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Updated: 18.12.2012 15:51
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Frankreich: Bossnapping und Betriebsbesetzungen

Mehr oder minder militante Aktionen von Lohnabhängigen breiten sich aus: Die Anzahl der "Bossnapping"fälle wächst, während die abhängig Beschäftigten bei Continental eine Unterpräfektur zerlegten. Laut dem ,Guardian' schneiden die französischen Aktionen im europaweiten Vergleich gut ab, während die deutsche Presse herummosert. Conti-Arbeiter/innen demonstrieren heute in Hannover, nachdem sie vorgestern in Frankreich ihrem Unmut spürbaren Lauf ließen

"In der Krise mangelt es nicht an Zurückhaltung" schlagzeilte die französische Gratistageszeitung ,20 minutes' am gestrigen Mittwoch. Hat man richtig gelesen? "An Zurückhaltung", während der angekündigte Artikel im Blattinneren offenkundig so genannten radikalen Aktionen von Lohnabhängigen handelt? Man reibt sich verwundert die Augen und liest noch einmal nach. Ein wachsamer Blick korrigiert den Lesefehler: "...mangelt es nicht an Zurückgehaltenen" (,retenus', statt ,retenue' für "Zurückhaltung") steht da. Der Begriff lässt sich auch mit "Festgesetzte" übersetzen. Das Wortspiel war wohl beabsichtigt.

Es geht in dem - ansonsten inhaltlich schwer enttäuschenden - Artikel um die aktuell sich ausbreitenden Festsetz- oder "Bossnapping"-Aktionen in französischen Betrieben, deren Lohnabhängige von massenhaften Entlassungen bedroht sind. Am Vortag, Dienstag Abend, war die bisher zehnte Aktion solcher Art im südwestfranzösischen Villemur-sur-Tarn beim Autozulieferer MOLEX zu Ende gegangen: Nach 25 Stunden wurden zwei Manager (die Personaldirektorin und ein Co-Betriebsleiter), Marcus Kerriou und Coline Colboc, durch "ihre" Lohnabhängigen freigelassen. Zuvor hatte sich, zum ersten Mal im Zusammenhang mit solchen Affären, ein Gericht in die Sache eingeschaltet: Am Abend waren die abhängig Beschäftigten vor das zuständige Kreisgericht in Toulouse geladen. Unter dem Druck der Androhung massiver Strafverfolgungen - fünf bis zwanzig Jahre für angebliche "Geiselnahme" - ließen sie daraufhin Kerriou und Colboc wieder frei.

Am heutigen Donnerstag dürfen die beiden Manager sich in der Boulevardzeitung ,Le Parisien' über zwei Drittel einer Zeitungsseite hinweg ausheulen. Darin breiten sie zunächst einmal ausführlich ihre Befindlichkeiten aus ("In den ersten Stunden wird man sich nicht so sehr bewusst" über den Vorgang. "Wir haben nur zwei Stunden geschlafen, die Beschäftigten klopften an die Zwischenwände. Unter den Blitzlichtern der Fotographen fühlten wir uns wie im Zoo. Es war sehr erniedrigend, um Erlaubnis fragen zu müssen, um auf die Toilette zu gehen. ... Am Morgen fühlt man sich schmutzig.") Dabei hatten die abhängig Beschäftigten sogar durch eine Eskorte für ihre Sicherheit gesorgt, um eventuelle Übergriffe irgendwelcher Hitzköpfe zu verhindern, und den beiden Managern freie Kommunikation inklusive Zugang zu Internet und E-Mail überlassen.

Es bleibt jedoch nicht bei solcher Schilderung subjektiver Befindlichkeit: Die beiden Mitglieder der Unternehmensleitung geben sich kämpferisch. Marcus Kerriou kündigt an, Strafanzeige in eigenem Namen zu erstatten, und erklärt, er sei "entschlossen, ent-schlos-sen". Was nur bedeuten kann: entschieden, die Entlassungspläne durchzuziehen, die in jeglicher Hinsicht fragwüdig sind - dazu unten gleich Ausführlicheres. In dem Interview führt er aus: "Das ist schlicht und einfach kriminell. Ich sehe keinerlei Entschuldigung für solche Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit. Das ist nichts anderes als eine Geiselnahme." Seine Kollegin Colboc fügt hinzu: "Man kann nicht unter Zwang verhandeln. Man setzt uns die Pistole auf die Brust, wo die Leute doch würdig gehen könnten, d.h. in Frieden mit dem Unternehmen (Sic!), um ein Umschulungsprojekt zu verfolgen." (Doppel-Sic!)

Das Komplott oder Lohnabhängige als ferngesteuerte Trottel

Auf die Nachfrage hin, ob die beiden Manager "die Wut der abhängig Beschäftigten verstehen" könnten, antwortet der ach so arme Geschädigte Marcus Kerriou mit einer Komplotttheorie, welche die Lohnabhängigen zu ferngesteuerten Trotteln erklärt: "Aber das Alles ist von au b en her gelenkt! Es herrscht eine Kluft zwischen der professionellen Art, mit der die Kommunikation (Anm.: rund um die Aktion, und um die Forderungen) betrieben wird, und dem intellektuellen Niveau bestimmter Beschäftigter. (Sic!) Das bedeutet ganz klar, dass hinter all dem Gewerkschaftsverbände stecken, angefangen bei der CGT, sowie radikale Elemente, die nicht mit der wirtschaftlichen Realität konfrontiert sind. Im Endergebnis ergibt das totale Anarchie, und das liegt weder im Interesse der Beschäftigten noch in dem des Beschäftigungsstandorts in der Region."

MOLEX,eine anschauliche Demonstration der Hintergründe der aktuellen Massenentlassungspläne

In Wirklichkeit sind die Lohnabhängigen dieses Betriebs, der die Entlassung seiner sämtlichen 300 Beschäftigten plant, durchaus mit "der ökonomischen Realität" konfrontiert - geht es ihnen doch unmittelbar ans Leder, respektive an die wirtschaftliche Existenz.

Die Entlassungspläne bei MOLEX liefern dabei eine anschauliche Demonstration der Hintergründe für die aktuell laufenden Konflikte. Bei diesen wird gerne ständig "die Krise" als Generalentschuldigung - wie praktisch - herbeizitiert. (Nicht nur dort. So finden im Pariser Umland, vor allem im Département Val-de-Marne, das südöstlich an die Hauptstadt Paris angrenzt, mehrere harte Betriebskonflikte um Lohn und Kündigungspläne statt. Dort wurde festgestellt, dass Unternehmen gleichzeitig einen Gutteil ihres Stammpersonals auf Kurzarbeit setzen - die zu 60 %, in Bälde zu 75 % Prozent vom französischen Staat finanziert wird, während sie aber gleichzeitig Zeitarbeitspersonal einstellen, um die Arbeit zu verrichten, die also offenkundig dennoch anfällt. Das Ganze natürlich, um die "Personalkosten" zu drücken, aber augenscheinlich ohne dass der angeführte Rückgang der Aktivität real wäre..)

Die Pläne, das Werk in Villemur dicht zu bestehen, bestehen bereits seit dem Jahr 2004. Und damals war "nix mit Krise". Es wurde konstatiert, dass seitdem die Patente und die Gussformen für die Autoteile, die hier hergestellt werden bzw. wurden - Lenk- und Kupplungssysteme - systematisch in die USA geschafft wurden. An diesem Montag (20 April) informierte um 14 Uhr ein E-Mail die Belegschaft, dass der Konzern Peugeot-PSA - der zentrale Aufkäufer - nun die Teile aus den USA, wo ihre Produktion seit längerem vorbereitet wurde, bezieht. Dadurch fiel aber den Lohnabhängigen bei MOLEX ihre stärkste Waffe, nämlich ihre Möglichkeit, die Produktion lahm zu legen oder zu beeinträchtigen, aus der Hand. Auch dadurch erklärt sich ihr Rückgriff auf eine andere Aktionsform als den puren Streik, nämlich das Bossnapping.

Die Entlassungspläne bei MOLEX sind ferner vollkommen illegal, da nämlich das ,Comité d'entreprise' CE - das (sehr ungefähre) Äquivalent zum deutschen Betriebsrat - bislang nämlich über die Pläne zum Dichtmachen des "Standorts" und zur Produktionsverlagerung überhaupt nicht informiert worden ist. Über Pläne also, die seit sage und schreibe fünf Jahren vorbereitet und durchgeführt worden sind.

Seit vier Monaten haben die Lohnabhängigen ihrerseits eine Klage wegen "Beeinträchtigung des normalen Funktionierens des CE", in Gestalt seiner kompletten Ausschaltung aus dem Entscheidungsprozess, eingereicht. Diese Beeinträchtigung stellt laut französischem Recht eine Straftat (délit d'entrave) dar. In ,Libération' vom heutigen Donnerstag früh werden Lohnabhängige bei MOLEX in Villemur mit der Aussage zitiert, sie seien verwundert, dass auf ihre Klage - für eine Straftat, die nach geltendem Recht mit Geld- und sogar Haftstrafen zu ahnden ist - nach vier Monaten bislang keinerlei Rückmeldung kam. Auf ihre Bossnapping-Aktion vom Montag folgte jedoch innerhalb weniger Stunden eine Vorladung zum Gericht mit hohen Strafdrohungen...

Die Personaldirektorin Coline Colboc räumt ihrerseits in dem oben zitieren ,Parisien'- Interview diese Straftat sogar ein. Ironisch blatt sie den sie interviewenden Journalisten an: "Also, so ist das, wir werden nicht nur widerrechtlich festgehalten, jetzt sollen wir also auch noch ins Gefängnis gehen? Ein Ausbleiben der Informierung des Betriebsrats (CE) - selbst im Falle, dass wir verurteilt werden würden - ist jetzt auch wieder nicht kriminell."

Continental: Unterpräfektur zu Kleinholz verarbeitet

Beim Autozulieferer (Reifenhersteller) Continental, in Clairvoix rund 50 Kilometer nordöstlich von Paris, konstatieren die Lohnabhängigen unterdessen: "Wochenlang tat sich nichts, während wir im Streik waren. Aber kaum haben wir mächtig auf die Pauke gehauen, kündigt der Staat eine Vermittlung an!"

In der Tat hatten Lohnabhängige aus dem Conti-Werk, nachdem am Dienstag ein Gericht in Sarreguemines/Saargmünden in Ostfrankreich - am Sitz der französischen Niederlassung der deutschen Firma Continental - alle Anträge des Betriebsrats (CE) auf Aufhalten der Entlassungspläne abgeschmettert hatte, ihrem Zorn für kurze Zeit freien Lauf gelassen. Eine Unterpräfektur (juristische Vertretung des Zentralstaats auf Ebene des Verwaltungsbezirks) in Compiègne, nördlich von Paris, wurde am Dienstag zu Kleinholz zerlegt. Ebenfalls betroffen war ein Empfangspavillon am Sitz des Unternehmens in Clairvoix, der verwüstet wurde. Daraufhin kündigte die Firmenleitung die vorübergehende Einstellung aller Aktivitäten an dem "Standort" an, da sich auch die Sicherheitseinrichtungen des Werks in dem Pavillon befunden hätten.

Doch eine andere Reaktion auf diese etwas handfesteren Aktionen bestand darin, dass ein Politiker der Regierungspartei UMP, Luc Chatel - normalerweise für Verbraucherschutz zuständig - kurz darauf am Mittwoch eine "Vermittlung des Staates" ankündigte. Die Politik werde sich aktiv einmischen, um eine völlige Schlie b ung des Werks mit 1.700 Beschäftigten - das Auto-, aber auch Fahrradreifen herstellt - zu verhindern. Das Werk gilt als produktiv, doch der Konzern, der selbst Verluste einfährt, will diesen Standort "opfern". Im Sommer 2007 hatten die Lohnabhängigen einem "Vorschlag" der Direktion zur Ableistung fünf unbezahlter zusätzlicher Wochenstunde (40 Stunden statt 35 wöchentlich) zugestimmt. Nun fühlen sie sich jedoch betrogen, da ihr - rundum modernisiertes - Werk lediglich als Versuchskarnickel benutzt wurde, um neue Maschinen zu erproben. Letztere möchte Continental nunmehr in Rumänien zum Einsatz bringen.

Am Donnerstag früh verkündete der für das "Konjunkurpaket" zuständige Sonderminister, der Ende 2008 ernannt worden war - Patrick Devidjian (UMP und "Aufschwungminister", ,ministre de la Relance') - es sei nun ein "seriöser Übernahmekandidat" für das Werk in Clairvoix gefunden worden. Eine Rettung der Arbeitsplätze stehe also in Aussicht. Dessen Namen oder Identität mochte er allerdings zunächst nicht nennen.

Die rechtssozialdemokratische Ex-Präsidentschaftskanidatin Ségolène Royal, die derzeit auf intensiver Profilierungssuche unterwegs durch das Land ist, bekundete unterdessen am Donnerstag volles Verständnis für die Aktionen der abhängig Beschäftigten (trotz rhetorischer Distanzierung von Gewaltakten). In der vergangenen Woche hatten zuletzt in Umfragen 55 Prozent der Befragten die derzeit gängigen Aktionsformen - wie das Bossnapping - befürwortet.

Am heutigen Donnerstag macht die französische Wochenzeitung ,Le Courrier International', die darauf spzialisiert ist, dem einheimischen Publikum die Analysen der internationalen Presse in übersetzter Form zur Kenntnis zu geben, mit der Titeltstory "Soziale Wut in Frankreich und Europa: Eine Melodie der Revolte" auf. In einem ausführlich übersetzten Artikel des britischen ,Guardian' werden französische und britische Aktionsformen miteinander vergleichen. Das Ergebnis des Matchs, auf dem Stand von Anfang der Woche: "Neun zu fünf." Das bedeutet: Neun Bossnapping-Aktionen in Frankreich gegen fünf Betriebsbesetzungen im Vereinigten Königreich (in London, Basildon und Belfast). Den Vorteil, was die Ergebnisse der dadurch erzwungenen Verhandlungen betreffe, trage, so konstatiert das Blatt, bislang die französische Methode davon. Hingegen stellt ein darüber stehender Artikel von Michael Kläsgen, der aus der ,Süddeutschen Zeitung' übersetzt worden ist, fest, die französische Gangart sei sinnlos und bringe keine Ergebnisse, da sie auch keine Entlassungen verhindern könne. (Worauf der ,Guardian'-Artikel darunter erwidert: Nein, das nicht - dazu "müssten die Aktionen breiter angelegt und noch militanter ausfallen" -, aber es konnten wesentlich höhere Abfindungszahlungen und andere Garantien erkämpft werden.) Stattdessen empfiehlt das deutsche Blatt, in Nachahmung einer rechts des Rheins gängigen Methode, "eine Dosis Mitbestimmung" einzuführen.

Artikel von Bernard Schmid vom 23.4.09, 14:15


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