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Updated: 18.12.2012 15:51
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Streik des ganzen Justizsektors

"Frankreich wählt an den kommenden beiden Sonntagen - 14. und 21. März - seine sämtlichen Regionalparlamente neu. Justiz und Rechtspolitik sind dabei eines der mit Abstand wichtigsten Themen, in Zusammenhang mit der jüngsten Offensive des konservativ-liberalen Regierungslagers zum Thema "Innere Sicherheit". Doch innerhalb der Justiz und unter den Angehörigen juristischer Berufe gärt es zur selben Zeit. Am Dienstag dieser Woche kam es zu einer Premiere: Erstmals mobilisierten Richter, Anwältinnen, Erzieher und Gefängniswärter gemeinsam zu einer Protestdemonstration gegen die Regierung - die Erzieher deswegen, weil ein Teil der Erzieher und Sozialarbeiter in Frankreich durch die Protection judicaire de la jeunesse (PJJ) angestellt wird, eine Einrichtung zum Jugendschutz sowie für die Betreuung schwer erziehbarer Jugendlicher, die dem Justizministerium untersteht" - so beginnt der aktuelle Bericht "JUSTIZ IM STREIK GEGEN UMSTRITTENE REFORM" von Bernard Schmid vom 12. März 2010.

JUSTIZ IM STREIK GEGEN UMSTRITTENE REFORM

Frankreich wählt an den kommenden beiden Sonntagen - 14. und 21. März - seine sämtlichen Regionalparlamente neu. Justiz und Rechtspolitik sind dabei eines der mit Abstand wichtigsten Themen, in Zusammenhang mit der jüngsten Offensive des konservativ-liberalen Regierungslagers zum Thema "Innere Sicherheit". Doch innerhalb der Justiz und unter den Angehörigen juristischer Berufe gärt es zur selben Zeit. Am Dienstag dieser Woche kam es zu einer Premiere: Erstmals mobilisierten Richter, Anwältinnen, Erzieher und Gefängniswärter gemeinsam zu einer Protestdemonstration gegen die Regierung - die Erzieher deswegen, weil ein Teil der Erzieher und Sozialarbeiter in Frankreich durch die Protection judicaire de la jeunesse (PJJ) angestellt wird, eine Einrichtung zum Jugendschutz sowie für die Betreuung schwer erziehbarer Jugendlicher, die dem Justizministerium untersteht.

Allein in Paris demonstrierten, je nach Angaben (von Veranstaltern oder der Polizei), zwischen 2.000 und 5.000 Personen, viele unter ihnen in Anwalts- oder Richterroben. Vor dem Justizministerium wurden sie durch starke Polizeikräfte aufgehalten. In weiteren Städten wie Bordeaux und Marseille fanden ebenfalls relativ große Protestversammlungen statt.

Zuvor hatte an einem Samstag im Februar, am Institut des Etudes Politiques, einer auch unter ihrem Kurznamen Sciences Po bekannten Pariser Elitehochschule, eine ganztägige Tagung unter dem Titel "Unwohlsein in der Justiz" (Malaise dans la justice) stattgefunden (vgl. http://www.labandepassante.org/index_lbp.php). Dafür war ursprünglich ein Hörsaal an der Hochschule mit 550 Plätzen vorgesehen; doch kaum 48 Stunden, nachdem die - zur Teilnahme erforderliche - Einschreibung im Internet Ende Januar eröffnet worden war, platzte die Teilnehmerliste aus allen Nähten. Hunderte von Personen waren auf Wartelisten eingeschrieben. Daraufhin konnte ein zweiter Hörsaal für die Tagung geöffnet werden, in welchen die Debatten per Videokonferenz übertragen wurden. 880 Personen konnten nun teilnehmen. Doch auch nach der Bekanntgabe dieser Erweiterung der Räumlichkeiten, Anfang Februar, standen binnen kürzester Zeit zu zahlreiche Interessenten zu wenigen Plätzen gegenüber. Trotz widrigster Bedingungen - Essen im Stehen, geschlossener Kantine, langen Warteschlangen vor Toiletten und Kaffeeautomaten - harrten Hunderte von Teilnehmern den ganzen Tag über aus. Kritische Juristen, hauptberufliche Anwälte und Richterinnen, Mitglieder aus Bürgerrechtsinitiativen und interessierte Bürger mischten sich. Der Diskussionsbedarf zu Themen der Justizpolitik ist offenbar riesig.

Worum geht es ?

Aber warum ballt sich so viel Unzufriedenheit im Juristen- und juristisch interessierten Milieu gegen die Regierungspolitik zusammen? Den Anstoß zur Protestmobilisierung gaben die jüngsten gesetzgeberischen Initiativen der französischen Regierung. Diese hat, während die anstehenden Regionalparlamentswahlen näher rückten, einige Wochen lang justiz- und innenpolitische Themen ins Zentrum gerückt, um sich als Wahrer der "Inneren Sicherheit" zu profilieren. So wurde ein "Orientierungs- und Programmgesetz zur Inneren Sicherheit", das seit einem Jahr in den Schubladen lag und höchst umstrittene Bestimmungen enthält (vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32062/1.html ), am 16. Februar in Windeseile in erster Lesung verabschiedet. Ähnliches gilt für das "Anti-Banden-Gesetz", das vor einem Jahr aufgelegt wurde, aber am 11. Februar dieses Jahres plötzlich verabschiedet wurde. Es schafft ein Delikt der "Bandenmitgliedschaft", das eine Verurteilung ohne nachweisbare persönliche Begehung einer Straftat erlaubt, vor dem Hintergrund der - schwer konkret zu fassenden - Zugehörigkeit zu Jugendbandenstrukturen, die oft nicht stabil und dauerhaft auslegt sind. Eine Zusatzbestimmung, welche die Verwertung der Aufnahmen von Überwachungskameras innerhalb von Privathäusern durch die Polizei erlaubte, wurde Ende Februar vorläufig durch die Verfassungsrichter kassiert. (Vgl. http://www.lemonde.fr/societe/article/2010/02/25/les-sages-valident-l-essentiel-du-texte-sur-la-violence-en-bandes_1311482_3224.html )

Aber während die Regierung in jüngster Zeit mit frenetischem Eifer neue Aufgaben für Justiz und Polizei definierte, nimmt sie mit der anderen Hand der Justiz Mittel und Befugnisse wieder fort. Nicht nur, dass ein europäischer Untersuchungsbericht 2008 zum Schluss kam, dass dem Justizwesen in Frankreich pro Kopf der Bevölkerung 53 Euro zur Verfügung stehen, gegenüber 106 in Deutschland und 99 in Großbritannien - während es gleichzeitig auch in Frankreich eine ausgeprägte Tendenz zu härteren Strafen und schnellerem Wegsperren gibt. (Vgl. http://www.liberation.fr/societe/0101623397-la-justice-refuse-de-passer-a-la-casse ) Auch die Schließung von Gerichten zu Sparzwecken - rund 300 Gerichtssitze werden nach einem Plan von 2008 gestrichen, unter ihnen über 60 Arbeitsgerichte (Conseils de prud'hommes), und seit vergangener Woche gibt es erstmals eine französische Bezirkshauptstadt ohne eigenes Gericht für das Département - trägt zur Erbitterung der Kritiker bei. Während die Strafjustiz besonders für sozial marginalisierte Straftäter immer repressiver wird, entfernt dies zugleich die Justiz von den "einfachen Bürger/inne/n", wenn diese sie in ihrem eigenen Interesse anzurufen wünschen würden. Beispielsweise in Arbeitsgerichtsverfahren (98 % der Verfahren werden durch Lohnabhängige angestrengt, nur eine kleine Minderheit durch Arbeitgeber).

Besonders erregt sind die Kritiker/innen über zwei jüngst durch die Regierung in Angriff genommene Reformen : die Abschaffung des Untersuchungsrichters, und die Überarbeitung der Gesetzgebung zu Finanzdelikten.

Wo liegt das Problem ?

In Frankreich existierte bislang ein doppeltes Strafverfolgungssystem. In den meisten Fällen ist für die Strafaufklärung und -verfolgung die Staatsanwaltschaft (le parquet) zuständig, die sich auf die Polizei als ihren verlängerten Arm stützen kann. Doch für komplexe Strafverfahren, in denen umfangreiche Ermittlungen erforderlich sind - Durchsuchungen von Räumlichkeiten etwa öffentlicher Institutionen, Durchforsten von Firmenbilanzen, Anhörung unzähliger Zeugen - besteht daneben ein Untersuchungsrichter (juge d'instruction). Letzerem ist sein unabhängiger Status gesetzlich garantiert - im Unterschied zur Staatsanwaltschaft, die ausdrücklich an Weisungen aus dem Justizministerium gebunden ist. An und für sich ist dies auch nicht schockierend, da die Staatsanwälte vor Gericht eine Anklage im Namen des Staates und der Gesellschaft vortragen. Nur wirft diese Weisungsgebundenheit ein Problem auf, wenn es um "heikle" Verfahren geht, bei denen hochrangige Persönlichkeiten aus Politik oder Wirtschaft involviert sind. Ohne unabhängige Untersuchungsrichter hätte es beispielsweise keine Verfahren zur illegalen Parteienfinanzierung gegeben, wie sie besonders in den 80er Jahren aufbrachen und derzeit noch Altpräsident Jacques Chirac beunruhigen.

Auch die "ELF-Affäre" (vgl. http://fr.wikipedia.org/wiki/Affaire_Elf ) hätte es ohne die Hartnäckigkeit von Untersuchungsrichterinnen wie Eva Joly (inzwischen a.D. und, seit Juni 2009, Europaparlamentarierin der Grünen) und Laurence Vichnievsky nicht gegeben. ELF Aquitaine ist eine Erdöl- und frühere französische Staatsfirma, die ab 1999/2000 durch Aufkauf im Megakonzern TOTAL aufgegangen ist. ELF früher ebenso wie TOTAL heute ist dafür berüchtigt, in Staaten besonders des französischsprachigen Afrika - früheren Kolonien wie Kamerun und Gabun - dubiose Geschäftspraktiken zu führen. Den jeweiligen, autokratische Staaten wird das Erdöl in zu geringen Mengen und unterhalb der geltenden Weltmarktpreise verrechnet. Dies schadet den jeweiligen Ländern und ihren Staatshaushalten - nutzt aber diktatorischen Regimes, weil diese unterwegs geschmiert werden, also dicke "Kommissionen" erhalten. Im Falle der Erdölrepublik Gabun floss ein Teil dieser Kommissionen jedoch nach Frankreich zurück, weil die dortige Diktatur und französische Staats- und Regierungskreise dabei halbe-halbe machten: Die Filiale ELF-Gabun spielte Jahrzehnte lang eine wichtige Rolle bei der Finanzierung aller staatstragenden Parteien in Frankreich. 1996 brach die Affäre rund um 600 Millionen Franc illegal erworbener Gelder, die der damalige ELF-Direktor Loïc Le Floch Prigent in das Unternehmen eines Freundes gesteckt hatte, aus. Sie führte im Jahr 2003 zur Verurteilung hochrangiger Manager, aber auch Politiker wie Ex-Außenminister Roland Dumas. Zwar wurde nicht die französische Staatskriminalität in Afrika verurteilt, sondern "nur" die massive Steuerhinterziehung in Frankreich. Aber schon dies war Regierungskreisen zu viel, die versuchten, die Ermittlungen zu diesen und anderen Affären massiv zu bremsen. Und hätte es keine unabhängigen Untersuchungsrichterinnen gegeben, wäre diese Strafsache mit Bestimmtheit nie zur Anklage gekommen.

Doch nun soll das Amt des Untersuchungsrichters just verschwinden. Übernehmen soll seine Rolle die - weisungsgebundene - Staatsanwaltschaft. Die Regierung beruhigt, schon bislang seien nur 5 Prozent der Strafsachen von solchen Untersuchungsrichtern betreut worden, in 95 Prozent der Fälle habe die Staatsanwaltschaft ermittelt. Dies trifft zu, aber in den fünf Prozent geht es eben um die gesellschaftlich brisantesten Dossiers: Ein Mofadiebstahl dürfte nicht zu "Interessenkonflikten" auf politischer Ebene führen (es sei denn, das Opfer ist der Präsidentensohn Jean Sarkozy wie vor dreei Jahren, als wegen eines Mofadiebstahls ein DNA-Test angeordnet wurde). Bei einer interkontinentalen Korruptionsaffäre hingegen schon. Zudem, so die Regierung, werde es nunmehr einen speziellen "Richter für Ermittlungssachen und Grundrechte" (Juge de l'enquête et des libertés) geben, der die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit kontrolliert. Dies ist tatsächlich in der Reform vorgesehen. Doch wird er nur die Staatsanwaltschaft im Nachhinein kontrollieren, und kann laut den bestehenden Plänen nicht selbst initiativ werden. So kann er keine Ermittlungen aktiv anordnen; er wird aber die Staatsanwaltschaft dazu anweisen können, dort ein Strafverfahren aufzunehmen, wo bislang - gegebenenfalls auf Weisung von oben hin - untätig geblieben ist. Nur, man kann bekanntlich ein Pferd zur Tränke führen, aber nicht es dazu zwingen, auch zu trinken. Eine Akte öffnen und aktiv Ermittlungen betreiben, das sind zwei unterschiedliche Dinge.

Eine linksliberale Pariser Tageszeitung titelt deswegen beispielsweise zur geplanten Justizreform: "Eine Reform, um die Affären zu ersticken" und "Die Prozesse, die nicht mehr stattfinden werden". (Vgl. http://www.rfi.fr/contenu/20100310-une-grogne-monde-judiciaire und http://www.liberation.fr/societe/0101623624-ces-proces-qui-n-auront-plus-lieu )

Hinzu kommt ein zweiter wesentlicher Aspekt: Die Reform sieht ebenfalls vor, die Gesetzgebung zu Kapitaldelikten, im finanziellen Sinne - wie Korruption und "Missbrauch von Gesellschaftsvermögen" (Abus de biens sociaux) - zu überarbeiten. Bislang verjährten solche Straftaten drei Jahre nach ihrer Aufdeckung. Letztere konnte aber oftmals Jahre nach ihrer Verübung stattfinden, da es für Außenstehende schwer ist, delikthafte oder kriminelle Operationen (etwa Waffenschiebereien) in komplexen Firmen- und Konzernbilanzen oder Kapitalbewegungen quer über die Kontinente - von EU-Ländern bis zu Steuerparadiesen - nachzuweisen. Dafür sind oft jahrelange Ermittlungen, die häufig durch guten Zufälle zu verdankende Entdeckungen ausgelöst werden, erforderlich.

Was die Regierung nun im Namen der "Modernisierung" des Justizwesen sowie der "Rechtssicherheit für die Unternehmen" plant, ist, die Verjährungsregeln zu ändern. Zwar soll die Verjährungsfrist auf sechs Jahre angehoben werden; aber auf sechs Jahre nicht nach der Aufdeckung, sondern nach der materiellen Begehung der Straftat. Bei Finanzdelikten würde dies zahlreiche Ermittlungen schlicht verunmöglichen. Im vergangenen Jahr 2009 wurde etwa ein französischer Waffenhändler, Pierre Falcone, zu sechs Jahren Haft verurteilt, und ein französischer Ex-Innenminister (Charles Pasqua) erhielt in demselben Verfahren erstinstanzlich ein Jahr Haft ohne Bewährung. Dabei ging es um Waffenhandel mit einem afrikanischen Land, das sich zum Tatzeitpunkt im Bürgerkrieg befand, Angola, Bürgerkriegsschauplatz von 1975 bis Ende 2002. - Die fraglichen Handlungen waren im Jahr 1993 verübt worden. Aufgedeckt wurden sie im Dezember 2000. Hätte die aktuell geplante Reform damals schon gegriffen, so wäre dieses Strafverfahren nie möglich geworden.

Bernard Schmid, 12. März 2010


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