letzte Änderung am 11. Juni 2003

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Frankreich:

Soziale Bewegung im Landeanflug auf die Niederlage ?

 

Kleiner Demobericht

Sie kamen zu Pferd und mit gehörnten Gallierhelmen: die streikenden Archäologen. Auch sie nehmen derzeit am Ausstand vieler Berufsgruppen teil. Mit ihren historischen Kostümen und beritten, stellten sie die Publikumsattraktion der Pariser Demonstration dar.

Damit wollen sie einerseits gegen die antisoziale so genannte Reform der Rentensysteme protestieren, die derzeit viele Protestierende umtreibt. Daneben haben sie aber, wie andere Berufsgruppen auch, eigene Anliegen.

Unter dem Druck der Industrielobby werden derzeit die Bauvorschriften gelockert, die bisher eine Rücksichtnahme auf mögliche historische Fundstätten vorschrieb. Gleichzeitig werden die Archäologen Opfer der allgemeinen Sparpolitik im öffentlichen Dienst ­ 800 von ihnen wurden jüngst entlassen. Ein Beispiel unter vielen für das, was die "Austerität" bedeutet, die Frankreichs Regierung unter Jean-Pierre Raffarin für den Herbst 2003 zum offiziellen Programm erhoben hat.

"Oh Raffarin, wenn Du wüsstest, wo wir uns Deine Reform hinstecken. In den, in den ... Ah, kein Zögern und kein Zaudern ­ weg mit dem Reformentwurf!" Auf Französisch, zu einer Melodie vom Altrocker Johnny Halliday, klingt das noch viel besser. Mit solchen und anderen Slogans thematisieren Busfahrerinnen, Krankenhausangestellte, Lehrer und Postbedienstete ihre Ablehnung einer Rentenpolitik, aufgrund derer sie künftig gleichzeitig länger Beitrag zahlen und hinterher weniger aus der Kasse erhalten sollen. "No raffaran", meint oder hofft der linke Flügel der Lehrergewerkschaft FSU ­ Ecole émancipée (Emanzipierte Schule) ­ zu den Plänen des Premierministers.

Hinterher sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, auf dem tausende Papierleichen liegen blieben. In den letzten 20 Jahren bildeten stets die grünen Wagen der Pariser Straßenreinigung die letzte Reihe in allen größeren Demonstrationen, die in der französischen Hauptstadt stattfanden. Da es nicht in der lokalen Tradition ist, sich Kundgebungsreden anzuhören, dagegen in Protestzügen um so mehr papierene Stellungnahmen verbreitet werden, sollen so die Hinterlassenschaften in Grenzen gehalten werden.

Doch seit über einer Woche streiken die Straßenreiniger in Paris, aber auch anderen Städten wie Marseille oder Brest ­ es geht um einige Facetten der Sparpolitik im öffentlichen Dienst und um Lohnforderungen. Entsprechend beeindruckend fielen die Hinterlassenschaften des Protestzugs aus, der sich am Dienstag nachmittag (10. Juni) von der Bastille aus in Richtung Nationalversammlung in Bewegung setzte.

45.000 bis 50.000 Leute demonstrierten nach eigenen Beobachtungen des Autors dieser Zeilen (nach dem Prinzip "Straßenbreite multipliziert mit der Zahl der Reihen pro Minute und der Dauer, die der Zug zum Vorbeiziehen braucht") am Dienstag in Paris. Das sind etwas weniger als vor einer Woche, am 3. Juni (damals waren es 50.000 bis 60.000), aber für den sechsten größeren Demozug innerhalb weniger  Wochen und an einem Werktag Nachmittag kann das dennoch als voller Erfolg gelten.

Auch der Privatsektor war mit einigen "harten Kernen" vertreten, namentlich die Automobilfirmen Renault und Peugeot-Citroën, der Versicherungskonzern AXA, einige Firmen der Metallindustrie wie der Flugzeugbauer SNECMA sowie der Chemiemulti Aventis. Circa (50 bis) 60 Prozent der Demonstration allerdings stellten die LehrerInnen. Denen hat die Regierung jetzt am Dienstag ein erstes wichtiges Zugeständnis gemacht (um die Renten"reform" zugleich für unantastbar zu erklären): Die "Dezentralisierung" von Angestellten des Bildungswesens wird nicht die OrientierungsberaterInnen, MedizinerInnen und Psychologen betreffen, sondern "nur" das technische Personal (Hausmeister, Wartungsarbeiter). Besonders im Bezug auf die Orientierungsberatung hatte es als besonders brisant gegolten, das Risiko ihrer Unterordnung unter wirtschaftliche Imperative zu schaffen. (Dies aufgrund der stark unterschiedlichen Finanzkraft der französischen Regionen sowie der engen Zusammenarbeit zwischen Regionen und Handelskammern, da die Regionen in Frankreich für Wirtschaftsförderung zuständig sind.) Ob das am Donnerstag frankreichweit beginnende Abitur unter halbwegs normalen Bedingungen stattfinden kann oder aber sein Ablauf gefährdet ist, wird sich herausstellen müssen. Die Lehrergewerkschaften, die nach den Zugeständnissen am Dienstag abend von einem "ersten bedeutenden Schritt" nach vorn sprachen, rufen für den Donnerstag "zum Streiken, aber nicht zur Behinderung der Abiturprüfungen" auf.

Frankreichweit waren es zwischen 450.000 und 600.000, die demonstrierten. Das liegt ebenfalls knapp unter der Zahl vom 3. Juni. Insgesamt kann man von Stagnation auf immer noch (zum Glück) relativ hohem Mobilisierungsniveau sprechen.

Dabei wird der Zahlenstreit zwischen Gewerkschaften und Polizei immer skuriler, da zwischen den beiden Angaben mittlerweile ein Abstand von oftmals 1 zu 10 klafft (gewöhnlich beträgt der Abstand zwischen den jeweiligen Zahlenangaben höchstens 1 zu 2) . Dabei muss allerdings gesagt werden, dass die Zahlen der CGT mittlerweile rein propagandistische Fantasieangaben darstellen, die mit keinerlei seriöser Zählung übereinstimmen können. (Die CGT spricht von jeweils 200.000 Demonstranten in Paris und Marseille, was - jedenfalls auf Paris bezogen - unmöglich zutrifft, auch wenn die Demo vier Stunden benötigte, um vorbeizuziehen. Die Straßenbreite war relativ gering ­ circa 10 Demonstranten pro Reihe -, und während der ersten drei Viertelstunden kam der Zug aufgrund der engen Straßen nur sehr stockend voran. Für Marseille behauptet die CGT 200.000 und die Polizei 15.000 Demonstranten, ein Rekord im Auseinanderklaffen der jeweiligen Angaben...)

Es erscheint, als überspiele die CGT-Führung im Moment durch diese verbale bzw. arithmetische Kraftmeierei das reale Scheitern des (Transport-)Streiks, für welches der CGT-Apparat eine gewisse Verantwortung trägt mit seiner Salamitaktik. ("Salamitaktik" im Sinne einer "kontrollierten Eskalation": bloß keinen Generalstreik am 13./14. Mai, nach dem ersten schnellen Hochkochen der sozialen Bewegung - dafür aber dann ein Haufen isolierter Aktionstage ohne Folgen im Abstand von je 10 Tagen.)

Im Anschluss an die Pariser Demonstration kam es zu Tränengas- und Wasserwerfereinsätzen, nachdem Gruppen von einigen hundert Personen (darunter Anarchosyndikalisten, aber auch ältere Gewerkschafter, Prekäre und anscheinend auch Lehrer) versucht hatten, die Absperrung zum Parlamentsgebäude symbolisch zu überwinden. Letzteres lag gegenüber der Place de la Concorde auf dem anderen Seine-Ufer, von der ankommenden Demo getrennt durch eine Brücke, die abgesperrt war. Der ­ höflich ausgedrückt ­ weit überzogene Einsatz staatlicher Gewalt stellte wohl einen Autoritätsbeweis der Regierung dar, in der Innenminister Nicolas Sarkozy derzeit die erste Geige spielt. Ist es doch Sarkozy ­ weit mehr als der lächerlich wirkende Bildungsminister Luc Ferry, der ohnehin auf einem längst angesägten Ast sitzt -, der mit den Lehrergewerkschaften verhandelt. Ein Innenminister als oberster politischer Verantwortlicher für das Bildungswesen: Das ist auch ein Symbol, das im übrigen voll zur Logik dieser Regierung passt.

 

Beginn der Parlamentsdebatte zur "Reform"

Am Dienstag dieser Woche ­ parallel zur nachmittäglichen Demonstration - begann die Debatte in der französischen Nationalversammlung über den Gesetzentwurf zur Rentenreform, den der neogaullistische Arbeits- und Sozialminister François Fillon einbrachte. Der Reformentwurf sieht unter anderem die Verlängerung der obligatorischen Beitragszeiten zur Rentenkasse um bis zu viereinhalb Jahre (von derzeit 37,5 Jahren für die öffentlich Bediensteten und 40 Jahren für die Lohnabhängigen des Privatsektors, auf 41 Jahre ab 2008 und später 42 Jahre für alle ab 2020) und, parallel dazu, eine Absenkung der Pensionshöhe vor. Die so genannte Reform der Rentenkassen wird dabei finanziell zu 91 Prozent von den Lohnabhängigen und zu 9 Prozent von der öffentlichen Hand getragen, während an die Arbeitgeberbeiträge und die zahlreichen Beitragssenkungen für Unternehmen nicht gerührt werden soll.

Bereits am 20. Juli sollen die drei parlamentarischen Lesungen in beiden Kammern (Nationalversammlung und Senat) abgeschlossen sein ­ damit das Kabinett die Wirkung der Sommerpause voll ausnutzen kann. Zugleich hat die konservative Regierung klargestellt, dass sie keinen Rückzieher machen und auch keine größeren Änderungen am Text akzeptieren wird. Denn ansonsten stehe ihre Glaubwürdigkeit, "Reformen" im neoliberalen Sinne umzusetzen zu können, generell auf dem Spiel ­ weshalb sie die Durchsetzung der aktuellen Gesetzesvorlage zum Exempel machen will.

Daher hat Premierminister Jean-Pierre Raffarin zur Eröffnung der Parlamentsdebatte am Dienstag auch verkündet, notfalls würden die Abgeordneten der regierenden Rechten eben auch den gesamten Sommer im Sitzungssaal verbringen, um die Gesetzesvorlage durchzubringen. Die erste Lesung in der Nationalversammlung war ursprünglich bis zum 19. Juni angesetzt, doch wird sie vermutlich länger dauern. Die parlamentarischen Oppositionsparteien, vor allem die KP (und in deutlich geringerem Maße auch die Sozialdemokratie), haben zusammen rund 8.500 parlamentarische Änderungsanträge zu dem Gesetzentwurf eingebracht. Doch die Mehrheitsverhältnisse in beiden Parlamentskammern sind eindeutig ­ dank des Mehrheitswahlrechts verfügt die konservativ-liberale Rechte bspw. über mehr als 60 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung. Währenddessen hatten real bei den Parlamentswahlen im Juni 2002 nur knapp über 29 Prozent der Wahlbevölkerung für sie gestimmt (bei einer Wahlenthaltung von knapp 40 Prozent).

Aus Protest gegen die parlamentarische Dampfwalze stimmte die gut 20-köpfige Parlamentsfraktion der KP am frühen Dienstag abend kurz die "Internationale" an, die aber alsbald durch die "Marseillaise" übertönt wurde ­ sowohl die Abgeordneten der Rechten als auch einige Sozialdemokraten sangen gemeinsam die Nationalhymne. Ein nettes Symbol, aber mehr auch nicht - vor allem sollte es nicht über den realen Zustand der französischen KP heute hinwegtäuschen, die von 1997 bis 2002 eine sehr brave und angepasste Regierungspartei abgegeben hat. (Aber besser als PDS-Abgeordnete das "Deutschlandlied" anstimmen zu hören, ist das Symbol allemal.)

 

Die Agenda für "Reformen" oder: Der Horrorkatalog

Dass die Regierung jetzt die Kraftprobe sucht und die Renten"reform" auf Biegen und Brechen durchdrücken will, hat seine Logik. Denn die Agenda für so genannte Reformen ist unterdessen reichlich bestückt.  

Bereits anlässlich einer Kabinettssitzung am 6. August will sie ­ mitten im Sommerloch ­ die Privatisierung der Strom- und Gasversorgungsunternehmen EDF-GDF in die Wege leiten. Deren Nationalisierung 1945 war eine Frucht der unmittelbar auf die Befreiung vom Faschismus folgenden sozialen Umwälzungen gewesen. EDF und GDF bilden daher ein wichtiges Symbol für die ­ in ihrer mehrheits-gewerkschaftlichen Form (jene der CGT bei EDF) freilich längst bürokratisierte, und sehr eng mit dem EDF-Nuklearfilz verwobene ­ Arbeiterbewegung.

Und im September soll die öffentliche Krankenkasse "reformiert" werden. Was von ihr übrig bleiben wird, soll nur noch für "schwere Krankheiten" aufkommen. Wer Zahnersatz, Brillen oder Hörgeräte erstattet bekommen will, hat sich ­ so wird es derzeit explizit angekündigt ­ gefälligst privat zu versichern. Auch die Sécurité sociale, das noch bestehende Sozialversicherungssystem, bildete eine der Errungenschaften der Befreiungsära.

Die sozialen Gegenreaktionen sind bisher nicht auf der Höhe der Herausforderungen. Denn bleibt das Mobilisierungsniveau bei Demonstranten hoch, so sind die Streiks bisher nicht von flächendeckendem Erfolg geprägt.

 

Bei den streikenden Eisenbahnern

Normalerweise stellt bei größeren sozialen Konflikten in Frankreich die Arbeitsniederlegung im Transportsektor eine Art von Initialzündung dar, da sie alle gesellschaftlichen Sektoren trifft und den wirtschaftlichen Alltagstrott unterbricht. Zwar begann am 2. Juni der Ausstand in den Transportbetrieben: bei der Bahngesellschaft SNCF sowie den örtlichen Verkehrsbetrieben in 50 französischen Städten. Doch er bleibt bisher selbst von starken Ungleichheiten in der Mobilisierung geprägt.

Am Dienstag morgen um halb neun, im Bahndepot Ourcq am nordöstlichen Stadtrand von Paris ist die Stimmung noch gut. In der Weichensteller-Station sind sämtliche 30 Beschäftigten im Ausstand, die meisten sind auch zur Vollversammlung erschienen. Bei deren Eröffnung wird festgestellt, dass insgesamt 40 Prozent der über 300 Mitarbeiter des Eisenbahnerdepots die Arbeit nicht aufgenommen hatten. "Aber einige gewerkschaftliche Vertrauensmänner sind bei der Arbeit, auch solche von der CGT", kritisiert Sébastien von der linken Basisgewerkschaft SUD Eisenbahn (SUD Rail).

Aber zwei Stunden später am Pariser Ostbahnhof sehen die Dinge anders aus. 34 Beschäftigte sind zur Vollversammlung in der Gare de lšEst ­ in einer Pakethalle gegenüber vom Abfahrtgleis Nummer 20 ­ erschienen. 800 könnten theoretisch an ihr teilnehmen. Hier sind nur die Weichensteller und die SchalterbeamtInnen zusammengekommen, denn die Lokomotivführer sowie die Fahrkartenkontrolleure haben ihre eigenen Versammlungen. "Die Gewerkschaftsapparate wollen nicht, dass gemischte Versammlungen abgehalten werden, da sie kleinere und getrennte Versammlungen leichter kontrollieren können", meint der Versammlungsredner Basile, der selbst Weichensteller ist. "Letzte Woche (beim Streiktag am 3. Juni) konnte ich eine gemischte Vollversammlung in der Gare de l`Est mit 150 Teilnehmern durchsetzen", aber inzwischen sei die Dynamik weg und die Luft eher draußen.

"Zwei Dinge", analysiert Basile (Mitglied bei SUD Rail) im Anschluss, "sind gleichermaßen verantwortlich für die wahrscheinliche Niederlage dieser Mobilisierung".

Zum Einen sei, und darin stimmen alle anderen Anwesenden mit ihm überein, "Mitte Mai die wesentliche Chance verschenkt worden". Damals, im Anschluss an den ­ in dem Ausmaß unerwarteten ­ Erfolg der Demonstrationen vom 13. Mai, traten Bahn-, Bus- und Métro-Beschäftigte in den spontanen Ausstand. Doch sie waren durch die Gewerkschaften zurückgepfiffen worden, vor allem durch die CGT, die bis in die Neunziger Jahre als KP-nahe galt, aber heute vor allem als vernünftigte Verhandlungspartnerin ernst genommen werden will. Die CGT half den Ausstand abzuwürgen, und predigte stattdessen eine "kontrollierte Eskalation" mit einem Aktionskalender von gestaffelten Aktions- und Streiktagen: am 25. Mai, am 3. Juni, am 10. Juni - "Die Beschäftigten verstehen nichts mehr in der Abfolge der auseinander gerissenen Aktionstage, sie fühlen sich manipuliert und ziehen sich zurück", meint Basile.

Zum anderen habe aber auch die Regierung seitdem Zeit gefunden, auf die Krise zu reagieren. In den Tagen vor dem 2. Juni habe sie den Transportbeschäftigten schriftlich garantiert, dass ihre Renten nicht von der aktuellen "Reform" betroffen seien ­ denn sie verfügen über eigene Rentenkassen, die vom aktuellen Gesetzentwurf ausgeklammert bleiben.

Das bleibe nicht von langer Wirkung, befürchtet René, ein alter Eisenbahner: "In den Bestimmungen zu den Sonder-Rentenkassen gibt es einen Passus, wonach ein öffentlicher Dienst sein spezifisches Rentenregime verliert, wenn er weniger als 150.000 Beschäfigte hat. Die Eisenbahner sind heute 170.000. Es genügt, dass die Regierung morgen einigen älteren Beschäftigten eine attraktive Vorruhestandsregelung vorschlägt ­ und die Garantie von heute löst sich in Schall und Rauch auf!"  Er hält es für wahrscheinlich, dass im Jahr 2004 oder 2005 auf solche Weise eine größere Zahl von älteren Mitarbeitern ­ unter durchaus attraktiven Bedingungen ­ verabschiedet wird, und dass jüngere Beschäftigte mit privatrechtlichem Vertrag eingestellt würden. Ähnlich wie bei der Post, wo fast nur die längerjährigen Beschäftigten noch das Statut als öffentlich Bedienstete haben, während die Jüngeren einen (unbefristeten, aber privatrechtlichen) Vertrag nach dem Beschäftigungmodell "Sesam" haben. Wenn aufgrund dieser Vertragskonstruktion eine gewisse Anzahl von Jüngeren in Lohn und Brot gebracht werden kann, dann wird sich das in der Öffentlichkeit legitimieren lassen. Zugleich wird dadurch, so René, in einigen Jahren die Anzahl der öffentlich Bediensteten bei der Bahn definitiv unter die 150.000-Schwelle gedrückt werden. Mit dem besonderen Rentenstatut (das es den meisten Eisenbahnern erlaubt, mit 55 Jahren zu gehen, den Lokomitivführern aus historischen Gründen gar mit 50) wäre es dann definitiv vorbei.

Deswegen widersetzt sich ein harter Kern auch bei den Eisenbahnern heute der Renten"reform". Aber das Problem ist da: Der Transportstreik hat nur halbe Wirkung ­ er trifft vor allem die Lohnabhängigen, die eben länger für den Weg zur Arbeit benötigen, aber kaum die dominierenden ökonomischen Interessen. Denn der wirtschaftliche Alltagsbetrieb läuft weiter, mit etwas reduziertem Bus- und Zugverkehr. Auf mittlere Frist hin droht er damit aber die umgekehrte als die beabsichtigte Wirkung hervorzurufen: Viele Nutzer der Transportmittel, die oft selbst unter prekären Bedingungen arbeiten, proklamieren schon heute ihr "Ras le bol" (Schnauze voll). Wie die Demonstranten. Nur richtet es sich in ihrem Fall, mit zunehmender Tendenz, gegen die "lästigen Streiks". Bisher erklären in Umfragen 63 bis 65 Prozent ihre "Solidarität" oder "Unterstützung" für die soziale Bewegung gegen die Rentenreform. Zugleich meinen einer jüngsten Umfrage der Agentur Publicis für die Regierung (freilich dürfte der Auftraggeber eine gewisse Rolle bei der Orientierung des Gesamtergebnisses gespielt haben) zufolge, angeblich 45 Prozent, dass die aktiv Protestierenden "übertreiben". Das Umkippen eines Teils der öffentlichen Meinung ist daher zumindest gut möglich.

 

Radikalisierung der Proteste ?

Im Gegenzug scheint die Protestbewegung, die nicht mehr auf erfolgreiche Lähmung des Regierungsapparats hoffen kann, sich zu radikalisieren. Zahlreiche "Nadelstich"aktionen fanden gegen Ende der ersten Woche im Juni statt.

In Amiens besetzen streikende Lehrer und Eisenbahner zusammen die Bahngleise. In der Pariser Vorstadt Bagnolet besetzten Pädagogen ein Busdepot und diskutierten stundenlang mit den dort Arbeitenden. In der Nähe von Marseilles blockierten 600 Streikende aus verschiedenen Bereichen einen halben Tag lang den Industriehafen von Fos-sur-Mer.

Andernorts ging man ein wenig weiter: In 10 Städten wurden am Donnerstag, 5. Juni die regionalen Sitze des Arbeitgeberverbands MEDEF zum Zielort von Protesten. In Pau drangen 50 Personen, CGT-Basismitglieder und Anarchosyndikalisten, in das Gebäude ein und verarbeiteten einiges Mobiliar zu Kleinholz. Der MEDEF-Sitz in La Rochelle brannte weitgehend nieder, nachdem vor ihm entzündete Autoreifen ein außer Kontrolle geratenes Feuer entfachten - vom letztendlichen Ausmaß her ein Unfall, dessen Folgen zu beheben (d.h. zu löschen) sich die Einsatzkräfte nicht sonderlich beeeilt hatten. Der Arbeitgeberverband tobte und sprach öffentlich von "terroristischen Aktionen". Damit setzt er die Schwelle für den Begriff "Terrorismus" (der sich ja ursprünglich auf die Idee bezog, unter der Bevölkerung werde Schrecken verbreitet) bemerkenwert niedrig an, und bezieht den Begriff eindeutig auf Erscheinungsformen von Klassenkampf, die nun wirklich gar nichts mit dem Terrorisieren einer Bevölkerung zu tun haben.

In den kommenden Wochen aber wird sich erweisen müssen, ob es sich um einen spektakulären Showdown handelt, oder ob die Regierung noch zu sichtbaren Zugeständnissen gezwungen werden kann.

Bernhard Schmid, Paris

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