre unitaire national) aufgenommen zu werden: Die CGT (Confédération Generale du Travail) war dagegen, und die anderen beteiligten Gewerkschaften (FSU – Fédération Syndicale Unitaire, FO – Force Ouvrière und UNSA – Union Nationale des Syndicats Autonomes) sprachen sich zwar formell für unsere Aufnahme aus, ließen der CGT aber letztlich ihren Willen. Da auf nationaler Ebene aber vor allem diese Vierergruppe in Stellungnahmen und Appellen in der Presse den Ton angab, waren wir dort nur schwach wahrnehmbar.

Alles in allem waren wir nicht in der Lage, den Verlauf der Bewegung tatsächlich zu beeinflussen, obwohl wir sehr viel besser darin verankert waren als noch 1995. Wir haben es nicht geschafft, unsere Ziele in die Praxis umzusetzen, einen richtigen unbefristeten Streik zu konstruieren und die Positionen der anderen Organisationen aufzuweichen – nicht einmal in den Sektoren, in denen wir gut vertreten sind. Es ist also notwendig, dass wir über unsere Schwächen nachdenken. Die institutionellen Gewerkschaften haben uns ausgeschlossen, und wir waren nicht stark genug, um ihre Orientierungen zu erschüttern.

Abgesehen von unseren stärksten Sektoren (z.B. staatliche Bildung und Bahn), konnten wir (und einige andere Gewerkschaften) nicht anders, als uns den von der CGT festgelegten Aktionstagen anzuschließen. Immerhin haben wir versucht, die entsprechenden Aufrufe mit unserem Vorschlag zu verbinden, eine Generalstreikbewegung zu konstruieren: Wir schlugen vor, die Aktionstage könnten einerseits zur Verbreiterung der Bewegung beitragen und andererseits als Auslöser für einen unbefristeten Streik in den noch nicht streikenden Sektoren dienen.

Die Strategie der CGT

Die Orientierung der CGT bestand darin, eine »vernünftige« Anhebung der Beitragsdauer im Gegenzug für die Beibehaltung der Rentenquote (Verhältnis Rente/Arbeitseinkommen) zu akzeptieren. Sie dachte, sie gewönne damit Spielraum für die Verhandlungen mit der Regierung. Außerdem glaubte sie, sie könne so die CFDT mit ins Boot der gewerkschaftsübergreifenden Versammlung holen. Die Versammlung sollte also Stärke demonstrieren, nicht aber eine Konfrontation mit der Regierung vorbereiten, da man es sich sonst mit der CFDT verdorben hätte. Diese Überlegung bildete den Ursprung der Idee der CGT, Aktionstage in einer lang vorher festgelegten Abfolge zu veranstalten: 1.Februar, 3.April, 25.Mai – während der 13.Mai der CGT mehr oder weniger von anderen Gewerkschaften aufgezwungen wurde, die damit auf die Stärke der Bewegung reagierte. Daher kam auch die fortgesetzte Weigerung der CGT, sich an der Konstruktion eines unbefristeten Streiks zu beteiligen, umso mehr, als solche Strategien nicht ihren traditionellen Gepflogenheiten entsprechen.

Diese Strategie brach am 15. Mai in sich zusammen, als die Gespräche mit der CFDT endgültig platzten und die Regierung nicht die geringste Verhandlungsbereitschaft zeigte. Danach stand die CGT völlig orientierungslos da, konnte sich aber immer noch nicht zur Machtprobe mit der Regierung entschließen. Die Aktionstage vom 3., 10. und 19. Juni lockten immer weniger Leute auf die Straße und schienen als Auslöser für ein echtes Kräftemessen mit der Regierung nicht mehr geeignet zu sein. Auch keine der anderen Gewerkschaften war mehr in der Lage, etwas in dieser Art voranzutreiben.

Die Regierung hatte das Heft in der Hand, schon hinsichtlich der Zeitplanung. Sie setzte Parlamentsdebatten über ihre Projekte für Juni und Juli an und kalkulierte dabei erstens mit den beginnenden Sommerferien, die die Mobilisierung absehbar erschweren würden, und zweitens damit, dass es immer schwieriger wird, die Rücknahme eines Vorhabens zu fordern, wenn Parlamentsdebatten darüber näher rücken oder gar schon im Gange sind. Die CGT ließ die Regierung den Zeitplan allein bestimmen, indem sie angekündigte Fristen immer weiter nach hinten schob.

In der Tat hat die CGT weder die Pläne der Regierung noch die Orientierung des nationalen CFDT-Vorstan-des richtig verstanden. Das Projekt der Regierung war kein homöopathisches, sondern strebte eine erhebliche Senkung des Rentenniveaus an, was die CGT im Gegensatz zur CFDT unmöglich akzeptieren kann. Und Hauptziel der CFDT-Führung ist es, dass die liberalen Reformen, die sie für unvermeidlich oder gar für wünschenswert hält, nicht an ihr vorbei realisiert werden dürfen, sondern über ihren Schreibtisch wandern müssen. Diesem Ziel ordnet sie alles andere unter. In dem Moment, als die CGT sich weigerte, den Rentenplänen des Ministers für Soziales, Arbeit und Solidarität François Fillon (so genanntes Projekt Fillon) zuzustimmen, war der Bruch mit der CFDT also bereits unabwendbar geworden.

Auch wenn es für die breite Öffentlichkeit gegen Ende der Bewegung so ausgesehen haben mag, als habe die CGT die Regierungspläne bis zum bitteren Ende bekämpft, kommen bei den AktivistInnen der Bewegung Fragen auf, vor allem über die Handlungsstrategie der CGT und ihre Blockadepolitik in manchen Sektoren. Bei den Beschäftigten im staatlichen Bildungssektor stößt das fehlende Engagement der CGT für die Verstärkung ihres Streiks auf Kritik.

Die anderen Gewerkschaften

Die UNSA ist der CFDT in der Unterstützung der Regierungspläne nicht gefolgt. Sie war von Anfang bis Ende Teil der Bewegung. Das lag wohl daran, dass ihre Basis zum Großteil aus Beschäftigten des öffentlichen Sektors besteht (vor allem in der staatlichen Bildung), aber auch an der Weigerung der Regierung, ihr zu erlauben, auch Beschäftigte aus anderen Sektoren zu vertreten.

Die Positionierung der FO auf nationaler Ebene (Zurückweisung des Regierungsprojekts und – verspäteter! – Aufruf zum Generalstreik) ist an der soziologischen Realität dieser Organisation zerschellt. Die FO ist im privaten Sektor wenig präsent und verfügt kaum über AktivistInnen, die ihre Orientierung vertreten. So hat sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für den Verlauf der Bewegung kaum eine Rolle gespielt.

Die Bildungsgewerkschaften, von denen die FSU die größte ist, haben in ihrem Sektor zum unbefristeten Streik ab 6. Mai aufgerufen – als die Bewegung bereits die Hälfte der Akademien und einen großen Teil der AktivistInnen für sich gewonnen hatte (der Streik hatte sporadisch im November begonnen und sich im März/April ausgedehnt). Im Juni argumentierte die SNES-FSU (Syndicat National des Enseignements de Second Degré – Fédération Syndicale Unitaire), die einen Großteil der GymnasiallehrerInnen vertritt, man wolle das Abitur nicht stören – um dann am Prüfungstag zum Streik aufzurufen!

Die Ansichten und Praktiken bei der FSU hinsichtlich unserer Aufnahme in die gewerkschaftsübergreifende Versammlung unterschieden sich regional bzw. nach Einzelgewerkschaft erheblich: Manche forderten unsere Aufnahme, andere folgten der Blockadeanweisung der CGT. In einer Organisation von solcher Bedeutung mag eine gewisse Heterogenität die Regel sein; dennoch ist dies auch symptomatisch für das Verhältnis der FSU zur CGT: schwankend zwischen Kritik und Gefolgschaft.

War der unbefristete Streik möglich?

Der unbefristete Streik war wünschenswert. War er auch möglich?

Es stimmt: »Der Streik kann nicht verordnet werden« (von der CGT vorgebrachte Begründung, warum sie sich nicht zum Streikaufruf durchringen konnte, d.Ü.). Er konstruiert sich und wird unter bestimmten Bedingungen möglich.

Zwei Klippen gilt es zu umschiffen: zum einen eine deklamatorische Haltung: der Glaube, die wiederholte Beschwörung seiner Notwendigkeit würde schon für die Entstehung des Streiks sorgen; zum anderen die Tendenz, einfach darauf zu warten, dass alle für einen gemeinsamen Start bereit sind, was natürlich niemals der Fall sein wird. Man muss also den richtigen Moment beim Schopfe packen, sich auf die am stärksten mobilisierten Sektoren konzentrieren und hoffen, dass sie die anderen mitreißen.

Die Stärke der Bewegung ist vom 1. Februar bis zum 13. Mai stetig angestiegen. Während dieser Phase wird sich die Bewegung ihrer eigenen Stärke bewusst, ebenso der Unterstützung durch die Öffentlichkeit und der Unnachgiebigkeit der Regierung. Außerdem zeigt die Bewegung der Lehrkräfte, dass der unbefristete Streik möglich ist. Der überwältigende Erfolg des Streiktages am 13. Mai, an dem zahlreiche Beschäftigte von Großunternehmen des privaten Sektors teilnehmen, ist eine massive Demonstration der Stärke. Nach diesem Tag brechen als unbefristet deklarierte Streiks im Transportwesen aus und legen das Land lahm, in anderen Sektoren wird diese Möglichkeit ebenfalls diskutiert – bis die CGT den Prozess abrupt abwürgt.

Natürlich kann niemand wissen, ob wir eine Verbreiterung des Streiks hätten ins Rollen bringen können, wenn die CGT es zugelassen hätte. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass eine Reihe von Bedingungen dafür bereits erfüllt war: eine sich stark entwickelnde, von der öffentlichen Meinung unterstützte Bewegung, ein Sektor (die staatliche Bildung) bereits im unbefristeten Streik, viele Beschäftigte bereit, sich in gleicher Weise zu engagieren. Es war daher zu diesem Zeitpunkt durchaus möglich, einen Anlauf zum unbefristeten Streik zu unternehmen – trotz des Risikos, alles wieder abblasen zu müssen, wenn es nicht funktioniert.

Eines der Hauptargumente der CGT war, der private Sektor sei nicht bereit gewesen. Dieses Argument müssen wir ernst nehmen, weil sie es wahrscheinlich bei der nächsten Gelegenheit wieder aus dem Hut ziehen wird. Dazu muss man sagen, dass »der« private Sektor nicht existiert. Es gibt mehrere private Sektoren. Heute arbeiten die meisten Beschäftigten dort in Betrieben mit weniger als 50 Angestellten. Ihre Situation und ihre Möglichkeiten, sich zu organisieren, haben nichts mit denjenigen der Beschäftigten in den Groß-unternehmen gemein. Beschäftigte von Großunternehmen hatten sich hier zum ersten Mal seit langem wieder an einer breit angelegten Bewegung beteiligt.

Es trifft zu, dass die Umsetzung der Maßnahmen von Balladur im Jahre 1993 (Anhebung der Rentenbeitragsdauer im privaten Sektor, damals ohne begleitende gewerkschaftliche Mobilisierung) und deren schrittweise Konkretisierung ein wesentliches Hindernis für die Mobilisierung der Beschäftigten im privaten Sektor bzw. für ihre Unterstützung der jetzigen Bewegung darstellte. Andererseits hat die Regierung mit ihrem aktuell verkündeten Projekt eine Begründung für die gemeinsame Mobilisierung geliefert – mit den geplanten nächsten Schritten der Reform, die mittelfristig alle Beschäftigten treffen wird (weitere Heraufsetzung der Beitragsdauer auf 42 Jahre für alle Beschäftigten, d.Ü.) und damit einen Generalangriff auf das soziale System darstellt. Die große Unterstützung der Bewegung durch die Bevölkerung bedeutet auch, dass die meisten Beschäftigten in allen Sektoren verstanden haben, was sich hinter dem Regierungsdiskurs von »einer Reform im Namen der Gerechtigkeit« (»Angleichung« der Beitragsdauer im öffentlichen (37,5 Jahre) an die im privaten Sektor (40 Jahre), d.Ü.) verbarg: ein breit angelegter Angriff auf die soziale Sicherung.

Wäre es möglich gewesen, die Beschäftigten der Großunternehmen in eine Bewegung zum unbefristeten Streik mit einzubeziehen? Wir werden es nicht mehr erfahren, aber zumindest war es nicht von vornherein ausgeschlossen: Immerhin haben sie in den Tagen der landesweiten Mobilisierung eine immer wichtigere Rolle gespielt. Zu behaupten, man müsse warten, bis die Beschäftigten der kleinen Unternehmen bereit seien, bedeutet hingegen die völlige Abkehr von jeglicher Perspektive eines sektorübergreifenden Streiks, wenn auch nur für einen einzigen Tag, denn diese Beschäftigten fehlten bei allen Aktionstagen außer dem 13. Mai.

Die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung

Die Position des CFDT-Vorstands hat wohl innerhalb der Organisation einen tieferen Schock verursacht, als das 1995 der Fall war. Anscheinend wollen Gegner der Vorstandslinie sich diesmal von der CFDT trennen. Wenn das tatsächlich passiert, könnten zahlreiche Austritte bevorstehen, manche in Richtung CGT, andere zu G10-Solidaires oder FSU.

Es wäre falsch, wenn wir nun einfach darauf warten würden, dass sich uns anschließt, wer das eben will. Wir müssen vielmehr in der Lage sein, diesen Prozess durch Eigeninitiative zu beeinflussen. Wir müssen Angebote machen und offen agieren, müssen Sektiererei und Brüten über früheren Meinungsverschiedenheiten vermeiden. Unsere Haltung muss dabei an einem doppelten Ziel orientiert sein: einerseits unsere Schwächen zu überwinden und die politischen und organisatorischen Mittel zu erschließen, die für die Stärkung unserer sektorübergreifenden Konstitution als Gewerkschaftsverband G10-Solidaires notwendig sind; andererseits offensiv zu demonstrieren, dass wir den politischen Willen haben, an den in der Bewegung vorhandenen Konvergenzen zu arbeiten – was keinesfalls bedeutet, dass strittige Punkte oder Divergenzen glattgebügelt werden sollen. Konvergenzen anerkennen heißt nicht, nur identische Perspektiven zuzulassen; ähnliche Vorstellungen von Gewerkschaftsbewegung heißt nicht gleichgeschaltete Vorstellungen.

Es geht darum, dass wir uns weiterentwickeln und die Ziele unseres eigenen gewerkschaftlichen Projektes vermitteln müssen, wenn wir in der Gewerkschaftsbewegung und ihrer Entwicklung mehr Gewicht haben wollen. Wir müssen die Möglichkeit schaffen, mit der Umsetzung unserer Ziele tatsächlich zu einer Veränderung der sozialen Realität beizutragen. Der Nationalrat des Gewerkschaftsverbandes G10-Solidaires hat dieses allgemeine Ziel bestätigt und gleichzeitig festgehalten, dass seine Realisierung davon abhängt, dass man es auf allen Ebenen und unter Berücksichtigung sektoraler und lokaler Realitäten verfolgt. Man muss außerdem die sektorübergreifenden lokalen Gruppen stärken, die sich während der Bewegung gebildet haben, damit sie bei der Strukturierung zukünftiger sozialer Bewegungen eine tragende Rolle spielen können.

Wir wissen, dass in den kommenden Monaten massive Attacken der Regierung auf uns zukommen, denen wir etwas entgegensetzen müssen. Die gewerkschaftlichen und sozialen Kräfte, die sich der Ablehnung von Liberalismus und Sozialliberalismus verschrieben haben, müssen Gemeinsamkeiten herstellen können, wenn sie den Lauf der Dinge wirklich beeinflussen wollen.

Die internationale Gewerkschaftsbewegung

Einmal mehr war das vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) verkörperte Gewerkschaftsverständnis in diesen sozialen Kämpfen absolut nutzlos. Während sich die Attacken der Regierungen gegen die Rentensysteme in Europa vervielfachen, während sich Millionen von Erwerbstätigen gegen die Angriffe der Unternehmen wehren, hat der EGB nicht die mindeste Initiative zur Unterstützung gezeigt.

Damit wird es noch notwendiger, die Verbindungen zu denjenigen Gewerkschaften zu verbreitern, die sich in der aktuellen Programmatik des EGB nicht wiederfinden – basisorientierte und alternative Gewerkschaften; alle gewerkschaftlichen Kräfte, die die Logiken von Markt und Liberalismus ablehnen; alle gewerkschaftlichen Kollektive, die davon überzeugt sind, dass »andere Welten möglich sind« und dass der Gewerkschaftsbewegung eine zentrale Rolle bei der erforderlichen sozialen Veränderung zukommt.

Auf dem Weg über vielfältige Initiativen (Welt- und europäische Sozialforen, Anti-G8-Kampagnen, europäische Arbeitstreffen usw.) ist seit einiger Zeit ein Netzwerk in der Entstehung. Da, wo Netzwerke bereits seit einigen Jahren existieren (Eisenbahn, Bildung), werden z.B. internationale gewerkschaftliche Materialien produziert, die in den Gewerkschaften der beteiligten Länder, aber auch direkt in den Unternehmen zum Einsatz kommen. Bei der Eisenbahn hat die internationale Zusammenarbeit basisorientierter Gewerkschaften die Organisierung eines Streiks am 18. März diesen Jahres in mehreren Ländern Europas möglich gemacht (beteiligt waren CGT (Spanien), ORSA, CUB, UCS (Italien), RMT (GB), SAC (Schweden) und SUD Rail (Frankreich)). Zum Thema Renten gab es Ende Mai einen gemeinsamen internationalen Aufruf.

Unser Ziel ist nicht der Aufbau einer neuen internationalen Struktur. Die Etablierung eines internationalen Netzwerkes hingegen kann uns über die unverzichtbare Arbeit in den beruflichen Sektoren hinaus, die wir verstärken müssen, einen schnellen und wirksamen Informationsaustausch ermöglichen. Dadurch können wir unsere Forderungen vergleichen und gemeinsame Forderungen für alle zentralen gesellschaftlichen Bereichen ausarbeiten: soziale Sicherung, Renten, Gesundheit, Einwanderung, Arbeitsrechte, Prekarisierung, Frauenrechte, Öffentlicher Dienst, Bildung, Berufsbildung, Forschung, Kultur...

Es geht auf europäischer Ebene auch darum, welche gemeinsamen Aktivitäten wir realisieren und welche Solidaritätsaktionen wir koordinieren können, wenn ein Sektor zum Ziel von Angriffen wird.

Aus der Bilanz von SUD Éducation

Die Bewegung ist an Grenzen gestoßen, wo die Vorstände der traditionellen Gewerkschaften auf der nationalen und manchmal auch auf der lokalen Ebene nicht mit vollem Einsatz bei der Sache waren. Die landesweite gewerkschaftsübergreifende Versammlung im Bildungsbereich, von der SUD Éducation stets ausgeschlossen war, hat am Tag nach dem Runden Tisch vom 10. Juni, vor den Abiturprüfungen, faktisch das Ende des Streiks besiegelt, obwohl bis dahin nichts von Belang erreicht worden war. Das Fehlen eines klaren Aufrufs zum Streik (...), das Fehlen von Widerstand und deutlichen Stellungnahmen gegen die skandalöse Art und Weise, in der das Ministerium die Streikenden unter Druck gesetzt hat (bspw. mit Abmahnungen und Drohungen) hat die Fortdauer der Bewegung beeinträchtigt.

Sektorübergreifend gesehen ist uns zwar klar, dass Repressionen von Seiten der Arbeitgeber und Aushebelung der Statuten die gewerkschaftliche Praxis bei den Privaten im Laufe der letzten zwanzig Jahre immer schwieriger gemacht haben. Wir sind aber nach wie vor der Ansicht, dass eine Ausweitung des Streiks auf den gesamten öffentlichen Sektor auch den KollegInnen in zahlreichen Privatunternehmen wieder mehr Zuversicht verliehen hätte. Es stimmt, dass sich der Generalstreik nicht »verordnen« lässt. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass seine Konstruktion möglich ist. Aber die Vorstände der Gewerkschaften, die die Regierungspläne ablehnen, haben es versäumt, gemeinsam ein entsprechendes Signal zu setzen.

Aus der Bilanz von SUD Rail

»Der Generalstreik lässt sich nicht verordnen«..., aber wer es ablehnt, überhaupt dazu aufzurufen und ihn zu organisieren, trifft damit die Entscheidung, dass er nicht stattfinden wird. Die Verschiebung des Streiks Anfang Juni, so wurde uns erklärt, sei notwendig, um der Bewegung einen sektorübergreifenden Charakter zu geben. Außer Solidaires/SUD hat daher keine einzige gewerkschaftliche Organisation zu einem Generalstreik, einem gemeinsamen Streik von Beschäftigten des öffentlichen und des privaten Sektors aufgerufen - und das zu einem Zeitpunkt, als hunderttausende Beschäftigte an Aktionen gegen den Rentenplan Fillon teilnahmen und sich an der Basis eine sektorübergreifende Koordination bildete.

Viele von uns sind der Ansicht, dass man von der historischen Mobilisierung am 13. Mai hätte profitieren müssen, um den Generalstreik ins Rollen zu bringen. Man hätte die Sympathisanten der CFDT in den Kampf mitreißen und die CFDT für ihre Zustimmung zur Politik von Regierung und Arbeitgebern in Schwierigkeiten bringen können. Noch mehr Beschäftigte von zahlreichen Privatfirmen als im Dezember 1995 haben sich an Streiks und Demonstrationen beteiligt, was eine Ausweitung zum Generalstreik oder wenigstens den Versuch möglich gemacht hätte.

Die Gewerkschaftsverbände haben nichts dafür getan, den unbefristeten Streik auf die ArbeiterInnen des privaten Sektors auszudehnen. Allein die Streikenden an der Basis haben die Initiative unternommen, zur Verstärkung des Kampfes Treffen zwischen verschiedenen Betrieben und sektorübergreifende Aktionen zu organisieren (gemeinsame Streikposten, Blockaden von Gleisen und Busdepots, Verteilung von Flugblättern in Industriegebieten usw.). Wir haben es leider nicht geschafft, die Bewegung am Leben zu erhalten: Etliche KollegInnen wollten uns nicht mehr in den Kampf folgen, weil die fehlende Unterstützung der Gewerkschaftsverbände für Neubeginn und Ausweitung der Bewegung sie verunsichert hat.

Fast alle waren sich einig, dass nur ein unbefristeter sektorübergreifender Streik die Renten würde verteidigen können. Aber anstatt die Beschäftigten darauf einzustimmen, haben CGT, FO, FSU und UNSA nach Verhandlungen gerufen, zu denen die Regierung gar nicht bereit war. Diese Regierung ist eigens dafür eingesetzt worden, die Gegenreformen durchzudrücken. Sie nun darum zu ersuchen, darüber zu verhandeln, könnte bloßer Naivität geschuldet sein. In diesem Fall handelt es sich aber wohl eher um den deliberaten politischen Willen der betreffenden Gewerkschaften, den Rückschnitt des sozialen Systems zu akzeptieren. Als einzige Gegenleistung dafür erwarten sie die soziale »Abfederung« des Sozialabbaus und die Möglichkeit, die eigene Rolle im System zu erhalten – was vor allem die Weigerung bedeutet, letzteres in Frage zu stellen.

Übersetzung: Anne Scheidhauer

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/03

Die französische Originalfassung ist im LabourNet Germany als pdf-Datei verfügbar

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