letzte Änderung am 10. November 2003

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Abschied vom Pfingstmontag? Oder: Vor einer Offensive des Kapitals in der Arbeitszeitpolitik

Seit dem vorigen Donnerstag ist die Katze aus dem Sack. Nach einem Wechselbad sich verändernder Informationen und darauf folgender Dementis hat Premierminister Jean-Pierre Raffarin nunmehr verkündet: Es wird für Frankreichs abhängig Beschäftigte ab 2004 eine Arbeitszeit-Verlängerung geben, und zwar um einen Tag. Was nicht offen dazu gesagt wird, aber die daraus resultierende Folge ist: In absehbarer Zukunft wird dabei ein bedeutender Teil der bestehenden Kollektivabkommen zur Arbeitszeitpolitik neu verhandelt werden müssen. Vielerorts wird das wohl zur Folge haben, dass - oftmals noch dazu auf einzelbetrieblicher Ebene, auf dem Weg von Betriebsvereinbarungen - die bisherige gesetzliche Norm der 35-Stunden-Woche weitgehend aus den Angeln gehoben wird. In den Reihen der Rechten und der Kapitelverbände hatte man davon geträumt - in naher Zukunft wird es ein Stück weit Wirklichkeit werden.

Vom Versagen der Regierung zur Mehrbelastung der Beschäftigten

Doch der Reihe nach: Wie kam es dazu? Man erinnert sich: Im August dieses Jahres starben, nach nunmehr auch regierungsoffiziellen Angaben, über 14.500 Menschen (80 Prozent davon in fortgeschrittenem Alter) im Zuge der Hitzewelle. Das bedeutet, dass es ebenso viele Tote zusätzlich zur statistisch "normalen" Sterberate, die vorauszusetzten ist, gegeben hat - an manchen Tagen im August 2003 hatte sich die Sterberate gegenüber anderen Jahren verdreifacht. Zu 80 Prozent starben die Betreffenden in Krankenhäusern und Altenheimen. Dabei muss jedoch hervorgehoben werden, dass es nicht "die Natur" - die Klimaschwankung an sich - ist, die unmittelbar ursächlich für dieses Sterben geworden ist, sondern die Reaktion der Gesellschaft darauf. Das französische Gesundheitssystem war nicht darauf eingestellt, mit den Folgen solcher Vorgänge in der äußeren Natur umzugehen - weil es Opfer  einer Sparpolitik wird, die sich seit einem Jahrzehnt radikalisiert hat. Chronische Unterbesetzung, Mangel an ausgebildetem Personal (bzw. an Personal überhaupt), kein Vorhandensein von Ventilaroten oder gar Klimaanlagen, Chaos in den Notaufnahmeeinrichtungen - so sieht das Ergebnis davon aus.

Die neokonservative Raffarin-Regierung, welche die Konsequenzen im August lange Wochen hindurch durch Aussitzen zu lösen versuchte, kam dadurch zunächst in die Defensive. Doch dann, im September, versuchte sie das Heft wieder in die Hand zu nehmen und ihrerseits in die Offensive zu gehen. Raffarin und sein Gesundheitsminister Jean-François Mattéi machten einen Vorschlag: Es solle ein eigener Zweig der Sozialversicherung ("branche dépendance") für abhängig gewordene ältere Menschen eingerichtet werden -  ein Vorschlag, den Ex-Premierminister Alain Juppé zuerst auf's Tapet brachte. Das Ganze nach dem Vorbild der 1994/95 eingeführten "Pflegeversicherung" in Deutschland - wobei die demographische Struktur in Deutschland sich stark von der in Frankreich unterscheidet, in der die Alterspyramide weit weniger nach oben hin verschoben ist. Bisher wurde die Versorgung des entsprechenden Personenkreises durch die "branche maladie", den Krankenversicherungs-Zweig des Sozialversicherungsystems, abgedeckt. Aus gewerkschaftlicher Sicht hätte dies auch so bleiben sollen, wobei die CFDT vorschlug, eine parafiskale Sonderabgabe (die durch alle Steuerpflichtigen zu entrichten wäre, da das Pflegerisiko ein allgemeines und nicht vom Arbeitsvertrag bzw. der Natur des Beschäftigungsverhältnisses abhängt) in Höhe von 0,2 Prozent einzuführen. Diese hätte künftig zusätzliche Aufgabenbereiche der allgemeinen Krankenversicherung im Bereich der Pflege älterer Menschen übernehmen sollen.

Finanziert werden sollte die Einrichtung einer solchen neuen Spezialkasse - damit man nicht die bisherige Austeritätspolitik im allgemeinen Gesundheitswesen, angesichts der Resultate, in Frage zu stellen brauche - durch eine eigene Finanzierungsquelle. In diesem Zusammenhang brachte die Regierung im September den Vorschlag auf, einen gesetzlichen Feiertag (Frankreich hat bisher ihrer 11, womit es EU-weit durchaus nicht im Spitzenbereich liegt) abzuschaffen - analog zu dem Verfahren, nach dem in Deutschland ab 1994/95 der so genannte Buß- und Bettag gestrichen wurde, mit Ausnahme des Bundeslands Sachsen. Konkret im Gespräch war, nach einigem Hin und Her über den 8. Mai (der Jahrestag des Kriegsendes 1945 ist in Frankreich noch Feiertag), am Ende die Streichung des Pfingstmontags.

Dadurch sollte ein Mehrprodukt in die Sozialkassen gespült werden. Fraglich war nur, wie. Für die abhängig Beschäftigten würden ihre Monatslöhne ja gewiss nicht steigen, so dass alsbald von einem "Gratis-Arbeitstag" oder auch "einem Tag Zwangsarbeit" seitens der Gewerkschaften (vor allem CGT und FO) und der Linken die Rede war. Da sie aber nicht mehr verdienen würden, könnten sie auch nicht zusätzliche Sozialbeiträge von ihren Löhnen abführen. Folglich blieb nur, dass die Unternehmen, die dadurch ihre Arbeitskräfte länger - ohne zusätzliche Entlohnung - arbeiten lassen könnten, ihrerseits einen Pauschalbeitrag in die neue Sozialkasse abführen sollten. Im Gespräch waren wahlweise 0,2 oder 0,3 Prozent der Höhe der betrieblichen Sozialabgaben, da vorgerechnet wurde, die Produktion bzw. Wertschöpfung könne durch die damit einhergehende Ausdehnung der Arbeitszeit in dieser Proportion steigen.

Viele im Arbeitgeber-Lager hielten das freilich für eine Milchmädchen-Rechnung, so der Vorsitzender des Verbands der Textil-Unternehmer (UIT), Guillaume Sarkozy. Tatsächlich kann durchaus nicht als wissenschaftlich gesichert gelten, dass sich eine Ausdehnung der Wertschöpfung durch Wegfall eines Feiertags so leicht anteilsmäßig berechnen lässt. Störend aus Sicht der Arbeitgeber war nicht der zusätzliche Arbeitstag (tatsächlich hatten sie sich gerade im Jahr 2003, das im Mai und Juni zahlreiche Brückentage - einzelne Arbeitstage zwischen Feiertag und Wochenende - aufwies, über die "zu vielen Feiertage" im Spätfrühjahr und Frühsommer beschwert, die der Produktivität schadeten). Aber das böse Ansinnen, deswegen einen von vornherein fest stehenden Geldbetrag in die Sozialkassen abzuführen, wollten sie zugleich nicht hinnehmen. Damit hing die Maßnahme politisch ein wenig in der Luft, was eine Unterstützung seitens der gesellschaftlichen Akteure anging, denn auf der anderen Seite zeigten sich die Gewerkschaften allesamt wenig begeistert von der Idee eines "Gratis-Arbeitstags".

Die Dinge geraten durcheinander: "Psychodrama" in der Regierung

Doch dann beschleunigten sich die Dinge: Am 28. Oktober berichteten die Wirtschaftszeitung "Les Echos" und die Boulevardzeitung "France Soir", die Regierung habe sich jetzt entschieden - der Pfingstmontag werde bereits ab kommendem Jahr abgeschafft. Das sorgte für den Zorn des Regierungschefs, der die Ankündigung (die sogleich auf Unmutsäußerungen stieß) als "verfrüht" und zu wenig vorbereitet betrachtete. Ab da ging der böse Verdacht um, ein Regierungsmitglied habe "verraten", da der vorab intern gefällte Beschluss nur von einem Minister habe verpfiffen werden können.

Und prompt wurde der Schuldige gefunden: Der "Verräter" war Sozialminister François Fillon. Dieser hatte am Vortag der Veröffentlichungen eine Zugreise mit Journalisten der beiden betreffenden Zeitungen nach Bergerac unternommen, wie eine Auswertung seines Terminkalenders ergab. Seitdem hat sich das Klima zwischen Premier- und Sozialminister auf eisige Temperaturen abgekühlt. Als der Schuldige in den ersten Novembertagen entlarvt wurde, weilte Fillon gerade in Japan. Auf dem Umweg über Presseagenturen tauschten Raffarin und Fillon giftige Anfeindungen aus.

Was den neogaullistischen Arbeits- und Sozialminister dabei motiviert hatte, ist bisher nicht ganz genau geklärt. Zwei Gründe scheinen auf der Hand zu liegen, die sich gegenseitig ergänzen können. Erstens wollte François Fillon möglicherweise nicht erneut, jedenfalls nicht so schnell, in der Öffentlichkeit als Überbringer einer schlechten Nachricht auf sozialem Gebiet dastehen. Denn bereits bisher galt er als "der Mann der Rentenreform"; die nächste regressive Reform (im Gesundheitswesen) wäre ansonsten an Gesundheitsminister Mattéi gegangen. Zum Zweiten wollte Fillon wahrscheinlich dem Premierminister einen ansehnlichen Stein in den Weg legen. Der Hintergrund von beidem ist, dass Fillon in jüngerer Zeit unglaublichen karrieristischen Ehrgeiz entwickelt, und sich bereits als eine Art künftigen Premierminister "in spe" betrachtet. Regierungschef Raffarin hat ihn innerhalb der Regierungspartei UMP bereits unter Aufsicht stellen lassen, nachdem er bei der Klausurtagung der UMP-Parlamentsfraktion in Nancy Ende September eine "Quasi-Premierminister-Rede" gehalten hatte. Nunmehr dürften ihm die Flügels für's Erste gestutzt sein. Allerdings befindet sich gerade auch Premier Raffarin derzeit in einer Sturzflugbewegung, was die Entwicklung seiner Popularitätswerte betrifft, und in der Presse wird vielerorts gemunkelt, er mache es vielleicht nicht mehr lange an der Spitze der Regierung.

Die Affäre, die durch die "vorschnelle" Veröffentlichung ausgelöst wurde, zwang Raffarin daraufhin Anfang November, die Planungen nochmals für andere Optionen zu öffnen. Die Vertreter der Kapitalverbände nutzten die Gunst der Situation, um nochmals eifrig Lobbying zu betreiben: Nichts gegen längere Arbeitszeiten, oh nein, ganz im Gegenteil ("die Ärmel müssen endlich wieder hochgekrempelt werden, nachdem die Freizeit vergöttert wurde") - aber bitte schön, eine so unflexible Regelung, die uns auf einen bestimmten Tag verpflichtet, für den wir eine bestimmte Summe entrichten sollen, wollen wir nicht.

Die letztendlich beschlossene "Reform"

Letztendlich kam es zu einem "Kompromiss", der vor allem die Kapitelverbände zufrieden stellen dürfte. Die Idee der Streichung des Pfingstmontags bleibt grundsätzlich beibehalten. Eine feste Vorgabe bildet sie allerdings nur für die öffentlich Bediensteten und Angestellten öffentlicher Betriebe (5 Millionen), welche der Staat künftig auch am Pfingstmontag antanzen lassen wird.

Hingegen bleibt für die Unternehmen des Privatsektors mit ihren 15 Millionen Lohnabhängigen eine Wahlmöglichkeit bestehen. Zwar wird auch hier, sofern kein Branchen- oder Betriebsabkommen vorliegt, künftig am Pfingstmontag gearbeitet. Allerdings kann demnach sowohl eine Branchen- als auch eine Betriebsvereinbarung Abweichendes bestimmen. Diese "sozialpartnerschaftlich" vereinbarte Regel soll entweder einen anderen gesetzlichen Feiertag zur Streichung bestimmen - oder aber die Arbeitszeitverkürzung (die mit den 35-Stunden-Gesetzen von 1998 und 2000 schrittweise umgesetzt wurde) um das Äquivalent eines Arbeitstags mindern können. Damit sind den so genannten "Sozialpartnern", auch auf einzelbetrieblicher Ebene, maximal Flexibilitätsmöglichkeiten eröffnet.

Die einzige Vorgabe seitens der Rechtsregierung Raffarin wird darin bestehen, dass die gesetzliche Jahres-Arbeitszeit - die nach den beiden 35-Stunden-Gesetzen auf 1.600 Stunden pro Jahr festgelegt ist (wobei die 1.600 Arbeitsstunden ungleichmäßig über den Monat oder das Jahr verteilt werden können) - nunmehr auf 1.608 Stunden angehoben werden kann.

Durch diese flexible, nachgiebige Neuregelung sind die Türen sperrangelweit dafür geöffnet, dass nunmehr auf "dezentraler" (Branchen- oder aber auch Betriebs-)Ebene die Verhandlung über die Arbeitszeitpolitik, die der Gesetzgeber ab 1998/99 initiiert hat, unter dem Druck des Kapitals neu aufgerollt werden. Bereits bisher hatte die Methode bei der Einführung der 35-Stunden-Woche (das Gesetz gibt nur einen groben Rahmen vor, der durch Betriebsabschlüsse ausgefüllt werden soll) für eine erhebliche Parzellierung der Situationen im Arbeitszeitbereich zwischen unterschiedlichen Branchen und Betrieben gesorgt. Das war aber noch gar nichts gegenüber dem, was jetzt drohen kann.

Bernhard Schmid, Paris
9.11.2003

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