letzte Änderung am 10.05.2001

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»Un syndicalisme différent«

Werner Imhof zu den Sud-Gewerkschaften in Frankreich

 

Im Frühjahr 2000 und 2001 nahm ich zusammen mit mehreren gewerkschaftlich und politisch Interessierten an zwei einwöchigen Bildungsurlauben in Frankreich teil. In Gesprächen mit verschiedenen Sud-Gewerkschaften (Sud Education, Sud Rail, Sud Ptt, Sud Chimie), der Gewerkschaftsunion Groupe des 10 Solidaires, der Arbeitslosenbewegung AC!, den Sans papiers, der Bauern«gewerkschaft« Confédération paysanne und Vertretern der »extremen Linken« (gauche extrème) suchten wir uns ein Bild der aktuellen »sozialen Bewegungen« zu machen. In einem solchen Bild stechen natürlich besonders die Unterschiede zu den deutschen Verhältnissen hervor, weniger die Gemeinsamkeiten, obwohl sie unübersehbar sind. Wenn die häufigste Losung der 1.-Mai-Demonstration in Paris die der CGT nach »Vollbeschäftigung« ist, fühlt man sich (fast) in eine DGB-Kundgebung mit der Forderung nach »Arbeit, Arbeit, Arbeit« versetzt. Und die Losungen der Trotzkisten von LO (Lutte Ouvière) und LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), wie »Aufteilung der Reichtümer« und »Keine Entlassungen in Betrieben, die Gewinne machen«, könnten in ihrer reformistischen Plattheit auch von der DKP oder der MLPD stammen. Doch da enden die Gemeinsamkeiten auch schon wieder. Denn in Frankreich sind solche Losungen oberflächliche und rückständige Ausdrücke einer verbreiteten Stimmung in der lohnabhängigen Bevölkerung, einem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Solidarität, das sich der Logik des »Neoliberalismus« – und tendenziell der Kapitallogik überhaupt – verweigert. Diese Stimmung ist es, die sich in der Streikbewegung vom Dezember 95 ausgedrückt und ihr breite Sympathie eingetragen hat, die die verschiedensten »gesellschaftlichen Bewegungen« (wie sie sich selbst nennen) verbindet und die sich zu einer regelrechten »Krise der Repräsentation« ausgewachsen hat, einer Krise der parlamentarischen und bürokratischen (auch gewerkschaftlichen) Vertretungsstrukturen, die sich unter anderem ausdrückt in stark vermehrter Wahlenthaltung (die offiziellen Wahlergebnisse unterschlagen dabei regelmäßig die wachsende Zahl derer, die sich gar nicht erst in die Wählerlisten eintragen) und in millionenfachen Proteststimmen für die extreme Linke. Diese trotzkistische Linke, das »Waisenkind des Stalinismus«, spielt jedoch alles andere als die Rolle einer »revolutionären Avantgarde«. Obwohl sie ständig die Unreformierbarkeit des »Systems« betont, betreibt sie nichts anderes als populistischen Reformismus und berauscht sich an ihren Stimmengewinnen auf Kosten der PCF. Im Frühsommer dieses Jahres erlebte sie eine Blamage besonderer Art. Ihre Forderung nach einem Entlassungsverbot für profitable Betriebe impliziert die Hinnahme von Entlassungen in nichtprofitablen Betrieben; Arbeit, die keinen Profit abwirft, ist demnach (unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Funktion) nicht verteidigenswert. Die Belegschaften der verlustbringenden französischen Filialen von Marks & Spencer zeigten weniger Verständnis für das Kapital. Sie verbündeten sich mit mehreren anderen von Schließung und Entlassung bedrohten Belegschaften und organisierten gemeinsam eine Großdemonstration gegen das internationale Kapital.

Wenn es so etwas wie eine Avantgarde der sozialen Bewegung(en) in Frankreich gibt, dann nicht unter den politischen Organisationen und Sekten, sondern in der Gewerkschaftsbewegung, nämlich in Gestalt der Sud-Gewerkschaften. Die erste von ihnen, Sud Ptt, entstand schon im Dezember 1988 nach dem Ausschluß von mehr als 300 Aktivisten der CFDT wegen Teilnahme an einem Postfahrerstreik. Sie schien zunächst ein Einzelfall zu bleiben. 1989 schloß sie sich der »Gruppe der 10« (Groupe des 10; <www.g10.ras. eu.org>) an, einem Verband »nichtföderierter« Gewerkschaften, die 1947 bei der Abspaltung der FO von der CGT ihre politische Unabhängigkeit bewahren wollten. Die »Gruppe der 10« galt nur deshalb als besonders links, weil sich die großen Gewerkschaften CGT und CFDT während der Mitterand-Ära zu Hilfstruppen der Regierung entwickelt hatten. Erst nach dem Dezember ‘95 kam es – in Verbindung mit Massenaustritten aus der CFDT – zu einer Reihe weiterer Sud-Gründungen, vor allem in den öffentlichen Diensten, dann aber auch in der Privatwirtschaft, an den Universitäten (Sud étudiants), in überseeischen Départements und in der französischsprachigen Schweiz. In Deutschland wurden diese neuen Organisationen, wenn überhaupt, als Fortsetzung der bekannt militanten französischen Gewerkschaftstradition registriert. Zur internationalen TIE-Konferenz 1997 in Frankfurt waren z.B. Sud-Vertreter eingeladen, um über ihre Arbeit als Beispiel für eine erfolgreiche organisatorische Neugründung zu berichten. Dass die Sud-Gewerkschaften mehr sein könnten als eine bloß kämpferische Variante des traditionellen Gewerkschaftswesens, kam niemandem in den Sinn, auch mir nicht. Meine Erwartungen waren denn auch nicht besonders hochgesteckt, geprägt eigentlich nur durch den programmatischen Namen: solidaire(s), unitaire(s), démocratique(s) – solidarisch, einheitlich, demokratisch. (In der Schreibweise folge ich der der Sud-Gewerkschaften selbst, deren Logo übrigens bewusst dem Schriftzug der Solidarnosc nachempfunden ist.) Ich erwartete also einen betont basisorientierten, egalitären, antibürokratischen, ansonsten aber hergebrachten Gewerkschaftstyp.

Zu (nicht nur) meiner großen Überraschung jedoch präsentierten sich die Sud-Gewerkschaften als Interessenverbände von Lohnabhängigen, die sich nicht auf ihre Rolle als Lohnabhängige reduzieren (lassen) oder zurückziehen, sondern die sich als gesellschaftliche Produzenten begreifen, als Produzenten, die sich dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Arbeit, den Bedürfnissen ihrer Konsumenten oder Nutzer verpflichtet fühlen. Nicht im Sinne einer »Kundenorientierung«, die nur an zahlungsfähigen Käufern interessiert ist, sondern im Sinne des Nutzens für eine größtmögliche Zahl von Menschen, gerade auch der ärmsten und bedürftigsten, im Interesse ihrer individuellen Entwicklung und sozialen Gleichachtung.

Sud Education (www.sudeducation.org) versteht sich denn auch nicht als »Lehrergewerkschaft«, sondern als Organisation von Bildungsarbeitern, vom Hausmeister bis zum Professor, von der Vorschule bis zur Universität. Sie verteidigt das einheitliche, weltliche und kostenlose Schulsystem gegen die drohende Unterwerfung unter wirtschaftliche Interessen und Konkurrenzzwänge (»Nein zur neoliberalen Schule«, »Bildung ist keine Ware«) und vertritt ein emanzipatorisches Bildungskonzept, auch gegen die Tradition des »rigiden, zentralistischen Jakobinismus«. Sud Rail (<www.sudrailprg.free.fr>) tritt ein für den Ausbau eines gemischten öffentlichen Verkehrssystems und strebt eine gewerkschaftliche Föderation des gesamten Transportsektors an, von Taxi- und Lkw-Fahrern über Bus- und Bahnpersonal bis zu den Piloten. Aktuell kämpft sie gegen die Aufspaltung der Bahn als Vorbereitung für die Privatisierung ihrer profitablen Teilbereiche. Sie propagiert die Zusammenarbeit mit Konsumentenassoziationen und hat Ansätze gemeinsamer Organisation von Produzenten und Nutzern entwickelt. Sud Chimie (<www.sudpharma.chez.tiscali.fr>) attackiert – unter Losungen wie »Gesundheit ist keine Ware« oder »Nützlich produzieren im Dienste der Menschen« – die »Profitlogik« der Pharmakonzerne. Sie führt zur Zeit eine Kampagne gegen die Stilllegungspläne in der Pharmaindustrie und für die Entwicklung und Produktion von Medikamenten vor allem für den Bedarf in den armen Ländern (gegen HIV u.ä.; siehe <www.lapetition.com>).

Exemplarisch ist die Geschichte von Sud Ptt (<www.sudptt.fr>), Vorbild und Mentor aller weiteren Sud-Gewerkschaften. Kaum gegründet, sah sie sich mit einer »Postreform« konfrontiert, die die Umwandlung der staatlichen Gesellschaft, einer wenig nutzerfreundlichen Art Behörde mit Monopolpreisen, in zwei rein kommerzielle Dienstleistungsunternehmen – La Poste und France Télécom – zum Inhalt hatte und die spätere Privatisierung vorbereiten sollte. Während die CFDT die Reform als fällige Modernisierung begrüßte, gefiel sich die CGT in einer rein defensiven Strategie der Verweigerung und Besitzstandswahrung. Beide Positionen markieren die Grenzen, innerhalb derer sich herkömmliche Gewerkschaftspolitik bewegt, als Auseinandersetzung zwischen »Modernisierern« und »Traditionalisten«. Für Sud Ptt bedrohten beide Positionen die Zukunft des öffentlichen Dienstes – die der CFDT, weil sie unter dem Vorwand der Modernisierung und Kun-denorientierung seine Verwandlung in ein Anlagefeld des privaten Kapitals betrieb; die der CGT, weil sie ein bürokratisches Staatsmonopol mit all seinen Missständen verteidigte. Sud Ptt argumentierte: Die öffentlichen Dienste, wie Post und Telekommunikation, aber auch Bildungs- und Gesundheitswesen, öffentliche Verkehrsmittel, Energieversorgung u.a.m., sind zivilisatorische Errungenschaften, die allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehen müssen. Diese Aufgabe verbietet es, sie den Rentabilitätsgesetzen des Marktes zu unterwerfen, die Dienstleistung zur profitablen Ware zu machen und ihre Nutzer auf die zahlungskräftig(st)en Kunden zu reduzieren. Sie verbietet es aber auch, die öffentlichen Dienste so zu verteidigen, wie sie sind. Um sie zu verteidigen, muss man sie erneuern und beleben – nicht durch ihre Kommerzialisierung und Privatisierung, sondern durch das Bündnis von Beschäftigten und Nutzern. Auf dieser Linie führte die Sud Ptt die inhaltliche Auseinandersetzung mit allen Argumenten der Reformbefürworter, organisierte Diskussionen zwischen Beschäftigten und Nutzern, mobilisierte in den verschiedenen Streikbewegungen. Sie war damit – wie auch mit ihrer absoluten Verpflichtung auf basisdemokratische Entscheidungen (z.B. in täglichen Streikvollversammlungen) und mit ihrer unermüdlichen Informationsarbeit – so erfolgreich, dass sie innerhalb von zehn Jahren bei der Post zur zweitstärksten Gewerkschaft nach der CGT aufstieg und bei der Telekom mit dieser sogar gleichzog.

Die Orientierung der Sud-Gewerkschaften auf den gesellschaftlichen Bedarf und den Nutzen ihrer Arbeit ist ebenso schlicht und einleuchtend wie ungewöhnlich. Im traditionellen Selbstverständnis sind Gewerkschaften ausschließlich Interessenverbände von Lohnabhängigen, die mit den (privaten oder staatlichen) Unternehmen um Preis und Nutzungsbedingungen der Arbeitskraft ringen (»Schutzfunktion«). Die jeweilige gesellschaftliche Rolle der Lohnarbeit liegt (abgesehen von der allgemeinen Bestimmung, »werteschaffende Tätigkeit« zu sein) außerhalb dieses Horizonts. Die Beziehung zu den Nutzern, seien sie Verbraucher oder selbst Produzenten, gilt allein als Sache der Unternehmen, gegebenenfalls noch staatlicher Auflagen und Aufsicht, soweit Interessen der Allgemeinheit berührt sind. Die konkrete Arbeit interessiert nur als Gegenstand der Betriebsorganisation und der Lohndifferenzierung; ansonsten liefert sie die Abgrenzungskriterien der Gewerkschaften untereinander. Der traditionelle Syndikalismus betrachtet das Kapitalverhältnis als seine Existenzbedingung und die Gesellschaft als etwas ihm Äußerliches, als abstrakt-übergeordneten Zusammenhang, »in dem« man halt lebt. Er stellt Ansprüche an die Gesellschaft, repräsentiert durch den Staat, aber er denkt nicht daran, im Namen der Gesellschaft Ansprüche an die eigene Arbeit zu stellen. Der Typ Syndikalismus, den die Sud-Gewerkschaften repräsentieren, betrachtet umgekehrt die Gesellschaft als praktischen Zusammenhang der Menschen, in dem die Lohnabhängigen nicht nur Objekte, sondern zugleich tätige Subjekte, gesellschaftliche Produzenten sind und in dieser Eigenschaft das Kapitalverhältnis und die es schützende Politik als Hindernis, als »Ballast« (Gramsci) erleben.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/02

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