letzte Änderung am 9. Mai 2003 | |
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Annick Coupé, 50, ist seit ihrer Gymnasialzeit im Mai 1968 gesellschaftlich aktiv. Bis 1999 war sie Sprecherin von SUD-PTT (SUD bei Post und Telekom), der ersten linken Basisgewerkschaft, die ab 1989 aus einer Abspaltung von der CFDT entstand. Heute ist sie Sprecherin des Verbands Solidaires, in dem die SUD-Basisgewerkschaften (Solidaires, Unitaires, Démocratiques) und einige andere, von den großen Dachverbänden unabhängige Gewerkschaften zusammengeschlossen sind. Vor 1999 hieß der Dachverband Groupe des Dix (Gruppe der Zehn), doch da er heute 32 Gewerkschaftsorganisationen umfasst, schien der alte Name nicht länger angemessen...
Eine ausführliche Darstellung zu den SUD-Gewerkschaften und dem Dachverband Solidaires findet sich bei:
Bernard Schmid: SUD und Solidaires - Linksalternative Basisgewerkschaften in Frankreich, enthalten in : PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Nr. 130 (Themenheft: Gewerkschaften: Zur Sonne, Zur Freiheit?), erschienen im März 2003, Verlag Westfälisches Dampfboot.
Frage: Am Dienstag, den 13. Mai sind die Beschäftigten des privaten und des öffentlichen Wirtschaftssektors in Frankreich zum Streik gegen die Renten"reform" aufgerufen. Das beschlossen sechs Gewerkschaftsorganisationen anlässlich eines Treffens am 23. April. SUD-Solidaires stehen nicht unter dem gemeinsamen Aufruf der sechs...
Annick Coupé: Einfach deswegen, weil wir zu besagtem Treffen der "großen" Gewerkschaftsbünde nicht eingeladen waren, vor allem, weil die CFDT gegen unsere Präsenz opponiert. Das hindert uns nicht daran, unsererseits ebenfalls zum Aktionstag am 13. Mai aufzurufen.
Allerdings denken wir, dass es nicht genügt, lediglich zu 24-stündigen Arbeitsniederlegungen aufzurufen. Wir plädieren für eine Fortführung von Streiks ab dem 14. Mai, nach dem Prinzip der grèves reconductibles (Anm.: Streikaufrufe, die für die jeweils nächsten 24 Stunden gelten und täglich durch Streikversammlungen für den je folgenden Tag bestätigt werden) , und für die Einberufung von Vollversammlungen der Beschäftigten ab dem Vormittag des 14. Mai.
Damit stehen wir nicht allein. Bei der Eisenbahngesellschaft SNCF etwa ruft neben uns der Gewerkschaftsbund Force Ouvrière (FO) dazu auf. Bei den Finanzämtern ruft die Mehrheitsgewerkschaft SNUI, die Mitglied im Dachverband Solidaires ist, zusammen mit den anderen Gewerkschaften zur grève reconductible ab dem 14. Mai auf ; die verschiedenen Gewerkschaften dieses Sektors sind bereits in einer intersyndicale (Anm.: einem gemeinsamen Arbeitskampf-Ausschuss, der Mitglieder aller beteiligten Gewerkschaften umfasst) zusammengeschlossen. In den Schulen ruft die große Lehrergewerkschaft FSU ebenfalls zu einer Fortführung von Streiks ab dem 14. Mai auf.
Frage: Die LehrerInnen waren bereits in den letzten Tagen im Streik. So führten sie am 6. Mai ihre vierte landesweite Arbeitsniederlegung seit dem Beginn des Schuljahrs im vorigen Herbst durch. Im Département Seine-Saint-Denis, in der Pariser Vorstadtzone, waren die LehrerInnen bereits Wochen vorher im Ausstand...
Annick Coupé: Nicht nur dort, sondern auch in Montpellier, Toulouse, Marseille sowie im Großraum Bordeaux. Die Lehrergewerkschaften, darunter die Mitgliedsorganisationen der FSU, verbinden ihre Anliegen, die Probleme des Bildungssektors betreffen, offensiv mit der Frage der Renten"reform". Sie machen die "Reform" überall zum Thema, und suchen die Zusammenarbeit mit den Protestierenden in anderen Sektoren.
Frage: Wie beurteilen Sie die Situation im gewerkschaftlichen Bereich ? Seitens des Dachverbands CFDT hat man den Eindruck, dass es ihm vor allem darum geht, noch ein wenig Einfluss auf den Inhalt der "Reform" zu nehmen - aber nicht, wirklich gegen diese zu mobilisieren...
Annick Coupé: Die CFDT hat von Anfang an wenig Zweifel daran gelassen, dass sie bereit ist, die wichtigsten Grundsätze des Regierungsprojekts zur "Reform" zu akzeptieren, wie vor allem die Verlängerung der Beitragszeiten - und dass sie daran glaubt, die Regierungspläne positiv beeinflussen zu können. Sie wird daher die Opposition gegen die "Reform" so schnell wie möglich aufgeben, sobald sie glaubt, das aus ihrer Sicht noch Mögliche "herausgeholt" zu haben. Die CGT, der andere große Dachverband, steht uns näher, was die inhaltlichen Forderungen betrifft. Unterschiede gibt es hingegen auf der Ebene der Aktionsformen: Die CGT plädiert dafür, falls der Aktionstag am 13. Mai erfolgreich verläuft, einen neuen Demonstrationstag am 25. Mai - einem Sonntag - anzusetzen.
Dagegen sagen wir: Wenn zwischen dem 13. und dem 25. Mai nicht viel passiert, sondern lediglich die beiden Aktionstage geplant werden, dann werden wir uns in einer extrem schwierigen Situation gegenüber der Regierung befinden. Das Kabinett soll am 28. Mai den Gesetzentwurf beschließen... Und wenn wir in der wichtigen Auseinandersetzung um die Renten verlieren, dann wird die rechte Regierung das nutzen, um gleich weiter in die Offensive zu gehen. Ein Teil ihrer Parlamentarier fordert bereits, die Debatte um eine Teilprivatisierung der Krankenversicherung zu eröffnen.
Frage: Was den Inhalt der Regierungspläne selbst betrifft: Inwiefern ist damit zu rechnen, dass die Regierung noch "Ballast" abwirft, wieviel Spielraum hat sie dafür ? Beispielsweise sieht das Regierungsprogramm - nach dem, was Sozialminister François Fillon am 24. April im Fernsehen verkündet - eine garantierte Mindestrente für die Kleinlohn-Empfänger in Höhe von 75 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns SMIC (Anm.: das wären ungefähr 700 Euro pro Monat) vor.
Doch Anfang dieser Woche ließ der Chef der neuen konservativen Einheitspartei UMP, Alain Juppé, in der Presse durchblicken, man könne ja über eine Anhebung auf 80 bis 90 Prozent reden - wohl, um mit der CFDT inšs Geschäft zu kommen, die derzeit von einem Wert "so nahe an 100 Prozent wie möglich" spricht...
Annick Coupé: Die Regierung weiß sehr genau, worauf sie hinaus will und was ihre wichtigsten Ziele sind - das betrifft sowohl die Verlängerung der Beitragsdauer als auch die allgemeine Senkung des Rentenniveaus. Zweifellos ist sie zugleich bereit, am Rande noch einige Zugeständnisse zu machen, die von vornherein eingeplant sind, um über Verhandlungsmasse zu verfügen.
Nehmen wir etwa die Frage der garantierten Rentenhöhe. Diese liegt heute für die SMIC-Empfänger bei um die 85 Prozent. Das bedeutet, dass es gar keine Verbesserung wäre, sondern nur eine Erhaltung des jetzt bestehenden Zustands, wenn die Regierung in ihrem Fall auf ein Nivau von 85 Prozent gehen würde. Doch Vorsicht : Das garantierte Rentenniveau ist natürlich daran geknüpft, dass die Betreffenden die erforderliche Zahl von Beitragsjahren vorweisen können. Das sind derzeit 37,5 Jahre für die öffentlich Bediensteten und 40 Jahre für die Beschäftigten im Privatsektor. Nach den Vorhaben der Regierung aber werden es bald 41 Jahre (Anm.: ab 2012) und dann 42 Jahre (Anm.: ab dem Jahr 2020) sein, bei schrittweiser Anhebung. Für jedes fehlende Beitragsjahr aber wird es Abzüge geben - nach dem Gesetzentwurf, den François Fillon am Mittwoch vorlegte, in Höhe von 6 Prozent. Mit den heutigen Ausbildungszeiten und der Arbeitslosigkeit werden damit beileibe nicht alle die Voraussetzungen erreichen, unter denen die 85 Prozent garantiert wären.
Frage: Kann man Ihrer Ansicht nach eher optimistisch, oder muss man eher pessimistisch sein bezüglich den Aussichten der Mobilisierung? Um sich herum hört man heute des öfteren, dass jüngere Leute - selbst politisch bewusste - wenig Problembewusstsein bezüglich der Renten"reform" haben, weil das für sie weit weg zu sein scheint. Oder weil manche es gar "normal" finden, "länger zu arbeiten, wenn wir auch länger leben". Kann man mit dieser Frage wirklich genügend Mobilisierung erreichen ?
Annick Coupé: Natürlich gibt es einen Erklärungsbedarf, beispielsweise gegenüber den jüngeren Generationen, seitens der Gewerkschaften. Darauf setzt die Regierung, die zudem ihre Reform mitten im Sommer verabschieden will, um den 20. Juli - sie setzt darauf, dass es dann schwierig sein wird, dagegen zu mobilisieren. Das lehrt die Erfahrung der voraus gegangenen Renten"reform" von 1993, die im August verabschiedet worden war. Aber mir scheint, die jüngeren Leute werden sich doch ziemlich klar darüber bewusst, was das für sie bedeutet, da sie genau wissen, in welchem Alter sie heute - mit den jetzigen Schul-, Studien- und Ausbildungszeiten - inšs Erwerbsleben eintreten, und wieviele Jahre sie theoretisch Beitrag zu zahlen hätten.
Heute sind wir in deutlich besserer Situation als noch vor zwei oder drei Monaten. Damals glaubten noch viele, dass nur die öffentlich Bediensteten betroffen seien, denn die Regierung sprach damals in der Öffentlichkeit vor allem davon, ihre Beitragsdauer an jene der Beschäftigten im Privatsektor (Anm.: von 37,5 auf 40 Jahre) anzugleichen. Jetzt, wo die Regierung ihre Pläne auf den Tisch gelegt hat, sieht man klar, dass die "Reform" bei weitem nicht nur die öffentlich Bediensteten angeht.
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