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Updated: 18.12.2012 15:51
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„Sarkozy will unseren Sozialpakt angreifen“

Heute der Streik der „Cheminots“ gegen die Rentenreform. Interview mit dem Sekretär der CGT-Eisenbahnergewerkschaft, Thierry Nier

Interview von Luca Sebastiani – Paris

Frankreichs neuer Staatspräsident Nicolas Sarkozy und seine Regierung erleben in diesen Tagen den ersten ernstzunehmenden Widerstand gegen ihre soziale Kahlschlagspolitik. Die französischen Eisenbahner („Cheminots“) wehren sich mit einem Streik gegen die geplante Gegenreform ihres Rentensystems, mit der – wie man heute sagt – eine „Gerechtigkeitslücke“ geschlossen werden soll. Das heißt die bislang zu kampfstarken Eisenbahner sollen endlich auch dieselben Verschlechterungen erfahren wie die übrige Bevölkerung.

Der Streik ist organisatorisch-technisch bislang offenbar ein voller Erfolg, wie die rechtsliberale „Neue Zürcher Zeitung“ vom 19.10.2007 berichtet: „Auch am Freitag sind in Frankreich die meisten Züge stillgestanden. Am zweiten Streiktag verkehrten im Grossraum Paris lediglich ein Drittel aller Nahverkehrszüge und Metros. Einzig der Eurostar zwischen London und Paris konnte ab 6 Uhr 45 wieder normal verkehren. Der Betrieb des Thalys, der die französische Kapitale mit Brüssel verbindet, wird bloss zu 60 Prozent garantiert; jener des TGV lediglich zu 35 Prozent. (…) Erstmals werden alle Reisenden, die von den Streiks unmittelbar betroffen sind, entschädigt. Dabei würde nicht zwischen dem Nahverkehr und den Hauptlinien unterschieden. Dies sagte die Präsidentin der SNCF, Anne-Marie Idrac dem Radiosender «Europe 1». Den Schaden bezifferte sie dabei auf rund 20 Millionen Euro.“ Laut CGT betrug der Anteil der Streikenden bei der Eisenbahngesellschaft SNCF 75%, bei der Pariser U- und S-Bahn RATP am ersten Streiktag, dem 18.10.2007, „mehr als 70%“ und beim öffentlichen Energieversorger EDF-GDP sogar 80%.

Dennoch bleibt die Regierung hart, was unter anderem auf die mangelnde Solidarität in der Masse der Bevölkerung zurückzuführen ist. Dort scheint die unsoziale und unterwürfige Philosophie des „Wenn es mir schlecht geht, soll es den Anderen auch schlecht gehen!“ zunehmend die Oberhand zu gewinnen. So schreibt die „NZZ“ weiter: „Der Elysée reagierte unbeeindruckt auf den Streik der Eisenbahner. Regierungssprecher David Martinon sagte vor den Medien, der Präsident werde die Reformen durchsetzen. Für dieses Reformprogramm sei Sarkozy vom Volk gewählt worden. Auch Arbeitsminister Xavier Bertrand machte in einem Interview mit dem Radiosender «RTL» deutlich, dass man keinesfalls gedenke, die geplanten Reformen fallen zu lassen. Bertrand machte aber auch deutlich, dass die Regierung den Dialog mit den Gewerkschaften fortführen will. (…) Laut einer Umfrage der Zeitung «Le Figaro» schwindet der Rückhalt der «Cheminots» in der Bevölkerung. Nur noch ein Drittel der Franzosen äusserten Verständnis für die Streiks der Bahnangestellten. 67 Prozent hingegen befürworten die Rentenreformen der Regierung im Transportwesen.“

Während die Streikfront augenscheinlich auch am zweiten Tag weitgehend hielt, blasen die Führungen von CGT und CFDT bereits wieder zum Rückzug. Ob es insbesondere der linken SUD gelingen wird, dem längerfristig entgegenzuwirken, bleibt fraglich. Die ARD-„Tagesschau“ meldet dazu auf ihrer Homepage am 19.10.2007 um 20:04 Uhr unter dem Titel „ Streiks gegen Sarkozys Rentenpläne – Gewerkschaften streiten über gemeinsame Strategie“:

„Einen Tag nach dem größten Bahnstreik seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die französischen Gewerkschaften über ihr weiteres Vorgehen zerstritten. Mehrere kleinere Gewerkschaften setzten den Ausstand fort, um die Regierung von Nicolas Sarkozy zum Nachgeben bei der Rentenreform zu bewegen. Die mächtige CGT rief dagegen zur Rückkehr an die Arbeit auf. Sie will kommende Woche über das weitere Vorgehen entscheiden. Die CFDT rief die Regierung zu Verhandlungen über die Gegenvorschläge der Gewerkschaften zur Rentenreform auf. (…) Am Montag wollen die Gewerkschaften ihr weiteres Vorgehen abstimmen. Die CGT erklärte sich grundsätzlich zu Gesprächen mit der Regierung bereit, um Sarkozys Pläne zu beeinflussen, hieß es aus Gewerkschaftskreisen. Die radikalere Gewerkschaft SUD setze hingegen auf Konfrontation.“

In einem Interview für die von Rifondazione Comunista (PRC) herausgegebene Tageszeitung „Liberazione“ vom 18.10.2007 äußerte sich der Chef der CGT-Eisenbahnergewerkschaft Thierry Nier zu den Gründen und der Streikstrategie seiner Gewerkschaft:

„Was heute in Frankreich beginnt, ist eine Auseinandersetzung, bei der sehr viel mehr auf dem Spiel steht als die besonderen Rentenregelungen.“ Für den Vorsitzenden der CGT-Eisenbahnergewerkschaft, Thierry Nier, bestehen diesbezüglich keine Zweifel. Nicolas Sarkozy und die Regierung trieben die Reform der einigen Berufsgruppen des Öffentlichen Dienstes zugestandenen so genannten Sonderrenten nur deshalb mit erhöhtem Tempo voran, um die Gewerkschaft „im Namen der angeblichen Gerechtigkeit“ zu schwächen und dann weitere und noch sehr viel tief greifendere Reformen vorzunehmen. Was den von Sarkozy als Vorgehensweise zur Schau gestellten Sozialen Dialog angeht, so handelt es sich für Nier dabei nur um Worte.

„Sagen wir, dass die Regierung die Gewerkschaften zu Informationsveranstaltungen eingeladen hat, auf denen sie ihre Road Map für die Reformen unterbreitete. Letztendliches Ziel war nicht der Soziale Dialog. Man muss sich darüber verständigen, ob der Soziale Dialog nur darin besteht die Gewerkschaften einzuladen, um sie über das zu informieren, was man vorhat, ohne sich dabei ihre Vorschläge anzuhören oder nicht. Was uns anbelangt, kann die CGT darin keinen qualitativen Dialog sehen. Bestenfalls handelt es sich um eine Demokratiefassade.“

Was sind die Gründe für den heutigen Streik?

„Der Streik ist die direkte Konsequenz des Angriffs, den die Regierung gegen die circa 200 Sonderregelungen beschlossen hat, die es in Frankreich gibt. Insbesondere gegen die Sonderregelungen bei den Eisenbahnern. Die Regierung hat sich unseren Alternativvorschlägen zur schlichten und einfachen Beseitigung der Regelungen gegenüber taub gestellt, weil darüber hinaus das allgemeine Rentensystem unter Druck steht.“

Die Umfragen besagen, dass die Franzosen für die Angleichung der Sonderregelungen an das allgemeine System sind. Lauft Ihr nicht Gefahr, isoliert zu werden?

„Zuallererst muss man sagen, dass die heutige Aktion eine branchenübergreifende Aktion ist, weil außer den Beschäftigten der von dieser spezifischen Reform direkt betroffenen öffentlichen Unternehmen auch die Beamten und einige Lohnabhängige aus der Privatwirtschaft daran teilnehmen werden. Sicher, wenn man sich die Umfragen anschaut, dann besteht die Gefahr einer Isolierung. Man muss den Franzosen allerdings alle Elemente zur Kenntnis bringen, damit sie beurteilen können, warum nicht nur die Sonderregelungen auf dem Spiel stehen.“

Was noch?

„Das Wesen des Sozialvertrages wird in Frage gestellt, weil heute die Sonderregelungen der Eisenbahner und Beschäftigten im Nahverkehr im Namen der Gerechtigkeit attackiert werden. In Wirklichkeit will man allerdings die Gewerkschaft treffen (und die CGT in besonderer Weise), um dann ab Anfang 2008 zu einer dritten Reform des allgemeinen Rentensystems zu schreiten. Einer Reform, die alle Arbeiter betreffen wird. Das zeigt die Tatsache, dass die geplante Reform der Sonderregelungen durchaus nicht die Finanzierung der Renten in Frankreich regeln wird. Das ist eine Realität. Dahinter steckt also eine andere Logik – die Logik der frontalen Konfrontation mit den Gewerkschaften. Wenn man als erste Initiative der neuen Legislaturperiode – während des Sommers und mitten in der Urlaubszeit – einen Gesetzestext über das Streikrecht verabschiedet und dann diesen symbolträchtigen Angriff vorträgt, dann verbirgt sich dahinter wahrscheinlich der Wille die Ausdrucks- und Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiter zu testen / zu revidieren.“

Die Reform der Sonderregelungen ruft die Streiks in Erinnerung, die 1995 ganz Frankreich lahm legten. Existieren heute die Bedingungen für eine soziale Bewegung von solcher Breite?

„Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob es sich um ein neues `95 handelt oder nicht. Die Bedingungen sind anders, auch wenn in den letzten 12 Jahren viele Jugendliche bei der SNCF angefangen haben, die, weil sie wissen, um was es geht, sehr mobilisierungsfähig sind und sein werden. Eine Aktion wie die heutige organisiert man nicht nur weil es einem persönlich gefällt, sondern weil es nötig ist auf die Schläge zu reagieren, wenn es sich um harte Schläge handelt und die auf dem sozialen Terrain in Frankreich vorgetragenen Angriffe sind seit der Wahl Sarkozys sehr hart. Wir werden unsere Rolle als gewerkschaftliche Organisation in vollem Umfang spielen und die sozialen Bedingungen sowie die erworbenen sozialen Rechte der Arbeiter verteidigen.“

Wie werdet Ihr in der Mobilisierung fortfahren?

„Was uns anbelangt, haben wir, zusammen mit anderen Organisationen, für heute eine 24stündige Aktion vorgeschlagen, um die Dinge nicht zu überstürzen und um die Eisenbahner und die Beschäftigten im Nahverkehr nicht zu isolieren. Morgen werden wir das Kräfteverhältnis einschätzen, das wir herstellen konnten und dann werden wir, im Einklang mit den anderen Organisationen, in der kommenden Woche darüber entscheiden, was auf die Aktion folgt und über die geeignetste Form.“

Einige haben bereits für morgen einen weiteren Streik angekündigt…

„Bei der SNCF gibt es sieben gewerkschaftliche Organisationen und wir haben nicht alle denselben Ansatz. Wir, was uns anbelangt, sind davon überzeugt, dass man weitermachen und die Bewegung, gemeinsam mit den französischen Arbeitern ausweiten muss. Wir sind eine verantwortungsbewusste Gewerkschaft und wollen die Arbeiter nicht gegen eine Mauer laufen lassen.“

Welche Rolle spielt die politische Opposition in dieser Auseinandersetzung?

„Das politische Panorama Frankreichs ist heute ziemlich durcheinander gewirbelt. Wir spielen unsere Rolle als gewerkschaftliche Organisation, indem wir die Interessen der Lohnabhängigen verteidigen und dann hat jeder seinen Teil der Verantwortung zu tragen.“

Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern vom Gewerkschaftsforum Hannover

Kontakt: gewerkschaftsforum-H@web.de


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