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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Vor dem Verfassungsreferendum vom Sonntag Ein Viech geht um in Europa: Mit Rätsel aus Anlass des Referendums: Wer errät den Scharlatan der Woche? (Siehe Schluss des Artikels) In Frankreich ist es so weit: Es schlug die Stunde für die Rückkehr der Jospin-Ritter. Sie sollen einem Viech den Garaus machen, das in der abgelaufenen Woche dafür sorgte, dass viele etablierte Politiker Frankreichs sich bereits "entmutigt" zeigten. Ein höchst gefährliches Subjekt, ein gewisses Schwarzes Schaf, soll zahlreichen Stimmbürgern die Flause in den Kopf gesetzt haben, dass man beim Referendum am kommenden Sonntag auch mit Nein stimmen könnte. Man führe sich nur einmal die Unverschämtheit vor: Da fragen die Regierenden das Wahlvolk, und dieses nimmt sich glatt heraus, daran zu denken, anders als von ihm erwartet abzustimmen! Wo kämen wir denn da hin! (Zur Symbolik des Schwarzen Schafs vgl. http://www.labournet.de/internationales/fr/euverfass2.html) Da sind die Jospin-Ritter gefragt! Nein, die Rede ist nicht von der letzten Star Wars-Episode, die vergangene Woche auch in den französischen Kinos anlief. Aus der Gruft seines selbstgewählten, vorläufigen "politischen Ruhestands" zurück ist lediglich Lionel Jospin, der in diesen Tagen von seinen Parteifreunden dringend gebraucht wird. Wahlkampf mit einem politischen Gespenst Dazu hatten die Kommunikationsspezialisten und Werbefachleute der sozialdemokratischen Parteiführung dringend geraten: Das "Gespenst" Lionel Jospins sollte der französischen Kampagne für die Annahme des EU-Verfassungsvertrags neuen Auftrieb verleihen. Denn den Umfragen zufolge liegt, kurz vor dem französischen Referendum vom kommenden Sonntag, das Nein bei den Stimmabsichten in Führung. Schlimmer noch: Gut die Hälfte der sozialistischen Wähler wollen ebenfalls mit Nein stimmen, sehr im Gegensatz zur Parteiführung unter François Hollande. Anfänglich schien das neue Konzept auch blendend aufzugehen. Nach dem Fernsehauftritt Jospins, der für das Vertragswerk warb, von Ende April nahm die Zahl der Stimmabsichten auf Seiten der Befürworter für einige Tage um 5 Prozent zu, bevor sie wieder abbröckelte. (Dagegen endete der bisher letzte Fernsehauftritt Jospins, am Dienstag dieser Woche, auch nach Angaben sozialdemokratischer Spitzenpolitiker mit einem dicken Flop. Die der Sozialdemokratie nahe stehende Tageszeitung "Libération" räumt es in ihrer Donnerstagsausgabe explizit ein.) Am vorigen Donnerstag, 19. Mai im westfranzösischen Nantes trat Jospin zum ersten Mal, seitdem er seinen angeblich definitiven "Rückzug aus der Politik" erklärt hatte, vor 2.500 Menschen auf. Es sei ein "intellektueller Betrug", rief er dort aus, zu behaupten, man könne zugleich Pro-Europäer und gegen den konkret vorgeschlagenen Verfassungsvertrag sein. Eine Formulierung, die direkt auf die Gegner des Vertragswerks in den eigenen Reihen der französischen Sozialisten abzielte - darunter seinen alten Rivalen und früheren Wirtschaftsminister seiner Regierung, Laurent Fabius. Diese betonen ständig, mitnichten gegen das supranationale "Europa" an sich, sondern gegen konkrete Bestimmungen des Texts zu sein. Jospin und Staatspräsident Jacques Chirac dagegen behaupten, wer "für Europa" sein wolle, könne ausschließlich Ja zum Verfassungsvertrag sagen, es gebe keinerlei Alternativen. Längst haben es die Befürworter des Vertragswerks im übrigen aufgegeben, über konkrete Bestimmungen des Vertragswerks zu diskutieren. Allzu gern hätte man das Vertragswerk bis zum "Tag danach" versteckt... "Wir müssen aufhören, Artikel für Artikel zu debattieren, das verleiht der Debatte keinen politischen Weitblick" wird der ehemalige sozialliberale Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn zitiert. In den Hochglanz-Faltblättern der großen Parteien, die den Verfassungsvertrag befürworten der Mehrheitssozialdemokratie, der konservativen UMP und der christdemokratischen UDF wird denn auch auffälliger Weise kein einziger konkreter Artikel zitiert. Lediglich allgemeine Absichtserklärungen für ein sozialeres, freieres oder (geht es namentlich nach der UMP) vor allem mächtigeres "Europa" finden sich dort. Der Fernseh-Wahlspot der regierenden UMP zeigt etwa Raketen und moderne Waffensysteme, aus dem Hintergrund ertönt eine metallene Stimme aus dem Off: "Ich will ein stärkeres Europa", danach darf man den neuen "starken Mann" der Konservativen Nicolas Sarkozy beim Labern zuhören. Dagegen sind die Flugblätter der linken Verfassungsgegner, von den Trotzkisten über Attac bis zur sozialdemokratischen Minderheit, mit konkreten Artikeln aus dem Vertragswerk gespickt, mit denen die Ablehnung begründet wird. Dazu gehören die oft sehr detaillierten Anleitungen einer auf Freihandel und Marktglauben begründeten Wirtschaftspolitik, denen derart Verfassungsrang verliehen wird. Aber auch der "Militarisierungsartikel" 41, der gleichzeitig eine Verpflichtung der Mitgliedsländer zur "Verbesserung ihrer Verteidigungskapazitäten" enthält und positiv auf das Nordatlantische Militärbündnis Nato Bezug nimmt. Die Kritiken daran sind aber, das muss man auch dazu sagen, teilweise unterschiedlich motiviert: Die radikale Linke moniert grundsätzlich das Bemühen der EU, militärische Großmacht zu werden. Hingegen kritisiert der sozialdemokratische Ex-Premierminister Laurent Fabius (der eher zur Parteirechten gehört, aber ebenfalls als Verfassungsgegner auftritt) umgekehrt, ein "machtpolitisch eigenständiges Europa" werde durch die Referenz zur Nato verhindert. Dazwischen steht die KP, die einerseits für eine stärkere Eigenständigkeit der europäischen Militärpolitik gegenüber Washington, andererseits aber auch für eine Abrüstung der EU-Staaten unter ihr derzeitiges militärisches Niveau plädiert. Die künftigen Bruchlinien zwischen einer späteren Regierungslinken, die freilich ihre Hände nicht zu sehr durch die Verpflichtungen eines offen neoliberalen Verfassungsvertrags gebunden wissen will, und einer radikalen, alternativen oder sozialen Bewegungs-Linken sind vorhanden. Anrufung des "schlechten Gewissens" Statt über konkrete Bestimmungen eines Textes, über den theoretisch am Sonntag abgestimmt wird, zu reden, spukt nun also stattdessen (auf Seiten der Befürworter) Jospins "Gespenst" durch die Medienlandschaft. Jospin ist der sozialdemokratische Premierminister der Jahre von 1997 bis 2002, der am Ende dieser Periode bei der Präsidentschaftswahl so gnadenlos durchfiel. Damals waren an seiner statt der Amtsinhaber Jacques Chirac und der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl um die französische Präsidentschaft eingezogen. Denn die linksorientierten Wähler zogen es im ersten Wahlgang vor, den Urnen fern zu bleiben oder auch für die radikale Linke, die über 10 Prozent erhielt, zu stimmen. Die wirtschaftsliberale "Realpolitik" der Sozialdemokraten vermochte sie nicht anzuziehen oder zu mobilisieren. Die Erinnerung an jenen 21. April 2002, an dem Jospin sein Ergebnis erfuhr und sogleich sein Ausscheiden aus der Politik erklärte, wurde in den letzten vier Wochen fast täglich bemüht: Er werfe seinen "Schatten" auf die Abstimmung vom kommenden Sonntag, es drohe ein "Nachbeben" oder eine "Wiederholung des 21. April". Sämtliche Parallelen sind schief, doch dienen sie einem präzisen Zweck: Vor allem das linksliberale und traditionell sozialdemokratische Publikum soll bei seinem "schlechten Gewissen" gepackt werden, weil es "Jospin im Stich ließ und deswegen Le Pen in der Stichwahl bekam". Auch viele Wähler der linken Mitte hatten damals im ersten Durchgang gar nicht, grün oder linksradikal gewählt, als Warnung für die Jospin-Regierung. "Stimmt mit Ja (oder enthaltet Euch), sonst holt Euch Le Pen!" Heute dient die permanente Beschwörung Le Pens als Schreckgespenst in den Medien, um die verängstigten Stimmbürger zurück an die Seite des politischen Establishments zu treiben. Stimmt nicht auch Jean-Marie Le Pen bei der Abstimmung über den Verfassungsvertrag mit Nein? Ist das nicht der beste Beweis dafür, wohin ein Abweichen von der Weisheit der politischen Mitte führt? Das Argument hat sich inzwischen freilich abgenutzt. Die "Kopernikus-Stiftung", ein Think Tank der kapitalismuskritischen Linken, erwiderte sogleich: "Wenn die Gegner des Verfassungsvertrags so wie Le Pen stimmen, muss man aber auch sagen, dass die Ja-Sager genau wie Silvio Berlusconi oder Jörg Haider stimmen." Und was ist mit dem italienischen "Postfaschisten" Gianfranco Fini, der den Verfassungsvertrag nicht nur befürwortet, sondern als Mitglied im Konvent unter Vorsitz des französischen Altpräsidenten Valéry Giscard d¹Estaing sogar mit verfasste? Ferner fällt auf, dass Le Pen in Wirklichkeit fast gar keinen aktiven Wahlkampf vor der Abstimmung betreibt; oft werden die Plakate der extremen Rechten übrigens (siehe auch unsere Fotos anbei) von Anhängern des "Nein von links" offensiv überklebt. Lediglich ab und zu tritt Le Pen mit verbaler Kraftmeierei vor die Kameras. Nicht nur, dass der Mann deutlich alt wird, dass er im Sommer 2002 eine Krebsoperation und im Februar 05 einen chirurgischen Eingriff an der Hüfte erlitt. Seine Partei (die er seit bald 33 Jahren wie ein Monarch führt) steckt auch in einer schweren Krise. Denn die Frage seiner Nachfolge an der Spitze des Front National ist nunmehr gestellt, aber nach wie vor ungelöst. Einen Redakteur des Nouvel Observateur (ein dem "Zeitgeist" und der Börse verpflichtetes sozialliberales Wochenmagazin, das zu gut zwei Dritteln aus Werbung besteht) kümmert das nicht. So schreibt Claude Askolovitsch in der Ausgabe vom 19. Mai: "Die Gegner des Verfassungsvertrags haben ein Problem mit Le Pen. Aber er hat keines mit ihnen. Sie machen Wahlkampf - aber er wird vom Ergebnis profitieren." Am gestrigen Donnerstag schlug etwa die Wirtschaftszeitung Les Echos in dieselbe Kerbe: "Le Pen lauert in der Kurve". Am Vorabend behauptete die Pariser Abendzeitung Le Monde, "über 50 Prozent" der Nein-Stimmen zum europäischen Verfassungsvertrag kämen von der extremen Rechten. Was schon rein mathematisch unsinnig ist: Die extreme Rechte, deren Einfluss in den letzten Monaten geschwunden ist, verfügt derzeit ein Wählerpotenzial von knapp 10 Prozent. Ekelhaft wird die Propaganda, wenn der oberste Schicke Micki-"Linke", der sozialdemokratische Schickeriaspezialist und ehemalige Kulturminister Jack Lang, im konservativen "Figaro" vom Donnerstag behauptet, mit ihrem Eintreten gegen die europaweite Dumping-Konkurrenz betrieben die linken (!) Vertragsgegner "die Denunzierung der Arbeiter anderer Länder" und "schmeicheln der Angst vor anderen Völkern" eben genau wie Le Pen. Dieser Vorwurf zumindest an ist mehr als an den Haaren herbeigezogen. Dabei hatten die linken und halblinken Kritiker des Vertragswerks nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihr Ansatz diesbezüglich ein völlig anderer ist als jener der extremen Rechten. Der sozialistische Gegner des Verfassungsvertrags Henri Emmanuelli (ein früherer Generalsekretär der französischen Sozialdemokratie) äußerte sich etwa im Abstimmungskampf dazu, wie polnische Fernfahrer in Frankreich arbeiten: Sie sind gezwungen, auf Autobahnraststätten zu schlafen, damit sie sich auf dem Papier nicht als abhängig Beschäftigte in Frankreich aufhalten. Sonst wären nämlich französische Arbeitsschutzgesetze auf sie anwendbar. Es gelte nicht, die polnischen Transportarbeiter zu verprügeln (eine solche Entwicklung zu befürchten, habe es manchmal Anlässe gegeben, so Emmanuelli), sondern vielmehr die sozial- und arbeitsrechtlichen Mindestanforderungen in der EU einander anzugleichen, "nach oben". Der Verfassungsvertrag dagegen schließt explizit eine « Harmonisierung der Gesetzgebung » im sozialen Bereich zwischen den Mitgliedsstaaten aus (Artikel III-210-2), während er die absolute Niederlassungsfreiheit von Unternehmen im gesamten EU-Raum garantiert (vgl. etwa Artikel III-137). Drohung mit der Wirtschaftskrise: Haltet den Dieb! Und wenn auch die Instrumentalisierung der extremen Rechten als Schreckgespenst nicht mehr hilft, dann bleibt der Regierung noch der Versuch, den Wählern auf plumpe Weise Angst einzujagen. Haltet Euren Geldbeutel fest! Am Dienstag voriger Woche drohte etwa Premierminister Jean-Pierre Raffarin damit, im Falle eines Abstimmungssieges des Nein drohe eine "mehrere Monate lange, tiefe Wirtschaftskrise". Ein Einschüchterungsversuch, den viele sozialdemokratische Politiker im Lager der Verfassungs-Befürworter für "unglücklich" erklären. Gegenüber den französischen Überseeterritorien und départements (DOM-TOM, beispielsweise die Antilleninseln, Französisch-Guyana oder La Réunion) wollte Präsident Jacques Chirac sich nicht einmal notdürftig hinter einer düsteren "Prognose" verstecken wie sein Regierungschef. Lieber drohte er unverhohlen, und sprach es vor einem guten Monat kaum verklausuliert aus: Sollten die Einwohner DOM-TOM schlecht abstimmen, dann gebe es künftig keine Transferzahlungen mehr aus der "Metropole". Da die Übersee-Territorien wirtschaftlich weitgehend auf das "Mutterland" (statt auf Beziehungen zu ihrem geographischen Umfeld) ausgerichtet sind und da viele Produkte aus der französischen "Metropole" importiert werden, sind viele Bedarfsgegenstände dort entsprechend überteuert. Lediglich Transferzahlungen und Subventionen machen das Preisniveau halbwegs erträglich. Chiracs offene Andeutung, dass Paris den Hahn zudrehen könnte, bedeutet nichts anderes als eine Drohung damit, zahlreiche Bewohner der DOM-TOM ins Elend zu stoßen. Kundgebungs-Fest für das "Non" "Wer in Europa würde ernsthaft glauben, dass Le Pen oder (der Rechtskatholik und Nationalkonservative, Anm.) Philippe de Villiers kurz vor der Machtergreifung stehen, wenn das Nein in Frankreich gewinnt? Nein, die bürgerlichen Medien in ganz Europa werden es vielmehr so darstellen: Das ist der übliche französische Saustall - gestern streiken sie, heute stimmen sie mit Nein, morgen demonstrieren sie wieder. Die Abstimmung wird auf der Linken entschieden. Dieses Nein ist kein rassistisches, chauvinistisches oder antitürkisches Nein " ruft Olivier Besancenot vor 10.000 Zuhörern auf der Pariser Place de la République aus. Der 30jährige Briefträger und ehemalige Präsidentschaftskandidat der undogmatischen Trotzkisten ist der meistapplaudierte Redner auf dem "Fest für das Nein", das am vorigen Samstag auf der Pariser Place de la République stattfindet. Dafür wurde mitten in der französischen Hauptstadt einen ganzen Samstag lang der Verkehr abgestellt. Eine riesige Bühne ist aufgebaut, wo sonst Hupkonzerte herrschen. Reaggae-, Rock- und Rapgruppen wechseln sich mit Dutzenden von Rednern ab, deren Spektrum von Besancenot und dem Aktivisten der linksalternativen Bauerngewerkschaft, José Bové, bis zum Senator Jean-Luc Mélenchon (Sozialist und Mitglied des parlamentarischen Oberhauses) reicht. Der sozialdemokratische Parteilinke und Arbeitsrechtler Gérard Filoche ruft nach ihm aus: "Nein, wir sind nicht gegen die polnischen Arbeiter, von denen so viel die Rede ist. Wir mögen sie so sehr, dass wir möchten, dass sie den gleichen Lohn bekommen wie wir, anstatt dass eine zerstörerische und ruinöse Konkurrenz unsere Löhne absenkt und ihnen keinerlei Vorteile bringt". Der sprichwörtliche polnische Klempner, der in Frankreich arbeiten kommt, wird in diesem Abstimmungskampf häufig beschworen, seitdem der frühere EU-Kommissar Frits Bolkestein sich in die französische Debatte einmische. Er habe Schwierigkeiten, für sein Haus in Nordfrankreich "geeignetes Personal" zu bekommen, tönte Bolkestein vor einigen Wochen - womit offenkundig gemeint war, dass die vorhandenen Klempner und Elektriker ihm nicht billig oder nicht willig genug erschienen. "Wir wollen ein anderes Europa als das der Wirtschaftsliberalen - mit den polnischen Klempnern zusammen", ruft auch Claire Villiers am vorigen Samstag aus. "Aber auch mit den tschechischen Fernfahrern, mit den marokkanischen ’illegalenŒ Arbeitern, mit den Sans papiers des Kontinents. Und mit den polnischen Frauen, denen diese famose Verfassung nicht einmal das Recht auf Scheidung und Abtreibung gibt, das ihnen heute erschwert oder vorenthalten wird." Villiers ist eine Aktivistin der Erwerbslosenbewegung, die auf einer offenen Liste der KP ins Pariser Regionalparlament gewählt wurde. [siehe dazu die Bildergalerie zum Thema im LabourNet Germany] Die heutige Debatte verläuft (zum Glück) anders als jene über Maastricht Die Fernsehdebatten und auch die Diskussionen auf der Straße kreisen meistens um die Argumente der linken Vertragsgegner, drehen sich um neoliberale Wirtschaftspolitik, um Produktionsauslagerungen und Wettbewerb. In ihrer ständigen demagogischen Parallelenziehung zwischen dem Nein zum Verfassungsvertrag von heute und dem 21. April 2002 (dem Wahlerfolg Jean-Marie Le Pens bei der letzten Präsidentschaftswahl) schrieb etwa die Pariser Abendzeitung Le Monde vor drei Tagen: "Die Debatte um Produktionsauslagerungen spielt eine ähnliche Rolle wie die Debatte um die Innere Sicherheit vor der Präsidentschaftswahl". Damals hatte der stark ideologisch aufgeladene Sicherheits-Diskurs, den alle staatstragenden Parteien unterhielten, einer im Vorfeld (nach der Parteispaltung von 1999) bereits fast tot geglaubten extremen Rechten nochmals ungeahnten Auftrieb verschafft. Es gibt nur einen Unterschied: Der "Sicherheits"-Diskurs war vorwiegend auf ideologischen Fantasmen und melodramatisch überzeichneten Bedrohungsbildern aufgebaut. Die sich verschärfende Konkurrenz, Sozialdumping und die Ausweitung eines Niedriglohnsektors sind dagegen eine ganz konkrete, materielle Realität. Nicht wenig Öl in das Feuer der Befürchtungen über einen soziale Abwärtsspirale hat auch der Parteichef der konservativen Regierungspartei UMP, ihr "starker Mann" Nicolas Sarkozy, gegossen. Er rief bei einer Kundgebung im Pariser Palais de Sports unter anderem aus, es gelte, das "französische Sozialmodell" angesichts anderer Erfahrungen in Europa in Frage zu stellen, "denn unser Sozialmodell ist (Anm.: angesichts der Arbeitslosigkeit) nicht mehr das erfolgreichste!" Sarkozy wollte dabei vor allem das britische "Modell" zum Vorbild nehmen, da die dortige neoliberale Arbeitsmarktpolitik die besten Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gezeitigt habe. Die rechten Vertragsgegner reden dagegen fast ausschließlich vom EU-Beitritt der Türkei, wobei die regierende UMP ihnen weit entgegen kam: In ihrer eigenen Kampagne verbindet sie ihr "Ja" zum Verfassungsvertrag ausdrücklich mit der Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts. Ähnlich argumentiert die christdemokratische UDF. Darin liegt ein entscheidender Unterschied zur französischen Debatte vor dem Referendum über den Maastricht-Vertrag vom September 1992. Seinerzeit hatten die rechten Gegner des Vertrages und der europäischen Währungsunion weitgehend die Auseinandersetzung dominiert - vom gaullistischen Maastricht-Gegner Philippe Séguin bis zu den Rechtsextremen Le Pens, die sich damals in vollem Aufschwung befanden. 1992 waren die oppositionellen Konservativen in zwei große Hälften gespalten, während die regierenden Sozialisten fast einhellig hinter dem Vertragswerk standen. Heute ist es genau umgekehrt. Auch viele der Wählerinnen, die mit Nein zu Maastricht stimmten, mögen damals der Ansicht gewesen sein, dass man sie künftig "mit Europa in Ruhe lassen werden", falls das Vertragswerk abgelehnt werde. Das glaubt heute kaum jemand mehr. Seitdem der Euro wirklich eingeführt wurde und osteuropäische Arbeitnehmer in Frankreich tätig werden, ist fast allen bewusst, dass man heute "mittendrin lebt": Das supranationale Europa wird nicht verschwinden, selbst wenn der Verfassungsvertrag nicht durchkommt. Die wirklich interessante Frage lautet daher, wie man das Zusammenleben im supranationalen Europa nunmehr gestaltet, und kaum noch, wie man zur absoluten nationalen Souveränität zurückkehren könnte. Zahlreiche Politiker aus den Nachbarländern haben denn auch an diesem Abstimmungskampf aktiv teilgenommen. Joschka Fischer engagierte sich beispielsweise auf Seiten der Ja-Sager, die in "Le Monde" schriftliche Unterstützung von Günter Grass und Jürgen Habermas erhielten. Der italienische Kommunist Fausto Bertinotti, der Tübinger Antimilitarist Tobias Pflüger, der Abgeordnete des portugiesischen Linksblocks Miguel Portas und andere unterstützten hingegen des "Nein von links". Am heutigen Freitag soll erstmals Oskar Lafontaine bei den sozialdemokratischen Vertragsgegnern auftreten, an der Seite u.a. des sozialistischen Senators und Parteilinken Jean-Luc Mélenchon. Und was kommt nach dem Nein? Spannend wird auch die Frage, was nach dem Nein kommt, falls es am kommenden Sonntag gewinnt. Die sozialdemokratischen Parteilinken und viele KP-Mitglieder betrachten es als Vorstufe zu einem neuen Regierungsbündnis der Linksparteien: In ihren Augen gilt es, einer künftigen Linksregierung nicht durch verbindliche wirtschaftsliberale Bestimmungen des Verfassungsvertrags zu sehr die Hände zu binden. KP-Chefin Marie-George Buffet hat bereits dazu aufgerufen, sich ab dem Montag nach dem Referendum (falls das Nein) gewinne "in allen Kommunen" in einem neuen Linksbündnis zusammen zu finden, "auch mit denjenigen auf der Linken zusammen, die dazu aufriefen, mit Ja zu stimmen", also mit dem "anderen" Teil der Sozialisten und Grünen. Dabei sollen einerseits alternative Vorschläge für eine künftige neue Verfassung auf EU-Ebene erarbeitet, andererseits aber auch einer künftigen Linkskoalition in Frankreich der Weg geebnet werden. Die sozialistische Partei dagegen ist schwer angeschlagen, und die im Abstimmungskampf aufgebrochenen Spaltungslinien werden kaum noch zu kitten sein. Wiederholt sind die Kritiker des Verfassungsvertrags, wie Mélenchon, aus den Reihen der Befürworter mit dem Rechtsextremen Le Pen verglichen oder gar offen gleichgesetzt worden. Umgekehrt hatte auch der Ex-Generalsekretär der Partei, Henri Emmanuelli, im Februar die Befürworter mit jenen französischen Sozialisten des Jahres 1940 verglichen, die dem Ermächtigungsgesetz für den Marschall Pétain zustimmten. (Dieser ahistorische Vergleich hatte damals den linken Parteiflügel zerbrechen lassen, und verschiedene Teile der Parteilinken zogen deswegen getrennt in den Wahlkampf für das Nein.) Egal, ob das Ja oder das Nein gewinnt, werden die Gräben nur schwer wieder zuzuschütten sein. Im Falle eines Sieges drohen die Ja-Sager, die bei der innerparteilichen Urabstimmung vom 1. Dezember 04 die Mehrheit (58 %) errungen hatten, bereits recht unverhohlen mit einer Säuberungswelle gegenüber jenen, "die die Ergebnisse der innerparteiliche Demokratie nicht respektiert haben". Parteichef François Hollande hat diese Woche bereits offen bedauert, jene Kritiker des Verfassungsvertrags, die auch nach dem 1. Dezember 2004 bei einem öffentlich vertretenen Nein blieben, "nicht ausgeschlossen zu haben". Die radikale Linke und Bewegungslinke dagegen werden versuchen, den außerparlamentarischen Schwung aufrecht zu erhalten, und interessen sich nicht für neue Regierungsperspektiven. Derzeit gibt es frankreichweit 800 bis 1000 "Kollektive für das linke Nein". Am letzten Samstag forderten José Bové und Olivier Besancenot dazu auf, sie sollten auch über den Tag der Abstimmung hinaus zusammen bleiben, um Alternativen für ein anderes Europa zu entwickeln. Der Scharlatan der Woche Den Preis für den peinlichsten Beitrag zur Debatte verdient vielleicht ein Theoretiker aus Italien, der zur Zeit in Paris lebt. Aber die LeserInnen sollen es selbst erraten: Von wem stammen folgende Worte? Die Linke solle sich die Lehren des Nicolo Machiavelli zu Herzen nehmen und "das weltweite Kräfteverhältnis berücksichtigen", dergestalt, dass Europa als positives Gegengewicht zum amerikanischen Imperium aufzubauen sei: "Das Proletariat hat ein Interesse daran, sich mit den lokalen Kapitalisten", damit sind jene der gesamten EU gemeint, "gegen den globalen Kapitalismus zu verbünden." Das Ganze hat der Redner angereichert mit einer verbalradikalen Einilage, dergestalt, er wolle "endlich diesem Scheiß-Nationalstaat den Garaus machen" - ohne aber zu sagen, ob seine Ersetzung durch einen europäischen Staat so viel Besseres zu Tage brächte. Nun, um die LeserInnen nicht länger auf die Folter zu spannen: Mit diesen Worten rechtfertigte Toni Negri seine Unterstützung für den Verfassungsvertrag. Und er begründete damit, warum er zusammen mit dem neoliberalen Grünen und gewendeten 68er Daniel Cohn-Bendit sowie dem (vor 1981 noch trotzkistischen) sozialdemokratischen Karrieristen Julien Dray zusammen am vorletzten Freitag eine Veranstaltung für die Annahme des Verfassungsvertrags bestritt. Artikel von Bernard Schmid vom 26. Mai 2005 |