Home > Branchen > Dokument
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Kabinett "Raffarin III" vorgestellt ­ Eine Regierung im Kampfanzug

Es ist kein Aprilscherz, denn es wurde bereits am Abend des 31. März angekündigt. Frankreich hatte bisher bei manchen als ein Land gegolten, das beim Umweltschutz noch ein bisschen hinterher hinkt. Jetzt hat das Land immerhin die Mehrwegflaschen eingeführt, und die Regierung geht mit beispielhafter Wirkung voran, was ihre eigene (Neu-)Zusammensetzung betrifft. Dabei wurden vor allem die dicken Flaschen behalten, allen voran die Oberflasche Jean-Pierre Raffarin; dagegen werden einige mittlere Kaliber ausgetauscht. Und die Hilfsbehälter, die bisher eingesetzt worden waren (etwa alte Marmeladengläser als Flaschen), landen im Recyclingmüll. Doch Schluss mit den Metaphern, denn zum Scherzen ist vielen beim Anblick des neuen Kabinetts nicht unbedingt zugute. Eine Kabinettsumbildung war in den letzten Wochen allgemein für Ende März oder Anfang April erwartet worden, jedenfalls wenn Frankreichs konservative Regierungsparteien UMP und UDF bei den Regionalparmlamentswahlen am 21. und 28. März Verluste hinnehmen müssten.

Diese Verluste sind nicht nur eingetreten, sondern noch wesentlich stärker ausgefallen als ursprünglich allgemein erwartet. Die Tendenzen, die im ersten Wahlgang sichtbar geworden waren, wurden im entscheidenden zweiten Durchgang (wo die Wahlbeteiligung noch um drei bis vier Prozent anstieg) erheblich verstärkt. Die Ergebnisse der Stichwahlen in den Regionen kommen landesweit einem Erdrutsch gleich: 21 von 22 Regionen des europäischen Frankreich werden, alle mit Ausnahmen des Elsass, werden künftig durch Koalitionen der etablierten Linksparteien unter sozialdemokratischer Führung regiert. (Hinzu kommen, um das Bild zu vervollständigen, vier Übersee-Territorien, wo an den beiden letzten Sonntagen ebenfalls gewählt wurde. Dort sind die Tendenzen ähnlich, insbesondere hat der "tropische Chiracismus" der notorisch korrupten Regionalpräsidentin und Chirac-Parteifreundin Lucette Michaux-Chevry nunmehr ausgespielt.)

Die Linkskoalition hat am vergangenen Sonntag im Landesdurchschnitt, in absoluten Zahlen, 50,3 Prozent der Stimmen erhalten und damit die Ergebnisse des ersten Wahlgangs (40 Prozent für die etablierten Linksparteien zuzüglich 5 Prozent für die radikale Linke) überdeutlich bestätigt. Es handelt sich zweifellos um eine Quittung für die antisoziale Kahlschlags- und Abbruchpolitik der amtierenden neokonservativen Pariser Regierung, aber ebenso zweifelsohne nicht um einen Blankoscheck für die Sozialdemokraten. Letztere waren ihrerseits im Frühjahr 2002, nach fünfjähriger Amtszeit der Regierung von Lionel Jospin, durch die WählerInnen ihrerseits hart "bestraft" worden.

Eine Regierung in Kampfmontur

Die am Abend des Mittwoch, 31. März vorgestellte Kabinettesliste lässt keinen Zweifel mehr übrig: Die neokonservative Rechte ist fest entschlossen, ihren Kurs beizubehalten. Manche WählerInnen und Kommentatoren hatten sich nach den jüngsten Wahlergebnissen einen "Kurswechsel zum Sozialen" seitens der Pariser Regierung erhofft, doch war diese Annahme sicherlich von vornherein naiv. Unklarheit hatte noch bis zum Montag darüber geherrscht, ob Präsident Jacques Chirac (zu dessen verfassungsmäßiger Rolle es gehört, den Premierminister zu ernennen und zu entlassen, wobei er freie Hand hat) den bisherigen Premierminister Raffarin behalten würde oder nicht. Die Antwort lautete ab Montag klar: Ja. Doch dafür gibt es einen Grund. Zwar ist auch Chirac bekannt, dass Raffarin mit seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik Rekordwerte an Unpopularität erreicht hat. In den zwei Wochen vor der Wahl verging in Paris beinahe kein Tag, ohne dass es zu größeren Demonstrationen gekommen wäre, die leider meistens auf eine oder wenige bestimmte soziale Kategorie(n) beschränkt blieben und nicht zu einer einheitlichen Mobilisierung zusammenflossen: Streikende Forscher, Studierende, Sozialarbeiter, Wohnungslose, prekäre Kulturarbeiter (intermittents du spectacle) usw. usf. Der Schwerpunkt der unterschiedlichen Mobilisierungen lag dabei allerdings auf den öffentlich Bediensteten sowie dem "Subproletariat" und dem akademischen Proletariat, während der Privatsektor dabei noch kaum in Bewegung geriet. Jean-Pierre Raffarin gehört innerhalb der konservativen Rechten, die 2002 in der neuen Sammelpartei UMP aufging, eigentlich dem härtesten wirtschaftsliberalen Flügel an: Er kommt ursprünglich aus der kleineren, radikal wirtschaftsliberalen Partei DL (Démocratie libérale), die sich 1997/98 aus dem breiteren konservativ-liberalen Parteienbündnis UDF verabschiedet und sich selbständig gemacht hatte. Der Präsidentschaftskandidat von Démocratie Libérale, der Martkradikale und kurzzeitige Minister (Mai bis Augus 1995) Alain Madelin, hatte bei den Präsidentschaftswahlen 2002 nur gut 3 Prozent der Stimmen erhalten. Doch Unpopularität hin oder her: Raffarin wird noch benötigt. Bereits in den Wintermonaten war Jacques Chiracs Äußerung über seinen Premierminister kolportiert (und nie dementiert) worden: "Ich werde ihn solange benutzen, bis das Seil (Anm.: an dem er hängt) durchgescheuert ist." Denn Jean-Pierre Raffarin soll jetzt die Drecksarbeit in sozial- und wirtschaftspolitischer Hinsicht zu Ende bringen, die seit Jahresanfang 2003 durch die Regierung begonnen wurde. Insbesondere soll er jetzt, in den unmittelbar bevorstehenden Monaten und wahrscheinlich noch bis zum Sommer, die so genannte "Gesundheitsreform" über die Bühne bringen. Alles wurde dafür hergerichtet, damit das Dekor bereit steht: Durch Nichtbegleichen von Schulden der öffentlichen Hand an die Sozialkassen, Nachlässe bei den Sozialabgaben der Unternehmen, "Geschenke" an die Arbeitgeber usw. wurde das Defizit der Sécurité sociale (des gesetzlichen Sozialversicherungsssystems) absichtlich in die Höhe geschraubt. Im vorigen Jahr war die Zehn-Milliarden-Euro-Grenze knapp erreicht, für das laufende Jahr werden derzeit 15 Milliarden jährlichen Defizits prognostiziert.

Und noch andere "schmerzhafte" Reformen und Einschnitte werden in absehbarer Zeit vorgenommen werden: So hatte die Regierung angekündigt, die Direktionen und die Gewerkschaften in den öffentlichen Unternehmen, wie bei der Bahngesellschaft SNCF, hätten sechs Monate Zeit, um über die Einschränkung des Streikrechts (bspw. durch die Einrichtung eines "service minimum", d.h. einer im Streikfall beizubehaltenden Mindestbelegschaft) zu verhandeln. Falls diese Verhandlungen nicht zum Abschluss kämen, dann werde die Regierung gesetzgeberisch aktiv werden. Nunmehr sind die sechs Monate aber bald abgelaufen... Der Auftrag, den Chirac an seinen Premierminister erteilte, lautet ganz klar: "Sie haben 100 Tage Zeit, um sich zu bewähren". Der Karikaturist von "Le Monde" zeichnet Jean-Pierre Raffarin denn auch schon als Napoléon Bonaparte, denn der war damals (im Jahre 1814) auch noch einmal für 100 Tage von der Insel Elba an die Macht zurückgekehrt - bevor es dann bei Waterloo mächtig schepperte, aber die Sache auf für ihn ungünstige Weise ausging. Am Ende landete Napoleon dann abermals auf einer Insel, aber dieses Mal ein bisschen weiter weg, nämlich auf Sankt Helena im Südatlantik. Das kann nur eines bedeuten: Chirac und die konservative Rechte haben einen theoretisch denkbaren Erfolg bei den Europaparlamentswahlen am 13. Juni 2004, die in rund 70 Tagen stattfinden, ohnehin abgeschrieben. Sie setzen jetzt darauf, auf Teufel komm ,raus die so genannten Reformen durchzupeitschen; Raffarin sprach bereits davon, seine Priorität unter der kommenden neuen Regierung läge "in der sozialen Gerechtigkeit und der Beschleunigung (!) der Reformen". Ein hundsmiserables Ergebnis bei den Europaparlamentswahlen wird dann voraussichtlich Jean-Pierre Raffarin alleine ausbaden, dem dann alles in die Schuhe geschoben werden kann, um ihm im Sommer dann den Laufpass zu geben. In den dann noch kommenden weiteren zweieinhalb Jahren der Legislaturperiode lässt sich dann vielleicht eine leicht moderatere Gangart einlegen. Deswegen auch mochte Jacques Chirac jetzt keinen neuen Premierminister "verbrauchen", da dieser ohnehin, angesichts der drohenden "Reformen", in wenigen Monaten seinerseits "verbrannt" wäre.

Die neue Regierung enthält nur Berufspolitiker der konservativen Einheitspartei UMP (und, am Rande, der christdemokratischen UDF), aber keine jener "Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft" mehr, die noch die Regierungen Raffarin I und II im Mai und Juni 2002 schmückten. Allerdings hat besonders der angebliche Philosoph Luc Ferry, der damals als "Vertreter der Zivilgesellschaft" zum Bildungsminister ernannt worden war, eine extrem peinliche Figur abgegeben. Zum neuen Bildungsminister wird jetzt François Fillon, der den LehrerInnen ohnhin verhasst sein dürfte, da er im vorigen Jahr als Arbeits- und Sozialminister für die so genannte Rentenreform (gegen welche die Schulen über zwei Monate lang streikten) verantwortlich zeichneten. Damit deutet sich also bereits an, dass in absehbarer Zeit keine Geschenke gemacht werden. Fillons Nachfolger als Arbeits- und Sozialminister wird der Christdemokrat Jean-Louis Borloo aus dem nordfranzösischen Valenciennes, der dagegen als eher beruhigende Figur gilt und ein moderates Image genießt. Muss man sagen: Noch? Ein höchst geschickter Schachzug Chiracs war es wiederum, seinen extrem ehrgeizigen Rivalen Nicolas Sarkozy zum Wirtschafts- und Finanzminister zu ernennen. Bisher hatte er als Innenminister amtiert und, aufgrund der zeitweisen Popularität des Themas "Innere Sicherheit", als einer der wenigen beliebten Minister (jedenfalls als jener, der am ehesten die eigene Wählerschaft der Rechen mobilisieren könne) gegolten. Sarkozy hatte bereits Amitionen auf das Amt des Premierministers geltend gemacht, aber dann doch wieder gezögert, da ihm dies vielleicht auf seinem Weg zur Präsidentschaftskandidatur 2007 hinderlich sein könnte. Dass er jetzt zum Wirtschafts- und Finanzminister ernannt wurde, wird ihn nunmehr in den Augen der Öffentlichkeit voll mitverantwortlich auch für die sozial- und wirtschaftspolitische Bilanz der Regierung machen. Damit könnte er in deren spätere Niederlage mit hinabgezogen werden.

Bernhard Schmid, Paris


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang