letzte Änderung am 26. Juni 2002 | |
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Jacques Chirac kann sich fürs erste zurücklehnen. Die Steuersenkung,
die vor der Präsidentschaftswahl im April zu einem seiner zentralen Wahlversprechen
zählte (und die vor allem den Mittel- und Oberschichten zugute kommen wird),
hatte vor einem Monat zu einem Konflikt mit der EU geführt. Der alte und
neue Präsident hat diesen seitdem bewusst in Szene gesetzt. Denn die Profilierung
gegen einen "äußeren Zwang", den die Regierungen der EU-Länder
zuvor erst gemeinsam geschaffen haben und dem sie sich im Anschluss dann oft
"beugen", gehört zu den bewährten populistischen Erfolgsrezepten.
Das Spiel ist altbekannt: Erst umgehen nationale Entscheidungsträger mögliche
Widerstände in den "heimischen" Gesellschaften, indem sie schwer zu verkaufende
Beschlüsse auf einer höher gelagerten Ebene treffen, wo die lästigen
parlamentarischen Debatten und Kontrollen wegfallen. Für so etwas sind
beispielsweise EU-Gipfeltreffen schon immer gut gewesen - heikle Entscheidungen
dort werden gewöhnlich einstimmig durch die Staats- und Regierungschefs
der Union getroffen. Im Anschluss dann versuchen sie den Beschluss im eigenen
Land durchzudrücken, unter Verweis auf den vorgeblichen "äußeren
Zwang", den sie und ihresgleichen soeben erst selbst geschaffen haben. Und falls
der Unwille allzu stark wird, dann muss eben "das Äußere", in Gestalt
der Globalisierung oder eben der EU, in den nationalen Wahlkämpfen als
Watschenmann herhalten. In der Hoffnung, dass der sozial begründete Unmut
sich als konformistischer Ruf nach Staatsautorität und Vaterland entlädt.
So war es auch jüngst: Anlässlich des EU-Gipfels im März dieses
Jahres in Barcelona unterschrieb Frankreichs damalige Doppelspitze aus Jacques
Chirac und Lionel Jospin Beschlüsse wie den, die Lebensarbeitszeit in naher
Zukunft um fünf Jahre zu verlängern. Oder auch jenen, das Staatsdefizit
in den EU-Mitgliedsländern bis 2004 auf Null zu reduzieren - mit den entsprechenden
Auswirkungen auf Staatshaushalte und, insbesondere wohl, Sozialausgaben. Im
Anschluss dann erklärte Chirac aber im nationalen französischen Wahlkampf
dreist, er wolle sich gar nicht an die Vorgabe halten. Sein Wahlprogramm jedenfalls
sah das Erreichen des "Stabilitätsziels" nur bis zum Ende der präsidialen
Amtszeit im Jahr 2007 vor. Anfang April rüffelte der Chef der Europäischen
Zentralbank, der Niederländer Wim Duisenberg, deswegen den französischen
Kandidaten auf seine Wiederwahl öffentlich. Aber auch der Sozialdemokrat
Lionel Jospin, der sich in seinem Programm deutlich weniger ausgabenfreudig
gab als der konservative Demagoge Chirac (die Wirtschaftspresse hatte im März
dieses Jahres analysiere, das Wahlprogramm Chiracs "koste" doppelt so viel wie
jenes Jospins), gemahnte letzteren an die im EU-Rahmen beschlossenen Stabilitätsvorgaben.
Nach seiner Wiederwahl am ersten Maisonntag hatte Chirac das Thema nochmals
angepackt. Nach seiner ersten Wahl im Mai 1995 hatte er sich, am 26. September
jenes Jahres, in einer Fernsehansprache von seinen Tiraden gegen EU- und Sparpolitik
distanziert: Tut mir leid, Leute, hieß es da, "ich hatte die Probleme
unterschätzt". Das gewisse Gefühl, betrogen worden zu sein, trug erheblich
zur Streikwelle in den öffentlichen Diensten im Spätherbst 1995 bei.
Dieses Mal aber schien Chirac tatsächlich eine zeitweilige Kraftprobe zu
suchen: Mitte Mai 2002 bekräftigte er, die von ihm angekündigten Steuersenkungen
für die Mittelklassen hätten Vorrang vor dem EU-Stabilitätsplan.
Und ein - anonym bleibender - Berater des neuen Wirtschaftsministers Francis
Mer ließ schon mal in der Presse durchsickern, falls das Nulldefizit bis...
2012 erreicht werde, wäre das "doch auch nicht schlecht".
Die EU-Kommission und Frankreichs Arbeitgeber-Verband, der MEDEF, widersprachen
Chirac sofort. Aber auch der deutsche Sparkommissar Hans Eichel, der Chirac
in harschen Worten anmahnte - er werde, so Eichel, "nicht den kleinen Finger
rühren", falls Frankreich durch die EU-Instanzen sanktioniert werde. Seitens
von Eichel war das eine glatte Unverschämtheit: Erst im März 2002
war Berlin selbst einem Rüffel durch die EU entgangen, weil seine Staatsausgaben
höher lagen als vorgeschrieben. Aus reinen politischen Opportunitätserwägungen
heraus hatte Brüssel die Rüge unterlassen - man konnte doch nicht
die mit Abstand stärkste Ökonomie in der EU kritisieren, der perspektivisch
durch die Osterweiterung eine Schlüsselrolle zufallen wird. (Die CDU/CSU
freilich scheint sich nunmehr ein Vorbild an Jacques Chirac zu nehmen - die
französische Wirtschaftpresse jedenfalls veröffentlichte vorige Woche
entsprechende Äußerungen von Edmund Stoiber, der seinerseits am Zieljahr
2004 herummäkelt.)
Im Vorfeld des jüngsten Gipfeltreffens von Sevilla nun legten die EU-Finanzminister,
die sich am Vorfeld des Gipfels versammelten, in der Nacht vom vorigen Donnerstag
auf den Freitag den Konflikt bei. Oder sie vertagten ihn zumindest: Frankreich
verpflichtet sich nunmehr doch, das auf dem EU-Gipfel in Barcelona im März
gemeinsam festgelegte - und von der damaligen Pariser Doppelspitze aus Jacques
Chirac und Lionel Jospin unterschriebene - Ziel, das Staatsdefizit auf Null
zu reduzieren, bis 2004 zu erreichen. Im Wahlkampf hatte Chirac noch von einer
Verschiebung bis 2007 gesprochen. Allerdings ist das Versprechen nur bindend,
falls Chiracs angebliche "Wachstumsprognose" von drei Prozent jährlich
(die Grundlage seines Wahlprogramms war) eintrifft, was unwahrscheinlich ist.
Im Gegenzug zu dem wackeligen Versprechen verpflichtete das Ministertreffen
Paris aber, "eine allgemeine Politik von Strukturreformen zu betreiben", die
"mittelfristig das generelle öffentliche Ausgabenniveau" absenkt. Insbesondere
wird Frankreich aufgefordert, "ohne Verzug" eine Dosis privater Altersvorsorge
- etwa in Gestalt privater Rentenfonds wie in den USA - einzuführen, um
die Ausgaben der öffentlichen Rentenkassen zu senken. Darauf hat das französische
Kapital ohnehin nur gewartet. Denis Kessler, Nummer Zwei des Arbeitgeberverbands
und einer der führenden Köpfe der Versicherungsbranche, arbeitet schon
lange darauf hin, dieses rentable Geschäft zu eröffnen. Zugleich dürfte
ihm das gesellschaftspolitische Ziel ausgesprochen sympathisch sein, jeden abhängig
Beschäftigten in einen Aktionär seiner eigenen Rentenanteile zu verwandeln,
der gewissermaßen das unternehmerische Risiko für seinen Lebensabend
trägt. Die bürgerliche Rechte dürfte also über diesen "Zwang"
hoch erfreut sein.
Ansonsten gilt derzeit in Frankreich: Blau ist der Juni. Seit dem 16. Juni,
an dem der zweite Wahlgang der Parlamentswahlen stattfand, überdeckt eine
"blaue Welle" die parteipolitische Landschaft in Frankreich. La vague bleue
nennt man seit dem frühen 20. Jahrhundert einen deutlichen Wahlsieg der
bürgerlich-konservativen Parteien. Tatsächlich gewann die bürgerliche
Rechte, angeführt von Präsident Chirac, 399 der insgesamt 577 Sitze.
Die von Chirac, nach seiner Wiederwahl als Staatsoberhaupt, am 7. Mai ernannte
Übergangsregierung unter dem Wirtschaftsliberalen Jean-Pierre Raffarin
wurde bestätigt. Doch nur knapp 30 Prozent der volljährigen Französinnen
und Franzosen stimmten für den Bürgerblock. Eine Wahlenthaltung in
Höhe von beinahe 40 Prozent (präzise : 39,8 %) - das ist in Frankreich
ein historischer Rekord - und das Mehrheitswahlrecht machten daraus eine satte
Mehrheit in der Nationalversammlung.
In konkreten Zahlen: Die konservative und liberale Rechte erhielt im zweiten
Wahlgang 52 Prozent der Stimmen. Das entsprach 30,5 Prozent der auf den Wählerlisten
eingeschriebenen Französinnen und Franzosen. Dazu muss man wissen, dass
zwei Millionen volljährige Franzosen - vor allem in der jungen Generation
und unter den sozial deklassierten Schichten - sich derzeit gar nicht erst auf
die Wählerlisten eingeschrieben haben. Das ist in Frankreich die adminstrative
Voraussetzung, um sein Wahlrecht auszuüben. Letztere machen damit 5 Prozent
der Stimmberechtigten aus. Ferner ist noch hinzufügen, dass beachtliche
4,4 Prozent jener Bürger, die sich im Wahlbüro einfanden, am 16. Juni
eine ungültige Stimme abgaben. Auch dies ist ein Zeichen der wachsenden
Legitimationskrise der politischen Repräsentation.
Deren Minister "für die lokalen Freiheiten", der für die Gebietskörperschaften
zuständig und dem Innenminister beigeordnet ist, Patrrick Devedjian, hatte
vor vier Wochen seinerseits blau gesehen und verkündet: "Das Marineblau
muss wieder zur Modefarbe werden!" Damit hatte er allerdings nicht direkt auf
die politische Farbenlehre angespielt. Marineblau ist in Frankreich die Dienstkleidung
der Polizei. Und die will Devedjian, ebenso wie der neue "Superminister" für
Innere Angelegenheiten, Innere Sicherheit und lokale Freiheiten, Nicolas Sarkozy,
künftig weitaus stärker im öffentlichen Leben präsent sehen.
"Aktion" lautet der Schlüsselbegriff der neuen Regierungsmannschaft.
Die Kohabitation - das Nebeinander von Staatspräsident und Premierminister
unterschiedlicher politischer Couleur - habe bisher, so gibt sie vor, das politische
Handeln gelähmt. Nur daraus erkläre sich die massive Unzufriedenheit,
die sich vor allem bei der jüngsten Präsidentschaftswahl manifestiert
hatte. Damit müsse jetzt Schluss sein. Unausgesprochen wird dabei vor allem
auch an die Rückgewinnung der Wähler des Rechtsextremen Jean-Marie
Le Pen für die Konservativen gedacht.
Vor allem zwei Themen sprechen diejenigen an, die im April und Mai für
Le Pen gestimmt haben: Der Ruf nach der harten Hand des Staates gegen "Unruhestifter",
und jener nach drastischer Steuersenkung durch Reduzierung der staatlichen
(Sozial-)Ausgaben. Die neue Regierung bemüht sich, diese Verlangen zu bedienen.
Der neue Innenminister Nicolas Sarkozy beschloss Mitte Mai, die durch die Jospin-Regierung
geschaffenen Polizei-Einheiten in den Banlieues - den sozial degradierten
Trabantenstädten - mit Gummigeschossen auszustatten, den Flash balls, die
auf weniger als 5 Meter Entferrnung tödliche Wirkung haben. Diese Geschosse
waren zunächst den repressiven Sonderkommandos der BAC (Brigades
anti-criminalité) ab 1995 zugeteilt worden. Um neben den rein repressiv
agierenden BAC in den Trabantenstädten zu intervenieren, hatte die Jospin-Regierung
ab 1998 eine so genannte police de proximité (in etwa: Nachbarschafts-
oder bürgernahe Polizei) geschaffen, die der Deeskalation in den Banlieues
dienen soll. Gerade diese Deeskalations-Einheiten werden nun durch Sarkozy mit
den Gumigeschossen ausgestattet.
Sechs Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln sollen in der jetzigen Legislaturperiode
für Polizei und Justiz bereit gestellt werden. Über ihre Verwendung,
die in einem neuen "Gesetz zur Inneren Sicherheit" festgeschrieben werden soll,
wird das neu gewählte Parlament in einer Sondersitzung beraten, die den
ganzen Monat Juli über - in dem normalerweise parlamentarische Sommerferien
herrschen - andauert. Und die leichte Regierungsumbildung m Montag nach der
Parlamentswahl führte zur Schaffung eines neuen Staatssekretariats "für
die Immobilienprogramme der Justiz", gemeint ist: für den Gefängnisbau.
(Dass Innenminister Sarkozy ein Duzfreund des Beton- und Mobiltelefon-Riesen
Martin Bouygues ist, dürfte zu angenehmen Nebeneffekten für den Letztgenannten
führen.) Besetzt ist es mit Pierre Bédier, einem Hardliner, der
die (sozial besonders degradierte) Pariser Trabantenstadt Mantes-la-Jolie regiert.
Der Staat, der die bereits eingetretenen und künftigen sozialen Verwerfungen
infolge der neoliberalen Politik verwalten will, muss eben immer repressivere
Gestalt annehmen.
Auch die Senkung der Einkommenssteuer gehörte im Mai zu den ersten Maßnahmen,
welche die Raffarin-Regierung ankündigte. Die anvisierte Steuerreform ist
die sozial ungerechteste, die sich erdenken lässt : Wer mehr verdient,
bekommt auch mehr geschenkt, da die Senkung proportional zum versteuerten Einkommen
ausfällt. 70 Prozent der neuen Steuergeschenke kommen den 10 Prozent der
größten Steuerzahler zu, 30 Prozent allein dem obersten Prozent.
Die Pariser Wochenzeitung Canard enchaîné (Ausgabe vom 22. Mai
02) hat einmal nachgerechnet, und kam zu folgenden Ergebnissen : Wer zum obersten
Prozent der Steuerzahler gehört, erhält jährlich 2.240 Euro zurück.
Ein mittlerer Verdiener erhält demnach 30 Euro im Jahr, und der Bezieher
eines Minimalverdiensts gar nichts. Denn die Einkommenssteuer wird nach dem
französischen Fiskalsystem nur von der Hälfte der Haushalte bezahlt,
den einkommensstärkeren. Umgekehrt ist von einer Senkung der unsozialsten
- da vom EInkommen unabhängigen - Steuer nicht die Rede: der Mehrwertsteuer
TVA, die in Frankreich überdurchschnittliche 20,6 Prozent beträgt.
(Eine Ausnahme bildet die TVA in den Restaurants, da Chirac ihre Senkung zur
Ankurbelung der Branche versprochen hat. Darüber aber wird derzeit noch
mit den EU-Institutionen verhandelt, die eine solche Senkung erst genehmigen
müssen.) Dennoch scheint die Maßnahme bisher ausgesprochen populär
zu sein, weil jeder sich erhofft, weniger an den Fiskus abzudrücken. Glaubt
man einer Umfrage der Boulevardzeitung Le Parisien, dann hoffen 76 Prozent auf
die Reform.
Kaum mehr der Rede wert ist, dass die Regierung selbstverständlich Arbeitsplätze
durch Geschenke an die Unternehmen zu schaffen gedenkt. Natürlich ist,
folgt man ihr, die Senkung von Lohnnebenkosten und besonders der Sozialabgaben
der Arbeitgeber dazu geeignet, die Beschäftigung zu fördern. Bereits
ab Sommer dieses Jahres soll daher die Einstellung von Jugendlichen und jungen
Erwachsenen ohne qualifizierenden Abschluss dazu führen, dass die Arbeitgeber
für einen solchen Arbeitsplatz gänzlich von Sozialabgaben entbunden
werden.
Allerdings wird das nicht viel ändern. Denn statt theoretischen 30,5 Prozent
führen die Arbeitgeber ohnehin für gering bezahlte Stellen heute nur
noch 4 Prozent Sozialbeiträge ab. Die Abgaben-Nachlässe durch die
konservativen Regierungen ab 1993 (bei Löhnen bis zum 1,3-fachen des gesetzlichen
Mindestlohns SMIC) hatten die Tür geöffnet. Die sozialdemokratische
Jospin-Regierung hat sie 1998 weiter aufgemacht: Als "Gegenleistung" für
die Arbeitgeber, im Ausgleich zur Einführung der 35-Stunden-Woche, wurden
die Nachlässe bis auf die Höhe des 1,8-fachen SMIC (Mindestlohn) ausgeweitet.
Für geringfügig qualifizierte und entlohnte Beschäftigte führen
die Unternehmen daher ohnehin kaum noch Sozialbeiträge ab. Von einem echten
Beschäftigungseffekt kann bisher nicht die Rede sein.
La France d¹en bas (Das Frankreich von unten), das er repräsentieren wolle
- so lautet das Motto von Regierungschef Raffarin. Er bezeichnet allerdings
keine soziale Kategorie. Gemeint ist vielmehr jenes Frankreich, das in kleineren
und mittleren Städten, fernab von Pariser Debatten, von lästiger Politisierung
und "überflüssiger" Staatsbürokratie, fleißig arbeitet
und keine kollektiven Ansprüche stellt. So sieht die Welt des Herrn Raffarin
aus, der von 1995 bis 1997 als Minister für die mittelständischen
Betriebe amtierte und seitdem als Provinzpolitiker im westfranzösischen
Poitiers waltete.
Es gibt allerdings noch ein anderes "Frankreich von unten", das sich ihm in
absehbarer Zeit in Erinnerung rufen könnte. Zwischen 1993 und 1997 hatte
die neokonservative Rechte sogar über 84 Prozent der Parlamentssitze verfügt
- doch die soziale Gegenmacht der Straße hatte die Regierung blockiert,
und das erfolglose Juppé-Kabinett musste im April 1997 abtreten, um vorgezogenen
Neuwahlen Platz zu machen. Die eigentlich interessante Frage ist also nicht,
wieviel Sitze im Parlament die Rechte innehat, sondern was sich an sozialer
Gegenmacht herausbildet.
Dennoch ist nicht garantiert, dass es schnell zur sozialen Explosion kommen
wird. Zunächst kann die Regierung darauf setzen, verschiedene soziale Kategorien
gegeneinander auszuspielen. Und namentlich die Lohnabhängigen im privaten
Sektor, in dem sehr prekäre Bedingungen herrschen und die Gewerkschaften
erheblich geschwächt sind, gegen die Beschäftigten im öffentlichen
Dienst. Letztere konnten bisher, durch kollektive Gegenwehr, noch etwas mehr
an sozialen Errungenschaft herüberretten.
Glaubt man derBoulevardzeitung Le Parisien, dann stimmen 86 Prozent der bereits
angekündigten Einschränkung des Streikrechts im öffentlichen
Dienst durch Einrichtung eines service mimimum - eines obligatorischen Mindestdiensts,
mit Möglichkeit zur Dienstverpflichtung - zu. Das ist vor dem Hintergrund
der Frustration der Nutzer öffentlicher Transportmittel über die Streikfolgen
in diesem Sektor zu sehen. Unter ihnen sind viele Ausgebeutete im Privatsektor,
die sich aus Angst vor Jobverlust oder Lohanbzug nicht trauen, zu spät
zur Arbeit zu kommen.
1995/96 wurde der damaligen konservativen Regierung von Alain Juppé zum
Verhängnis, dass sich die sozialen Widerstände in einer Reihe von
Sektoren gegen sie bündelten. Die Beschäftigten der privaten Wirtschaft
unterstützten den Ausstand der öffentlich Bediensteten, da diese gegen
die Deform des Sozialversicherungssystems "im Interesse aller" streikten. Daraus
erwuchs eine gemeinsame Dynamik. Ob bzw. wann dieser Fall wieder eintritt, das
ist eine bisher noch offene Frage.
Künftig würde die Einrichtung eines solchen "Mindestdiensts" dem
Streikrecht viel von seiner Wirkung nehmen. (Im Gegensatz zum privaten Wirtschaftssektor,
wo in Frankreich - nach geltendem Recht - jeder Lohnabhängige das
Streikrecht wahrnehmen kann, auch ohne durch einen Gewerkschaftsapparat unterstützt
zu werden, ist das Streikrecht im öffentlichen Dienst bereits heute beschränkt.
Seit 1963 verpflichtet das Gesetz die Beschäftigten dazu, eine Streikankündigung
5 Tage vor Beginn des Ausstands abzugeben. Eine solche Vorwarnfrist existiert
im privaten Sektor nicht.)
Die Führung des sozialliberalen Gewerkschaftsbunds CFDT hatte bereits Ende
November 1995, mitten im damaligen Streikherbst, ihre Bereitschaft zu Verhandlungen
über die Einführung eines solchen service miminum angekündigt.
Die Regierung wird sich daher auf diesen Gesprächspartner zu stützen
versuchen, um nicht als Urheber einer einseitigen Brachialoffensive gegen die
Beschäftigten zu erscheinen. Sie führt oft den Begriff der "neuen
Sozialpartnerschaft" im Munde, deren Schlüsselelement die - der neoliberalen
Ideologie sehr weitgehend zugeneigte - CFDT-Führung bildet. Die CFDT-Spitze
hatte in den letzten Jahren in Rechtsopposition zur Jospin-Regierung gestanden,
und gegen "zu viel staatliche Regulierung" gewettert, an deren Stelle eine sozialpartnerschaftliche
Regelung unter "verantwortungsvollen Partnern" treten solle.
Umgekehrt ist der CFDT-Apparat aktiver Teilnehmer am Prozess der so genannten
refondation sociale (Neugründung der sozialen Beziehungen), den der Arbeitgeber-Verband
MEDEF zum Jahresende 1999 lanciert hatte. Diese refondation sociale soll in
den kommenden Jahren dazu führen, die bisher in Frankreich weitgehend konfliktgeprägten
und (auch deswegen) in hohem Maße per Gesetz regulierten, sozialen Beziehungen
durch einen neuen sozialpartnerschaftlichen "Vertrag" zu ersetzen. Die bisher
bedeutsame, politische und gesetzgeberische Regulierung der sozialen und wirtschaftlichen
Beziehungen sorgte für eine Art sozialer Mindestgarantie. Und das aufgrund
der hohen politischen Druckanfälligkeit entsprechender Entscheidungen.
Der Druck der Straße, die hohe Mobilisierungsfähigkeit sozialer Bewegungen
und das Existieren eines großen "öffentlichen Raums" - da Frankreich
als republikanischer Sozialstaat bisher eine einheitliche Gesetzgebung auf dem
gesamten Territorium aufweist, was für ein rasches Zusammenfließen
sozialer Proteste sorgt - bildeten ein Damoklesschwert über dem Kopf
jeder Regierung, die allzu antisoziale Maßnahmen beschlossen hätte.
Aus diesem Grund ist der Kapitalistenverband MEDEF seit ein paar Jahren von
der Notwendigkeit einer "Entpolitisierung" und sozialpartnerschaftlichen Regulierung
der sozialen Beziehungen überzeugt. Aus ähnlichen Gründen ist
die konservativ-liberalen Rechte seit einigen Jahren zum Fan der "Dezentralisierung"
und Regionalisierung politischer Entscheidungen geworden, und das zentralstaatliche
"soziale Jakobinertum" zum roten Tuch in ihren Augen. Auch hier ist die Ankoppelung
an neoliberale und Subsidiaritäts-Ideologien evident.
Zu ersten Spannungen zwischen dem ³Frankreich von unten² - dieses Mal in sozialer
Hinsicht - und der neuen Regierung kam es zu Anfang dieser Woche. Anlass dafür
war die Ankündigung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin vom Freitag
letzter Woche, der gesetzliche Mindestlohn SMIC werde am 1. Juli dieses Jahres
nicht über das vom Gesetz ohnehin vorgeschriebene Maß hinaus erhöht.
Allerdings hatte sein Wirtschaftsminister Francis Mer so etwas schon während
des Wahlkampfs durchblicken lassen, als er mitten in der Wahlkammpagne verkündete,
er sei "persönlich nicht überzugt, dass dies (eine Anhebung des Mindestlohns)
im Interesse der Unternehmen, und folglich (sic !) im Interesse der Arbeitenden
liegt". Jacques Chirac hatte allerdings dem Entstehen eines schlechten Eindrucks
gegengesteuert, und im Wahlkampf vage von einer Erhöhung des SMIC fabuliert
- auf ein demagogisches Versprechen mehr oder weniger kommt es bei ihm ohnehin
nicht mehr an.
Das geltende Gesetz verpflichtet die Regierungen, zum 1. Juli jedes Jahres den
gesetzlichen Mindestlohn SMIC (Salaire minimum interprofessionnel de croissance,
"wachstumsorientierter Mindestlohn für alle Berufsgruppen") zu revidieren.
Der historische Vorläufer SMIG (= garantierter Mindestlohn für alle
Berufsgruppen), der zwischen 1950 und 1970 bestand, musste den Teuerungsausgleich
im Verhältnis zur jeweils vorherrschenden Inflation integrieren. Seit 1970
hat sich die Regel geändert. Die SMIC-Revision zum 1. Juli jedes Jahres
muss seitdem den Inflationsausgleich plus die Hälfte der durchschnittlichen
Erhöhung aller Stundenlöhne einbeziehen. Dadurch soll gewährleistet
sein, dass die untersten Lohngruppen nicht auf Dauer von der Entwicklung der
mittleren und oberen Einkommensgruppen abgekoppelt werden, wie das zwischen
Mitte der 50er Jahe und 1968 der Fall war - bevor der Mai 1968 die Erhöhung
des SMIG um 35 Prozent auf einen Schlag zur Folge hatte.
13 Prozent der abhängig Beschäftigten in Frankreich erhalten derzeit
direkt den SMIC, der theoretisch 890 Euro netto und 1.185 Euro brutto im Monat
beträgt (...und die Bezüge unterer Lohngruppen sind teilweise direkt
in Prozenthöhe auf den SMIC bezogen). Eine Schwierigkeit besteht im Moment
darin, dass es derzeit in der Praxis 5 verschiedene SMIC-Niveaus gibt, die leicht
voneinander abweichen. Der Grund dafür liegt in der Verkürzung der
theoretischen Wochenarbeitszeit von 39 auf 35 Stunden, die zwischen 1997 und
2002 erfolgte. Der SMIC ist eigentlich ein Stunden- und kein Monatslohn, daher
sorgte die Arbeitszeitverkürzung für Verwerfungen im Lohngefüge,
die durch Kollektivabkommen und Gesetzgeber mehr schlecht als recht aufgefangen
wurde. Daraus resultieren derzeit 5 verschiedene SMIC-Niveaus.
Diese technische Schwierigkeit nahm die Raffarin-Regierung zum Anlass, keine
über das gesetzlich vorgeschriebene Minimum hinausgehende Neubewertung
des SMIC vorzunehmen. Stattdessen versprach die Regierung, ab 2003 zu einem
einheitlichen SMIC-Niveau zurückzukehren. Zum 1. Juli dieses Jahres wird
es daher also nur die ohnehin obligatorische Angleichung des SMIC an die (offizielle)
Teuerungsrate plus die Hälfte der durchschnittlichen Lohnentwicklung geben
- das bedeutet eine Erhöhung des SMIC um 2,4 Prozent. (In Wirklichkeit
ist inoffiziell bekannt, dass die Euro-Umstellung zu Anfang dieses Jahres zu
einer durchschnittlichen Verteuerung der Produkte um 3 bis 4 Prozent missbraucht
worden ist.)
Üblicherweise war in Wahljahren ansonsten der SMIC über das gesetzlich
vorgeschriebene Mimimum hinaus erhöht worden - man spricht in diesem Zusammenhang
von einem coup de pouce (wörtlich "Daumenschlag", das bedeutet, dass man
den Zeiger mit dem Daumen nach oben drückt). Das geltende Gesetz sieht
ausdrücklich vor, dass der obligatorische Teuerungsausgleich lediglich
ein Minimum darstellt, und dass die Politik daher grundsätzlich solche
politisch entschiedenen SMIC-Erhöhungen vornehmen kann und soll. Bei ihrem
Amtsantritt haben die Juppé-Regierung 1995 und die Jospin-Regierung 1997
jeweils rund zwei Prozent coup de pouce gewährt. D.h. die SMIC-Erhöhung
war 1995 und 1997 um circa zwei Prozent über das obligatorische Minimum
hinaus gegangen. Ansonsten hat sich auch die Jospin-Regierung in den letzten
Jahren, anders als die Regierungen der 70er und 80er Jahre, weitgehend an das
gesetzliche Minimum gehalten.
In diesem Jahr ist nun also nichts mit coup de pouce. Der Vorsitzende der sozialistischen
Parlamentsfraktion, Jean-Marc Ayrault - diese Leute scheinen in der Opposition
plötzlich heller zu werden, als in ihren eigenen Regierungsperioden - stellte
dazu ironisch fest : "Der Premierminister mag das Frankreich von unten so sehr,
dass er zweifellos wünscht, dass es ganz unten bleibt."
Für etwas böses Blut sorgte ferner der Zeitpunkt der Ankündigung
von Jean-Pierre Raffarin, am 21. Juni. Hintergrund dafür ist, dass die
Nationale Kommission für Kollektivverhandlungen erst am Montag dieser Woche,
also am 24. Juni, tagte. Diese aus Gewerkschafts-, Arbeitgeber- und Regierungsvertretern
zusammengesetzte Kommission sol theoretisch der Regierung eine Vorlage
für ihre Entscheidung zur alljährlichen SMIC-Revision am 1. Juli liefern.
Faktisch weiß jede/r, dass diese Versammlung ein Ritual bildet und es
ohnehin zu keinem Übereinkommen zwischen Arbeitgeber- und gewerkschaftlichen
Positionen in dieser Frage kommt.
Dass der Regierungschef aber noch vor dem Zusammentreten der Kommission bereits
seine Entscheidung als feststehend verkündete, spricht gegen seine sonstige
Propaganda vom "erneuerten sozialen Dialog", der gegen den angeblichen "Autoritarismus"
der sozialdemokratischen Vorgängerregierung gesetzt wird. Zusätzlich
pikantes Detail am Rande, das vielfach bemerkt wurde: Raffarin gab seine Äußerung
ab, als er aus einer Unterredung mit dem "Boss der Bosse", dem MEDEF-Chef (und
Baron) Ernest-Antoine de Seillière, kam. Das führte eigentlich das
ganze Geschwätz von der "neuen Sozialpartnerschaft" ad absurdum.
Es hinderte allerdings den neuen CFDT-Chef François Chérèque
nicht daran, nunmehr genau diese Ideologie, die Chirac in seinem Wahlkampf verbreitet
hatte, gegen die neue Regierungsmannschaft selbst einzuklagen. "Während
des Präsidentschaftswahlkampfs", erklärte Chérèque in
einem Interview mit der Pariser Abendzeitung Le Monde, "hat Jacques Chirac einen
wahrhaften Diskurs über den sozialen Dialog verteidigt. Jean-Pierre Raffarin
hat die Versprechen des Kandidaten Chirac übernommen. (...) Der Premierminister
muss sein Vorgehen korrigieren und sich klar zugunsten des Wiederbeginns des
sozialen Dialogs und der Reform engagieren. Ein Teil der neuen Regierungskoalition
steht in der Versuchung, das Gesetz gegenüber dem Vertrag zu bevorzugen
- das wäre ein Fehler." [Anm.: Genau das hatten die Arbeitgeber, und die
Ideologen der "Neugründung der sozialen Beziehungen", der sozialdemokratischen
Jospin-Regierung vorgeworfen...] Eine Oppositionslinie, die angesichts der SMIC-Entscheidung
vermutlich Sympathiepunkte zu sammeln verspricht. Die aber, angesichts der Vorhaben
der Rechten und des Kapitals, zielgenau in die falsche Richtung weist.
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