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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Das (keine Angst: nur vorläufige!) Ende der Bolkestein-Richtlinie: Eine Schmierenkomödie, inszeniert zur Rettung des armen Chirac Superheld Jacques Chirac setzt sich in Szene: Einmal mehr hat Frankreichs Staatspräsident in der vorigen Wochen einen jener politischen Pseudokonflikte inszeniert, auf die er sich versteht und bei denen er sein ramponiertes Image aufpolieren kann. "Chirac will Brüssel zum Nachgeben zwingen" titelt etwa der konservative Figaro vom vorigen Mittwoch martialisch. Schlägt man die Zeitung aber auf, so heißt die Artikelüberschrift im Blattinneren nur noch, einen Tonfall leiser: "Chirac kann sein Gesicht wahren". Am selben Tag tönte der Staatschef in Brüssel programmgemäß, die umstrittene Dienstleistungs-Richtlinie der EU sei "für Frankreich wie für andere europäische Partner unakzeptabel"., Zu dem Zeitpunkt war es längst eine ausgemachte Sache: Der Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel würde eine "Überarbeitung" der Richtlinie beschließen, die den Namen des niederländischen ehemaligen EU-Kommissars Frits Bolkestein trägt. Die Richtlinie sieht die Öffnung des Dienstleistungsbereichs für EU-weite freie Konkurrenz vor, wobei die Unternehmen auch in dem Land, wo sie auf ihre Dienste anbieten (also etwa Frankreich oder Schweden) ihre Mitarbeiter nach den Bedingungen ihres Firmensitzes (also etwa Polen oder Lettland) beschäftigen können sollen. Nunmehr soll der umstrittene Text bis im September 05 "überarbeitet" werden. Das hatte die EU-Kommission freilich bereits im Januar entschieden, als die Kritik an dem mit der Richtlinie verbundenen Sozialdumping immer lauter geworden war. Der Rest der Inszenierung vom vergangenen Mittwoch war Theaterdonner und sollte ansonsten die französischen Wähler dazu animieren, hinter "ihrem" Präsidenten die Reihen zu schließen und ihm den Rücken zu stärken. Dafür durfte Chirac in der einheimischen konservativen Presse auch mal wie ein Löwe brüllen. "So verteidigt Chirac Frankreich", verkündete am letzten Donnerstag die Boulevardzeitung France Soir von den Kioskwänden herunter. Deshalb durfte auch noch ein weiteres Feuerchen entfacht werden: Chirac zoffte sich beim Gipfel mit dem britischen Premier Tony Blair über den Nachlass, der London einst unter Miss Thatcher bei den Beiträgen zum EU-Haushalt gewährt worden war. Das sorgt kurzfristig für etwas patriotische Stimmung auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Auch in Brüssel war man besorgt darüber, dass die von Chiracs Amtsvorgänger Valéry Giscard d¹Estaing niedergeschriebene "Verfassung" der EU beim bevorstehenden Referendum in Ungnade fallen könnte, und ließ Chirac deswegen seinen angeblichen "Sieg" auskosten. Das französische Wahlvolk stimmt am 29. Mai über den Verfassungsvertrag ab, und seit dem vorletzten Wochenende steht erstmals das Nein in Führung. Am vorigen Samstag erreichte es sogar den Pegelstand von 55 Prozent, die Befragung war aber bereits zur Wochenmitte durchgeführt worden. Die Ablehnung hat unterschiedliche Gründe, da es sowohl auf der Linken wie auf der politischen Rechten je einen Block von Verfassungsgegnern gibt, die sich auch nicht vermischen und keine gemeinsamen Veranstaltungen betreiben. Rechts oder rechtsaußen schürt man hauptsächlich Ressentiments gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Obwohl diese Frage in Wahrheit gar nicht zur Abstimmung steht, hat sie soviel politische Sprengkraft entwickelt, dass auch die konservative Regierungspartei UMP in ihren Aufrufen das Ja zur EU-Verfassung explizit mit dem Nein zum türkischen Beitritt verknüpft. Links von der (Mehrheits-)Sozialdemokratie dagegen betont man, dass man für einen Beitritt der Türkei sei, wenn diese denn in die EU wolle - aber das wirtschaftliche und soziale Modell ablehne, das durch die Verfassung vorgezeichnet wird. Ähnlich liegen die Motive für die Kritik an der Bolkestein-Richtlinie: Kritik am Sozialdumping welche die Regierung nun aus taktischen Gründen aufgegriffen hat - auf der einen Seite, allgemeiner Wille zur "Bevorzugung französischer Arbeitskräfte" bei den Rechtsextremen auf der anderen Seite. Zu einfach macht es sich jedoch der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein, der schlichtweg behauptete, die Franzosen lehnten "nur meines germanischen Namens wegen" seine Richtlinie "aus Fremdenfeindlichkeit" ab. Das gehört eher in die Rubrik: Propaganda für Dumme. Niemand unter den Verfassungskritikern glaubt, dass das Projekt des Sozialdumpings mit der jetzt beschlossenen "Überarbeitung" der Richtlinie beerdigt sei. Diese wird nunmehr im September wieder ausgegraben, wenn zumindest in Frankreich keine Gefahr für die EU-Verfassung mehr in der Luft liegt. Angekündigt ist, dass lediglich bestimmte Bereiche namentlich der Gesundheitssektor aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausfallen werden, diese selbst aber könnte in ihrem Kern unverändert bleiben. Chirac versuchte diesen bloßen Aufschub in den letzten Tagen zu überspielen: "Eine völlige Überarbeitung ist für mich mit einem Rückzug identisch", behauptete er, sich naiv stellend. Paris, Brüssel, WTO Als die Bolkestein-Richtlinie in ihrer ursprünglichen Fassung im Januar 2004 von der EU-Kommission angenommen wurde, waren zwei französische Vertreter anwesend: der jetzige Außenminister Michel Barnier und der "Sozialist" Pascal Lamy. Keinen der beiden beunruhigte der zentrale Inhalt der Richtlinie im geringsten, das Büro Michel Barniers hatte sich im Vorfeld lediglich über die Zukunft des Glückspielsektors besorgt gezeigt. Aber wie hätte das Risiko von Sozialdumping Pascal Lamy auch stören sollen? Hauptberuflich war der Mann damals Außenhandelskomissar der EU und verhandelte im Namen der Union bei der Welthandelsorganistion WTO über ganz ähnliche Vorhaben. Die Idee, Arbeitsimmigranten in Europa unter sozialrechtlichen Bedingungen wie in ihren Herkunftsländern zu beschäftigen, wird dort im Rahmen der Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte unter der Kennnummer "Modus 4" verhandelt. Im Mai dieses Jahres wird Lamy als europäischer Kandidat für den Posten des Generaldirektors der WTO antreten. Möglicherweise wird man noch von ihm hören. Das Ende vom Lied Während des "Nein" nunmehr bereits in der fünften Umfrage in Folge in Führung liegt (die Ablehnungswerte schwanken zwischen 51 und 55 Prozent derer, die sich bezüglich ihres Stimmverhaltens schon entschieden haben), hat das Lager der Befürworter des Verfassungsvertrags jetzt eine neue "Geheimwaffe" in Stellung gebracht. Nein, nicht der gemeinsame Auftritt von "Sozialisten"-Chef François Hollande mit dem Shooting Star der konservativen Rechten (und ärgsten Chirac-Rivalen) Nicolas Sarkozy ist gemeint. Das hatten wir längst schon: Die beiden posierten vor 10 Tagen gemeinsam auf der Titelseite der Regenbogenzeitschrift "Paris Match", im identischen schwarzen Anzug. Das Ziel der Operation bestand freilich nicht nur darin, den Konsens eines Großteils der politischen Klasse zugunsten der EU-"Verfassung" zu unterstreichen - sondern auch darin, die beiden wahrscheinlichen wichtigsten Präsidentschaftskandidaten von 2007 auf die Startrampe zu befördern (sehr zum Missfallen Chiracs, der einen Wutanfall bekommen haben soll). Dieser Aufritt des Duos der Ja-Sager ist freilich für die "Verfassungs"-Befürworter gewaltig nach hinten losgegangen: Mittlerweile plakatiert ATTAC einen Nachdruck des Portraits der beiden Ja-Sager, versehen mit dem Kommentar: "Wir haben verstanden - Wir stimmen mit Nein, weil wir ein soziales und demokratisches Europa wollen". Der Publikumserfolg ist riesig, aber bei den französischen "Sozialisten" ist man schwer empört. Dort geht's aber ohnehin drunter und drüber, nachdem die Partei ja nun bis in ihre Führungsspitzen hinein schwer zerstritten ist. (Der ehemalige PS-Generalsekretär Henri Emmanueli war vor einigen Wochen sogar so weit gegangen, jene, die dem Verfassungsvertrag zustimmen wollen, mit jenen Sozialdemokraten zu vergleichen, die 1940 dem Ermächtigungsgesetz für Pétain zustimmten. Nicht sehr geschmackvoll und wohl auch nicht sehr hilfreich, der Vergleich. Aber er belegt, wie heftig derzeit bei Sozis die Fetzen fliegen.) Nun aber zur "Wunderwaffe" der Anhänger des Verfassungsvertrags, von der die Rede war. Sie lässt derzeit schwer erzittern. Allerdings nicht so sehr im Lager der Ablehnenden, sondern eher der Befürworter der "Verfassung" selbst... Es handelt sich um die Ankündigung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin, sich nunmehr verstärkt persönlich in der Referendums-Kampagne zu engagieren. Kurz vor dem Osterwochenende stelle Raff' in einem Interview klar: "Ich bin der Regierungschef, also bin ich auch Chef der Kampagne zur Erklärung (des Verfassungstexts)". Das lässt nunmehr aber sogar bei seinen eigenen Ministern schlimmste Befürchtungen wach werden, und selbst seine besten politischen "Freunde" beschwören ihn: "Bitte, tu's nicht, tu's nicht"... Angesichts der wirklich immensen "Popularität" des aktuellen Regierungschefs und seiner Politik in sozialen Belangen droht Raffarins Ankündigung nun bleischwer auf der Kampagne der Verfassungsbefürworter zu lasten. Artikel von Bernard Schmid vom 30. März 2005 |