letzte Änderung am 10. Juni 2003 | |
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La chienlit, so nannte der General und damalige Präsident de Gaulle mitten im Mai 1968 die Protestbewegung und ihre Ausdrucksformen. Der Ausdruck bedeutet wörtlich "Bettscheißerei" (chie-en-lit) , aber allgemeiner auch "Chaos" oder "Saustall". Er wird seit 1534 von Ordnungsliebhabern auf ihnen ungenehme politische Agitation oder Unruhen angewendet. Richtig berühmt ist der Ausdruck aber heute vor allem deswegen, weil de Gaulle ihn auf dem Höhepunkt des Mai 1968 auf die damaligen Ereignisse angewendet hat. Wo der Deutsche - in den Augen der entsprechenden Leute - "sein Nest beschmutzt", da scheißt der Franzose eben gleich inıs Bett. Auch eine Methode.
Für die Linke unterschiedlicher Schattierungen hingegen ist der Mai 1968 zum positiven Bezugs- und Kristallationspunkt geworden. Die radikale Linke hat sich im und durch den Mai 1968 für die kommenden anderthalb Jahrzehnte neu formiert (obwohl sie sich, jedenfalls in Frankreich, bereits zuvor auf einen harten Kern von Theoretikern und Aktivistinnen stützen konnte). Mit allem, was dazu gehört: Kiffer und Kader, Aktivisten und Anarchisten, Spinner und Spitzel...
Kurz, es dürfte sich beim Mai 1968 mit hoher Wahrscheinlichkeit um die sympathischste Periode handeln, die Westeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom NS erlebt hat. Grund genug, um sich die Ereignisse und ihre Ursachen von damals ein wenig näher anzugucken.
Langweilig - so beginnt in Frankreich das berühmte Jahr 1968. Jedenfalls, wenn man der Pariser Abendzeitung Le Monde Glauben schenkt. Diese titelt am 26. Januar jenes Jahres: Quand la France s`ennuie (Wenn Frankreich sich langweilt).
Einige Monate später soll es dann doch noch spannender zugehen: Im Quartier Latin werden die Autos zu Barrikaden geschichtet. Die altehrwürdig-verknöcherte Sorbonne wird Wochen lang Schauplatz wild entbrannter Besetzerdebatten sein. Ihre Mauern sind über und über mit Wandzeitungen wie in der chinesischen Kulturrevolution bedeckt. Auch im Odéon-Theater nächtigen junge Leute wochenlang. Einen Monat später: Ein paar Kilometer außerhalb von Paris katapultieren die Renault-Arbeiter von Flins Schraubenbolzen auf die anrückende Polizei, um die Räumung des besetzten Werks zu verhindern. Auf Seiten der Verteidiger ertrinkt ein Gymnasiast beim Sturm auf die Fabrik. Bei der nachfolgenden Demonstration im Zentrum von Paris verzeichnen die Chronisten 400 Verletzte, 1.500 Festnahmen und die Errichtung von 72 Barrikaden. Im jurassischen Montbéliard fallen Schüsse rund um die Peugeot-Werke. Ereignisreiche vier Wochen nehmen ihr Ende.
Und so kam es dazu.
Um seine These abzustützen, vergleicht der Autor von La France sıennuie - Pierre Viansson-Ponté - die Situation in Frankreich und der übrigen Welt. "Die Jugend langweilt sich", schreibt er über deren französische Ausgabe. "Die Studenten demonstrieren, bewegen sich, kämpfen in Spanien, in Italien, in Belgien, in Algerien, in Japan, in den USA, in Ägypten, in Deutschland, selbst in Polen. (...) Die französischen Studenten beschäftigen sich mit der Frage, ob die Mädchen von Nanterre und Antony freien Zugang zu den Zimmern der Jungs haben werden. Eine alles in allem doch reduzierte Vorstellung von den Menschenrechten."
Ob der Verfasser des Leitartikels seinen Fehler später erkannt haben wird, ist nicht überliefert. Denn er irrt gründlich: Genau dort, wo er nur gesellschaftliches Desinteresse und Resignation in`s Private vermutet, ist in jenen Tagen - gewissermaßen - eine Zündschnur am Brennen. Die Lunte wird allerdings noch einige Wochen Zeit benötigen.
Nanterre und Antony sind zwei Trabantenstädte in der Pariser Banlieue, auf deren Boden in den Sechziger Jahren Wohnheime für Studierende errichtet worden waren. In Nanterre liegen sie in unmittelbarer Nachbarschaft zur dortigen Universität, die zur gleichen Zeit aus dem Boden gestampft worden war: Bis heute liegt sie eingekeilt zwischen Plattenbauten, zwei Schnellbahnlinien und einer Autobahn. Die Wohnheime und der Campus selbst sind insofern modern, als sie funktional und rational entworfen sind - freilich abweisend und kommunikationsfeindlich, zumal an soziale Einrichtungen des Studentenlebens wie Cafés und Buchläden damals nicht gedacht worden war. Gleichzeitig ist das Leben dort - auf autoritäre Weise - nach archaischen Moralvorstellungen, die in den 60er Jahren längst nicht mehr der Lebenswelt der jungen Generation entsprechen, strukturiert.
Das Studenten- und das Studentinnenwohnheim von Nanterre sind, obwohl räumlich dicht beieinander, strikt voneinander getrennt: Besuche im jeweils anderen Teil sind verboten. Der Staat, der die Oberaufsicht über die Hausordnung hat, regelt das Wohnheimleben bis in kleine Details hinein.
Hier setzen die ersten widerständigen Handlungen an: Die Kette der Protestaktionen wird am 21. März 1967 eröffnet, als männliche Studenten - Mitglieder einer Selbstorganisation der Wohnheiminsassen - spät am Abend in das Studentinnenwohnheim eindringen. Sie werden dort die Nacht verbringen, um drei Uhr früh werden wüste politische Kommuniqués verlesen. Die herbei gerufene Polizei umlagert am nächsten Vormittag das Wohnheim, wird jedoch ihrerseits von immer zahlreicher werdenden Studierenden umringt.
Von diesem Zeitpunkt ab hat sich ein harter Kern herausgeschält, der an der Universität von Nanterre aktiv bleiben wird. Am 8. Januar 1968 besucht der französische Sport- und Jugendminister François Missoffe den Campus von Nanterre, um das - heute noch in seiner Mitte liegende - Hallenschwimmbad einzuweihen. Frech stellt ihn dort ein Student mit feuerrotem Haarschopf zur Rede, ein gewisser Daniel Cohn-Bendit, Mitglied einer kleinen Anarchogruppe. Auf 300 Seiten seines kurz davor veröffentlichten Buches, bemängelt der respektlose Vorsprecher, habe Missoffe kein einziges Mal "die sexuellen Probleme der Jugend" erörtert. Die Antwort des Ministers wird Furore machen: "Mit Ihrem Gesicht hätte ich auch derartige Probleme, nutzen Sie das Schwimmbad lieber nicht."
Ab jetzt wird Nanterre nicht mehr zur Ruhe kommen. Am 21. März 1968 wird ein Student aus Nanterre bei einer außeruniversitären Aktivität festgenommen: 200, meist jugendliche Demonstranten hatten an einer Entglasungsaktion bei der Pariser Niederlassung von American Express teilgenommen, bei der auch Parolen zur Unterstützung der vietnamesischen Befreiungsbewegung FNL - besser bekannt als Vietcong - gemalt wurden. Gut eine Woche zuvor hatte die bis dahin größte US-Militäroffensive im umkämpften Vietnam begonnen; in jenen Tagen explodierten in Paris auch mehrere Plastikbomben vor den Niederlassungen US-amerikanischer Banken und Fluggesellschaften. Als unmittelbare Reaktion auf die Verhaftung besetzen rund 150 Studierende am Abend das zentrale Verwaltungsgebäude in Nanterre.
In jener Nacht wird die "Bewegung des 22. März" geboren. Verschiedene, bisher verfeindete Gruppen - mit mal eher anarchistischen, mal trotzkistischen oder auch maoistischen Sympathien - schließen sich in ihr als gemeinsamer Trägerorganisation zusammen. Die Universitätsverwaltung von Nanterre wird im April zeitweise die Tore schließen und ab 2. Mai für den gesamten weiteren Verlauf den Ereignisse den Betrieb einstellen, da sie es nicht mehr schafft, der Ereignisse nicht mehr Herr zu werden.
Von nun ab vollzieht sich die Ausbreitung der Bewegung fast automatisch. Um gegen die polizeiliche Repression auf dem geschlossenen Campus von Nanterre zu protestieren, begibt sich eine Delegation aus Nanterre am 3. Mai in den Innenhof der Sorbonne, im historischen Zentrum von Paris. Beide Universitäten unterstehen zu jener Zeit noch einer gemeinsamen Oberverwaltung, jener des Rektors der Sorbonne. Konkreter Anlass ist ferner die Vorladung von acht Studierenden aus Nanterre vor den Disziplinarrat der Universität, der - aufgrund der gemeinsamen Verwaltung - an der Sorbonne ansässig ist. Die Solidarität der Studierendenschaft soll eingefordert werden. Aufgerufen dazu hat die nationale Studierendengewerkschaft UNEF - in der es eine KP-nahe Mehrheit und einen linkeren Minderheitsflügel gibt -, die jedoch nicht richtig mobilisiert hat. Nur rund 300 Studierende sind zusammen gekommen. Unter ihnen befinden sich die künftigen Wortführer der "Bewegung", und später auf Jahre hinaus der radikalen Linken: Daniel Cohn-Bendit, Alain Krivine, Daniel Bensaïd oder Henri Weber.
Diese rüsten sich mit Helmen und Stangen aus, als die Nachricht kommt, die rechtsextreme Schlägerorganisation Occident rücke an - deren Kohorte war jedoch unterwegs durch die Polizei gestoppt worden. Der Rektor verfällt in Panik, lässt die Hörsäale schließen und die Polizisten in den Innenhof der Sorbonne eindringen. Nachdem die Demonstranten bereits freien Abzug ausgehandelt hatten, verhaftet die Polizei - nachdem sie einmal auf die Straße zurück gekehrt sind - hunderte von Protestierern, um ihre Personalien auf der Wache festzustellen.
Angesichts des als brutale Machtdemonstration erscheinenden Einsatzes kommt es zur spontanen Solidarisierung unter den übrigen Studierenden, die Zeugen wurden. Junge Frauen stürzen sich auf Polizisten, die ersten Steine fliegen. Die Studenten weichen zurück inıs Quartier Latin, wo das Tränengas der Polizei auch unbeteiligte Anwohner und Passanten trifft. Bei Schlagstockeinsätzen werden Cafétische abgeräumt und Gäste verletzt, Bewohner des Viertels versuchen in ihr Haus zu gelangen oder die Verhaftung ihrer Kinder zu verhindern. Die spontane Solidarität erzeugt die explosive Mischung, die in den kommenden Tagen detoniert. Das Quartier Latin erlebt seine ersten Barrikadennächte ; die Beteiligten bedienen sich dabei - in zunächst spielerischer Form - der historischen Kostüme voraus gegangener Revolutionen und Revolten, die ihre materielle Funktion eingebüßt haben, aber ihren festen Platz im kollektiven Gedächtnis einnehmen. Denn "militärisch" haben die Barrikaden im Mai 1968 keinen Sinn: Die aufständische Jugend hat es nicht mit berittenen Truppen zu tun, und die Polizisten umgehen die Barrikaden entweder einfach zu Fuß, oder sie beseitigen sie mit Hilfe von Räumpanzern. Aber zugleich - während sie sich der Symbole älterer historischer Momente bedienen - schaffen die Beteiligten ihrerseits ein neuartiges Ereignis, ein neues historisches Symbol.
Die polizeiliche Repression wird ihrerseits zum Auslöser einer weit über das studentische Milieu hinaus reichenden, gesellschaftlichen Solidarisierung. Die Gewerkschaften CGT und CFDT ergeifen die Initiative, für den 13. Mai, einen Montag, zu einem Generalstreik aus Solidarität für die studentischen Repressionsopfer aufzurufen. Zugleich wird damit ein explizit politisches Datum gewählt: Es handelt sich um den 10. Jahrestag des Militärputschs im französischen Algerien, durch welchen der General de Gaulle 1958, von Algier aus, die Macht in der niedergehenden Vierten Republik ergriff. Zunächst mit dem Versprechen, das Blatt im Kolonialkrieg doch noch siegreich zu wenden, auch wenn Charles de Gaulle sich drei Jahre später in dieser Frage zum Realismus bekehrt hatte. Die autoritäre Präsidialrepublik der Cinquième République wurde durch diesen Gründungsakt inıs Leben gerufen.
Zehntausende - Studierende, Jugendliche, aber auch Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder - demonstrieren an jenem 13. Mai zusammen in Paris. Doch der eintägige Generalstreik wird zum Auslöser für einen Prozess, der den Gewerkschaftsführungen alsbald über den Kopf wächst. Am folgenden Tag beginnen die ersten Betriebsbesetzungen. Am 14. Mai wird der "rote Betrieb" Sud-Aviation, eine Flugzeugbau-Firma in der Nähe von Nantes und alte anarchosyndikalistische Hochburg, besetzt. Sud-Aviation gibt das Signal: Am 15. Mai streikt Renault-Cléon, und am 16. Mai greift die Streik- und Besetzungswelle auf die anderen Standorte von Renault über. Die Initiative geht oftmals von jungen, gewerkschaftlich unorganisierten Arbeitern aus, denen das Akkordsystem und die damit verbundene Fabrikdisziplin zum Hals heraushängt. Aber sie wird vom organisierten, erfahrenen Teil der Arbeiterklasse übernommen.
Die strukturkonservativen Apparate der etablierten Linksparteien und der mit ihnen verbundenen Gewerkschaften werden in den kommenden vier Wochen ihre Mühe und Not haben, ihre Stellung als "berufene Vertreter" zu behaupten. Vor allem die Kommunistische Partei bekommt es rasch mit der Angst zu tun, da sie auf die rasch anschwellede Protestbewegung nicht vorbereitet war und fürchtet, jegliche Kontrolle über sie zu verlieren. Die - damals noch eindeutig von ihr abhängige - CGT handelt am 27. Mai das "Abkommen von Grenelle" mit Regierung und Arbeitgebern aus, um dem Ausstand in den Fabriken ein Ende zu setzen. Als Eingangsforderung bei Eröffnung der Verhandlungen verlangt die CGT die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns SMIG (später, ab 1970, wird er SMIC heißen) um 30 Prozent. Doch prompt bietet der Arbeitgeberverband, der damalige CNPF, seinerseits 35 Prozent an - und geht damit über die CGT-Forderung noch hinaus -, die dann auch tatsächlich beschlossen werden. Die Kapitalvertreter interessiert nämlich zu dem Zeitpunkt nur Eines: Die blöden Streiks und Betriebsbesetzungen sollen (jammer) doch bitte bitte endlich aufhören! Die CGT soll möglichst für Ordnung sorgen! Über das zu erzielende Abkommen hatten sich die CGT und die Regierung, dank der Vermittlung durch den jungen Staatssekretär im Sozialministerium - einen gewissen Jacques Chirac - vorab bereits im Geheimen abgesprochen. Die Parteien können sich daher relativ rasch einigen.
Doch CGT-Generalsekretär Georges Séguy muss am nächsten Tag in der gewerkschaftlichen Hochburg Boulogne-Billancourt - am Hauptsitz von Renault - feststellen, dass das ausgesprochen unpopulär ist. Eigentlich war er gekommen, um zur Wiederaufnahme der Arbeit aufzufordern; angesichts einer stürmischen Atmosphäre wird er jedoch mitten in seiner Rede plötzlich das Gegenteil erklären. Die wichtigsten Großbetriebe - wie Renault in Flins - werden erst Mitte Juni durch die Polizei geräumt werden. Die Arbeiter des Automobilherstellers nehmen ab dem 18. Juni wieder die Arbeit auf. Auf dem Höhepunkt des Ausstands hatten rund 8 Millionen Arbeiter gestreikt.
Brach der Pariser Mai 1968 also wie ein Blitz aus heiterem Himmel herein? Hat der historische Zufall die Fährte von den Schlafzimmern in Nanterre bis in die besetzte Sorbonne gelegt, eine unwahrscheinliche Verkettung von Ereignissen das stärkste soziale Erdbeben in der französischen Nachkriegsgeschichte ausgelöst? Natürlich nicht. Die wichtigsten kollektiven Akteure, die im Mai in Handlung traten, existierten zumeist schon in den Jahren davor. Und alle gesellschaftlichen Voraussetzungen waren beisammen, damit ein geeigneter Auslöser entsprechende Folgen produzieren konnte. Und so konnte eintreten, was Daniel Cohn-Bendit damals so ausdrückte: "Ein Funke löst mitunter einen Steppenbrand aus."
Tatsächlich war der eingangs beschworene, "langweilige" Charakter des spätgaullistischen Frankreichs nur eine gefällige Oberfläche, unter der es oftmals brodelte. Der Spätgaullismus an der Macht, das bedeutet Mitte der 60er Jahre: eine schwer erträgliche Mischung aus technisch-funktionaler, zweckrationaler Modernität und stickiger, beklemmender gesellschaftlicher Enge. Das gilt vor allem auf der Ebene der Familienstrukturen. Bis 1965 durfte eine verheiratete Frau in Frankreich nicht einmal ein Bankkonto ohne Einwilligung ihres Ehemanns haben. Verhütungsmittel waren seit 1919 - dem Jahr der Chambre bleu horizon, der ultrareaktionären und nationalistischen Mehrheit der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg - gesetzlich verboten. Erst im Dezember 1967 lockerte die Loi Neuwirth das Verbot; schamhafterweise wurden die dafür notwendigen Ausführungsdekrete durch die Regierung zum Teil noch bis 1972 hinausgezögert. Im Privatleben sollte Frankreich sich so verhalten wie "Tante Yvonne", die Ehefrau von Präsident Charles de Gaulle: bigott, frömmlerisch und keusch.
Zugleich katapultierte Frankreich sich seit Mitte der 50er Jahre in großen Schritten voran in die technische Moderne: Eine nachholende Industrialisierung des Landes, das bis dahin nur wenige industrielle Zentren rund um einige Großstädte gekannt hatte, sorgte für zweistellige Wachstumsraten pro Jahr. Ganze Städte wurden am Reißbrett geplant, mit strikter funktionaler Trennung in Arbeits-, Schlaf- und Einkaufsviertel. So entstanden die Planungen für dieVilles Nouvelles am äußeren Rand des Ballungsraums Paris, oder Vitrolles bei Marseille. Für ihre Hauptstadt planten die Regierungen Ende der Sechziger Jahre sogar, den Canal Saint-Martin - die grüne Ader im Pariser Osten - komplett zu überdeckeln und eine Stadtautobahn darüber zu legen. Doch als es in den frühen Siebziger Jahren so weit gewesen wäre, wollten die Anwohner nichts (mehr) davon wissen.
Gesellschaftliche Konflikte schienen so, im Rahmen einer entpolitisierten Technokraten-Rationalität, gelöst oder zumindest verbannt. Unter der Oberfläche freilich blieb der Klassenkonflikt virulent, zumal die gesellschaftlichen Unterschiede sich trotz der rasanten Entwicklung nicht verkleinert hatten, sondern durch die lange Phase "sozialen Friedens" seit den frühen Sechzigern sogar stark gewachsen waren.Der stalinisme à la française wirkte zwar innerhalb der Arbeiterschaft als Ordnungsfaktor. Aber mit der Gründung der CFDT im November 1964 war der CGT eine gewerkschaftliche Konkurrenz erwachsen, die in den ersten Jahren offen schien für sozialutopische Ansätze, für neue Themen wie Lebensqualität, Umweltschutz oder Ablehnung der Atomenergie und sich nicht auf Lohnfragen beschränken wollte. Dadurch geriet Bewegung in die soziale Landschaft. Die CFDT wurde auch zu einem der Hauptträger der Ereignisse im Mai 1968, weit stärker als die CGT. In späteren Jahren allerdings wurden durch ihre sozialdemokratische bzw. neoliberale Rechtswende viele interessante Ansätze ihrer Frühzeit restlos gekappt. (Der Erbe jenes Geists findet sich freilich in den linken Basisgewerkschaften SUD.)
Auf der Linken standen, außerhalb der realsozialistischen KP und der - damals ohnehin durch ihre Regierungsbeteiligung während der Kolonialkriege stark diskredierten - Sozialdemokratie, radikalere und fantasievollere Kräfte zur Verfügung. Der Kern der prägenden Kräfte des Mai 1968 hatte sich bereits ein knappes Jahrzehnt davor herausgebildet. Libertäre Kommunisten, Trotzkisten und Linkssozialisten, aber auch fortschrittsfreundliche Linkskatholiken hatten während des Algerienkriegs eine wichtige Rolle gespielt: Der Staatsmacht und einer scharfen polizeistaatlichen Kontrolle trotzend, hatten sie oftmals illegale Unterstützung für die algerische Unabhängigkeitsbewegung geleistet. Späte historische Ehre erwiesen worden ist diesen, damals meist unbekannt gebliebenen, Internationalisten im vorigen Jahr durch das Buch von Sylvain Pattieu: Les camarades des frères (Die Genossen der Brüder). In den politischen Mobilisierungen gegen den Algerienkrieg spielte die Studentengewerkschaft UNEF eine Schlüsselrolle, aber auch die damals gegründete linkssozialistische Partei PSU. Beide sollten auch im Mai 1968 eine Rückgratfunktion in der Bewegung einnehmen. Die PSU allerdings sollte bald darauf daran zerbrechen, dass sie sich nie richtig zwischen einem radikal linken und einem, wie man heute sagen würde, "rot-grünen" Flügel hatte entscheiden können.
Daneben entstanden in den 50er und frühen 60er Jahren - auch dank dieses Milieus, das durch die antikolonialen politischen Kämpfe strukturiert worden war - linke intellektuelle Zirkel, beispielsweise rund um die Zeitschrift Socialisme et barbarie oder um die Revue Arguments. Ihre Animateure kamen aus Dissidentenkreisen innerhalb der französischen KP oder hatten trotzkistischen Kleinparteien der 40er Jahren angehört, sich jedoch später freigeschwommen. Eine Rolle als Hefe im Teig der radikalen Gesellschaftskritik spielte auch die Situationistische Internationale, die ursprünglich von einer künstlerischen Kritik ausgegangen war - aber bald dazu überging, alle möglichen Bereich der sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildenden modernen Warengesellschaft (Konsum, Freizeitgestaltung, Zurichtung des Individuums, Städtebau...) einer scharfen Kritik zu unterziehen. Ihre Aktionen - die oft ein revolutionäres Maximalprogramm in den Vordergrund stellten, was ihnen geringe Breitenwirksamkeit versprach, aber zugleich auf Schwachstellen und Ausblendungen in der Gesellschaftskritik anderer linker und linksradikaler Strömungen hinwies - wirkte wie ein anspornender Stachel im Sitzfleisch der Linken.
Nicht zuletzt ist ein weiterer wichtiger Faktor zu erwähnen: Die Präsenz einer Generation junger Juden und Jüdinnen, die durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Schicksal ihrer Familien unter dem Holocaust berührt worden war. Nie wieder, meinten diese jungen Intellektuellen und Aktivisten, würde politische oder gesellschaftliche Indifferenz und Teilnahmslosigkeit möglich sein - vor allem, wenn es gegen den Faschismus gehe, den sie wie andere Angehörige ihrer Generation oftmals in verschiedenen Gegnern ihrer Zeit verkörpert sahen, wie etwa den Verantwortlichen für die US-Politik in Vietnam. Dieser spezifische Zugang zu politischem Engagement hat dem Pariser Mai 1968 einige seiner wichtigsten Köpfe beschert¨: Alain Krivine (der selbst als Zweijähriger knapp der Deportation entrann), Daniel Cohn-Bendit, Alain Geismar, Daniel Bensaïd oder auch Bernard Kouchner. Manche von ihnen sind noch heute führende Köpfe (Krivine) oder Theoretiker (Bensaïd) der radikalen Linken in Frankreich - auch wenn andere im neoliberalen Fahrwasser (Cohn-Bendit) oder auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie und bei der Befürwortung westlicher Kriege (Bernard Kouchner) gelandet sind. Ein israelischer Autor namens Yaïr Auron hat ihnen 1998 eine hoch spannende Studie gewidmet: Les juifs d'extrême gauche en mai 68 (Die Juden der radikalen Linken im Mai 68), Untertitel: "Eine Generation, die durch die Shoah geprägt wurde".
Fener spielte auch die internationale Aufbruchsstimmung eine entscheidende Rolle, die mit dem Entkolonialisierungsprozess und dem ihn anfänglich begleitenden emanzipatorischen Überschuss (der über die real stattfindenden Staatsgründungsprozesse hinauswies) einher ging. Die Rolle des Algerienkriegs in diesem Zusammenhang wurde bereits benannt. Auch nach Lateinamerika waren viele Augen gerichtet. Eine Schlüsselrolle aber spielte der Vietnamkrieg. Hinzu kam eine Projektion, die von den mit den realen Vorgängen im betreffenden Land ziemlich stark abstrahiert haben mag: Die damalige Rezeption der chinesischen Kulturrevolution (1966 - 69). Dass jene aus der Ferne, wo man die störenden hässlichen Aspekte des Mao`schen Staatssozialismus nicht wahrzunehmen brauchte, wesentlich besser aussah als aus der Nähe, dürfte unbestritten bleiben. Dennoch hat diese Projektion am Anfang eine Katalysator-Funktion gehabt, weil sie den Eindruck eines internationalen Aufbruchs aufkommen ließ - im Sinne von: In Vietnam wird Widerstand geleistet, in China ist ein revolutionärer Prozess mit vielen Millionen Menschen im Gange - "es ist möglich", die Verhältnisse umzustürzen, was machen wir hier? - Dennoch macht das die Politik des Mao-Regimes nicht wirklich besser... Und das Auseinanderklaffen des Eindrucks, den die westliche Jugend 1968 von ihr hatte, und der Wirklichkeit vor Ort sollte es ab Mitte der Siebziger Jahre ehemaligen jugendlichen Rebellen mit nunmehriger Aussicht auf Karriere erleichtern, ihrer Abschied von den revolutionären Idealen von einst zu feiern. Damals schlug die Geburtsstunde de "antitotalitären" Intellektuellen und so genannten Neuen Philosophen, jener ärmlichen Figuren à la Alain Finkielkraut oder Stéphane Courtois, die stets nur ihren eigenen Konformismus zum - realen oder vermeintlichen - "Geist der Zeit" zelebrierten.
Und was ist geblieben vom Mai 1968 ? Einiges. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Moral, der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten hat die Schockwelle des Mai-Bebens in den darauf folgenden Jahren vieles aufgebrochen. Die frühen Siebziger Jahre sahen - unter einer konservativen Regierung, deren Basis sich dagegen sträubte - eine Reihe echter Reformen als Spätfolgen von mai soixante-huit : die Herabsetzung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre (1974), die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die Loi Veil (1974) oder die Lockerung der bis dahin extrem erschwerten, und nur bei nachgewiesener "Schuld" eines Partners überhaupt möglichen, Ehescheidung (1975). Ab Dezember 1974 wird die Krankenkassenfinanzierung der Anti-Baby-Pille eingeführt, auch für Minderjährige ohne Erfordernis der Genehmigung durch die Eltern. Hingegen ist die Veränderung des ökonomischen Systems , die für viele aktiv am Mai Beteiligten wie selbstverständlich damit hätte einhergehen sollen, bekanntlich ausgeblieben. Vielmehr hat das kapitalistische Gefüge es geschafft, den durch 1968 ausgelösten Schub an Individualisierung und Flexibilisierung im gesellschaftlichen Rahmen zu integrieren und sich selbst zunutze zu machen - durch Auflösung kollektiver Garantien oder bessere Ausnutzung intellektueller Ressourcen.
Wird dies das letzte Wort bleiben? Das muss die Zukunft zeigen. Alain Krivine, im Mai 1968 in vorderster Linie dabei, sagt mittlerweile gerne: "Heute gäbe es eigentlich noch viel mehr Gründe zu rebellieren, als wir damals hatten - wir kannten keine Massenarbeitslosigkeit, kein Tschernobyl und keinen Le Pen." Aber das ist ein anderes Kapitel.
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