letzte Änderung am 3. Juni 2002 | |
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Die schlechte Nachricht zuerst: Er sei "100 Prozent auf der Linie Notat",
paraphrasierten die französischen Medien am Freitag eine Aussage des neuen
Generalsekretärs des französischen Gewerkschaftsbunds CFDT. Deren
45. Kongress hatte von Montag bis Freitag in Nantes stattgefunden. Mit, nach
Eigenangaben, rund 850.000 Mitgliedern ist die CFDT - neben der ehemals KP-nahen
CGT - einer der beiden größten Gewerkschaftsbünde in Frankreich.
Und falls die offiziellen Zahlen stammen, derzeit sogar der größte.
Zugleich verfügt die CFDT unter allen französischen Dachverbänden
auch über die besten Beziehungen zu den deutschen Gewerkschaften oder dem
Europäischen Gewerkschafsbund (EGB).
Am Donnerstag abend (30. Mai) hatte der neue Generalsekretär der Organisation,
François Chérèque, Sohn eines ehemaligen bekannten CFDT-Funktionärs
und späteren Regierungspräfekten in Lothringen, die bisherige Chefin
Nicole Notat abgelöst. Notat hatte die Geschicke der Gewerkschaftsorganisation
seit 1992 ein Jahrzehnt lang geführt.
Unter Nicole Notat hatte die CFDT ihre stramme Rechtswende zu einer sozialpartnerschaftlichen,
"verantwortungsvollen" Politik des Dialogs mit Regierung und Argeitgebern
zu Ende geführt. Die Ursprünge dieser Politik liegen etwas länger
zurück.
In den 70er Jahren war die CFDT eine eher linksalternativ geprägte Gewerkschaft,
die von links her den auf rein materielle (Lohn))Forderungen beschränkten
Charakter der CGT-Politik in Frage stellte und Themen wie Ökologie oder
Dritte Welt-Solidarität thematisierte. Vorübergehend galt die CFDT
als "Laboratorium" für neue Ideen. Diese Phase folgte auf die
Entkonfessionalisierung der ehemals christlich geprägten Gewerkschaft,
die sich 1965 vom katholischen Gewerkschaftsbund CFTC abspaltete. Die autogestion
(Selbstverwaltung durch die Arbeitenden), mit der in Arbeitskämpfen der
frühen 70er Jahre experimintiert wurde - etwa in der Uhrenfabrik Lip, die
1973/74 rund ein Jahr lang bestreikt und durch die Beschäftigten selbstverwaltet
wurde - war damals in den Diskurs der CFDT eingegangen.
Doch ihr Verhältnis zur Politik bereitete der CFDT Schwierigkeiten. Während
die CGT tendenziell durch die französischen KP kontrolliert wurde, setzte
die CFDT in den den frühen 70er Jahren auf die neben der KP neu aufstrebende
Kraft auf der Linken, den Parti Socialiste (PS). 1974 nahm die CFDT an den Assises
du socialisme, dem Generalkongress der französischen nicht-kommunistischen
Linken unter Federführung eines Teils des PS, teil. Sozialistische und
kommunistische Partei schienen zusammen an die Regierung zu gehen, CGT und CFDT
die Pendants in der gewerkschaftlichen Landschaft zu bilden. Doch 1977 platzte
das Bündnis der beiden Linksparteien: der PS rückte zu sehr nach rechts
und unter die Fittiche der deutschen SPD, die KP rutschte unter die Kontrolle
der realsozialistischen "Bruderparteien" zurück. Auch die Zusammenarbeit
von CFDT und CGT erlitt einen Rückschlag.
Von dieser Phase ab begann die CFDT, ihre Enttäuschung gegenüber der
Politik zu kultivieren. Der CFDT-Kongress 1979 gab das Signal zum recentrage
(ungefähr: Neudefinition des Schwerpunkts), den Generalsekretär Edmond
Maire ausgerufen hatte. Der Wahlsieg der Sozialdemokratie im Mai 1981 brachte
nochmals eine Phase politischer Euphorie mit sich. Zahlreiche wichtige Funktionsträger
der CFDT wechselten in sozialdemokratische Ministerien und Regierungsämter.
Doch die Bilanz der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung, die nach einer
anfänglichen Reformära mit der "Wende zur Austerität"
um den Jahreswechsel 1982/83 das Ruder jäh herumriss, leitete eine Ära
der politischen Frustration ein.
Die Folgerung, die der CFDT-Apparat daraus zog, lautete: Nie wieder Politik,
nie wieder Hoffnung auf "große", gesamtgesellschaftliche Veränderung.
Stattdessen sollte die Mikroebene, jene des einzelnen Betriebs, in den Mittelpunkt
gerückt werden. Aus Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Global-
und Transformationsstrategien wurde nunmehr der "Dialog", die Verhandlungs-
und Komrpomissbereitschaft gegenüber Arbeitgebern und Kapitalverbänden
in den Mittelpunkt gestellt. Jeder ideologische Bezug auf den Sozialismus wurde
gestrichen, die CFDT erließ auch keine Wahlaufrufe für irgend eine
Partei mehr.
In den 90er Jahren stellte die CFDT die Arbeitszeitpolitik völlig in den
Mittelpunkt ihres Wirkens: Die Verhandlung über Verkürzungen der Wochen-
oder Jahresarbeitzeit (notfalls mitsamt Flexibilität und Arbeitszeitkonten)
sollte die Beschäftigungsförderung sichern. Damit lag die CFDT auf
der Linie, welche die damalige Rechtsregierung im Jahr 1996 mit der Loi Robien,
einem Gesetz vom 11. Juni 1996, vorgegeben hatte. Dieses sah freiwillige Abkommen
zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften vor, die vom Staat subventioniert würden.
Die Verhandlungspartner würden dabei unter sich die "Gegenleistungen"
für die Arbeitszeitverkürzung aushandeln: eine "gemäßigte"
oder gar regressive Lohnpolitik, verstärkte Flexibilität...
Die "Links"regierung unter Lionel Jospin setzte zwar auf genau die
gleiche "sozialpartnerschafliche" Technik, um zur Arbeitszeitverkürzung
zu gelangen. Allerdings setzte sie, ab Oktober 1997, dennoch die politische
Vorgabe, dass bis 2000 (bzw. bis 2002 für die kleineren Betriebe) eine
verkürzte Wochenarbeitszeit von 35 Stunden im Durchschnitt, oder von 1600
Stunden im Jahr, im gesamten Land umgesetzt sein müsse. Im Gegenzug winkten
erneut staatliche Subventionen, bzw. erhebliche Nachlässe für die
von Unternehmen abzuführenden Sozialabgaben, falls ein entsprechendes Abkommen
zwischen einem Arbeitgeber und den "repräsentativen" Gewerkschaften
in seinem Betrieb geschlossen werden kann.
Das geltende französische Arbeitsrecht macht es möglich, dass auch
eine minoritäre Gewerkschaft ein für alle Beschäftigten verbindliches
Kollektivabkommen unterzeichnen kann, soweit sie als "repräsentativ"
gilt. Das ist eine Folge der Koexistenz unterschiedlich ausgerichteter Gewerkschaftsorganisationen,
aber historisch auch Ausdruck des politischen Willens, die ehemals hegemoniale
CGT umgehen zu können. Allerdings haben die beiden "Aubry-Gesetze"
zur 35-Stunden-Woche, welche die Linksregierung 1998 und 1999 vom Parlament
verabschieden ließ, als neue Bedingung für die staatliche Subventionierung
von 35-Stunden-Kollektivabkommen eingeführt, dass letztere von einer oder
mehreren Mehrheitsgewerkschaften im Betrieb unterzeichnet werden müssen.
D.h.. die Unterzeichner müssen zusammen mindestens die Hälfte der
Stimmen, die bei der letzten Betriebswahlen abgegeben wurden, repräsentieren.
Damit sollte einerseits der CFDT eine zentrale Schlüsselrolle eingeräumt
werden. Zum anderen sollte auch die CGT an den Verhandlungstisch bewegt und
zu einer "sozialpartnerschaftlicheren" Politik bewegt werden. Falls
das Kriterium der Mehrheitsfähigkeit der Unterzeichner nicht erfüllt
wird, bleibt das Kollektivabkommen allerdings rechtsgültig und für
alle Beschäftigten verbindlich. Es öffnet lediglich nicht die Tür
für die genannten staatlichen Subventionen. In der Praxis finden sich unterschiedliche
Situationen vor. Die großen Betriebe, denen es finanziell gut geht, verzichten
oftmals freiwillig auf die Subventionen und ziehen es vor, mit besonders rechten
oder "kompromisswilligen" (Minderheits-)Gewerkschaften Abkommen zu
schließen, die oft ausgesprochen beschäftigtenfeindlich sind, etwa
in Bezug auf eine extreme "Flexibilität" in Gestalt variabler
Arbeitszeiten. In kleineren Betrieben hingegen ist die Tendenz stärker,
die Kriterien zu erfüllen, um an die Subventionen heranzukommen. Aber hier
sind auch die Gewerkschaften insgesamt deutlich schwächer, und oftmals
weniger radikal, weil die anti-gewerkschaftliche Repression in den Kleinbetrieben
am stärksten ist. Mit einer besonders "kompromissbereiten" Politik
hat die CFDT es in den letzten Jahren geschafft, in besonderem Maße in
diesen - oft gewerkschaftsfeindlichen - Kleinbetrieben Fuß zu fassen,
in denen andere Gewerkschaften auf große Schwierigkeiten treffen. Hierin
liegt die Wurzel des Erfolgs bei deR CFDT in der Mitgliederwerbung: Während
der gewerkschaftliche Organisationsgrad in anderen Organisationen seit den 80er
Jahren zurückgeht (der Generalstreik in den öffentlichen Diensten
1995 hat diese Entwicklung freilich vorübergehend aufgehalten), hat die
CFDT seit Mitte der 90er Jahre nicht unbedeutende Mitgliederzuwächse zu
verzeichnen. Diese liegen vor allem im privaten Wirtschaftssektor, und dort
vor allem in den mittleren und kleineren Betrieben. Die Grundlage dieser Mitgliederwerbung
in jenen Bereichen ist freilich nicht immer ausgesprochen klassenkämpferischer
Natur. Die CFDT wirbt seit den 90er Jahren auch besonders erfolgreich um die
"weißen Kragen", leitenden Angestellten und Manager.
Dennoch opponierte ein Teil des Arbeitgeberlagers gegen die 35-Stunden-Reform
der Jospin-Regierung. Zwar wussten viele Arbeitgeber-Vertreter dessen "Chancen"
im Hinblick auf eine zunehmende "Flexibilisierung" der Arbeitszeiten
(je nach den Bedürfnissen des Unternehmens), aber auch im Hinblick auf
eine "gebändigte" Lohnpolitik, zu nutzen. Dennoch blieb eine,
auch sehr stark ideologisch motivierte, Oppositionshaltung zurück : Man
wollte sich schlicht und einfach überhaupt nicht durch die Politik in "seine"
Angelegenheiten hineinreden lassen. Die Tatsache, dass überhaupt eine politische
Vorgabe (Einführung der 35-Stunden-Norm als "gesetzliche Regelarbeitszeit"
von 1997 bis 2002) und ein entsprechender gesetzlicher Rahmen existierte, wurde
bereits als Zumutung dargestellt. In der Propaganda der Kapitalverbände,
genau wie auch der konservativen und liberalen Parteien, ist deshalb stets von
einer "zentralistischen, starren, autoritären Maßnahme"
die Rede. Dabei stellt die Aubry-Reform das genaue Gegenteil davon dar : Eine
Gesetzgebung, die nur wenig inhaltliche Vorgaben setzt, sondern die konkrete
Ausgestaltung der 35-Stunden-Woche (bzw. des 1.600-Stunden-Jahres) den lokalen
Kräfteverhältnissen von Betrieb zu Betrieb überlässt. Und
das im Wissen, dass die Gewerkschaften in Frankreich - bei einem Organisationsgrad,
der im Landesdurchschnitt nur 8 Prozent beträgt, und einer starken anti-gewerkschaftlichen
Repression vor allem in mittleren und Kleinbetrieben - nicht in der Lage sein
würden, negative Auswirkungen in vielen Unternehmen zu verhindern. Vorangegangene
Gesetzgebungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hatten daher oft
weit stärkere politische Vorgaben gesetzt, was - angesichts der geschilderten
Situation und der bestehenden Kräfteverhältnisse - auch durch die
Mehrheit der Gewerkschaften begrüßt wurde. Doch die Jospin-Regierung
wollte davon wegkommen und zu einem "sozialpartnerschaftlichen" Deal
mit dem modernisierungsbereiten Flügel der Kapitalverbände, sowie
dem "kompromissfreundlichen" Teil der Gewerkschaften gelangen.
Doch man muss hinzufügen: Der CFDT-Apparat hat, vor allem seit Jahresbeginn
2002, sich den geschilderten Diskurs der liberal-konservativen Opposition zu
eigen gemacht. Auch hier prangerte man eine "autoritäre, zentralistische"
Regierungspolitik an, die "über die Sozialpartner hinweggehe".
Bereits vor den Wahlen des Frühjahrs 2002 hatte die CFDT sich bereit erklärt,
"unter Sozialpartnern" über eine Lockerung der "starren
Gesetzgebung" zu verhandeln. Genau das wird die neue Rechtsregierung unter
Jean-Pierre Raffarin, sofern sie siegreich aus den Parlamentswahlen vom 9. und
16. Juni hervorgeht, nunmehr in die Wege leiten. Der neue Arbeits- und Sozialminister
der Rechten, François Fillon, hat bereits einen - sehr kurzen - Gesetzestext
vorgelegt, der im Falle eines Wahlsiegs des bürgerlichen Blocks noch im
Herbst 2002 verabschiedet werden soll. Dieser sieht vor, dass die Sozialpartner
- vor allem in den mittleren und kleineren Betrieben - über eine Erleichterung
und Verbilligung von Überstunden verhandeln können. Im Gegenzug will
die Rechtsregierung die Gesetzgebung zur 35-Stunden-Reform von 1998/99 nicht
förmlich abschaffen. Das wird sie auch gar nicht nötig haben : Deren
Nachteile ("sozialpartnerschaftlich" vereinbarte Flexibilität)
lassen sich ja beibehalten, die bisherigen Vorteile - eine verkürzte Arbeitszeit
im Wochen- odeR Jahresmaßtab - würden durch die angestrebte "Lockerung"
der Überstundenpraxis ohnehin aufgehoben.
Die CFDT wird ohne jeden Zweifel ein zentraler Partner in den anstehenden Verhandlungen
sein, die vor allem in den mittleren und kleineren Betrieben in dieser Richtung
anlaufen werden.
Es ist also kein Wunder, dass die bürgerliche Rechte Nicole Notat ausgesprochen
schätzt - mehr jedenfalls als die Sozialdemokraten, gegen die die damalige
CFDT-Chefin im Prinzip Rechtsopposition übte. Im Frühjahr 2002, vor
dem Sieg von Jacques Chirac bei der Präsidentschaftswahl, hatte der damalige
Generalsekretär des Präsidentenamts, Dominique de Villepin - der mittlerweile
zum Außenminister der Rechtsregierung befördert wurde - öffentlich
den Wunsch geäußert, Nicole Notat als Premierministerin einer konservativ-liberalen
Regierung zu sehen. Auch verschiedene Presseorgane, darunter das Wirtschaftsmagazin
Expansion, hatten in den ersten Wochen des Jahres eine entsprechende
Kampagne betrieben: Notat als "oberste Reformerin" solle ein hohes
politisches Amt übernehmen. Zu dem Zeitpunkt war bereits klar, dass Notat
anlässlich des CFDT-Kongresses vom 27. bis 31. Mai nicht erneut für
das Amt der Generalsekretärin kandidieren würde.
Doch die Betroffene hatte stets die Übernahme politischer Funktionen abgelehnt.
Notat wirkt eher als Ideologin denn als Parteipolitikerin, und möchte sich
nicht die Möglichkeiten parteiübergreifender Einflussnahme verscherzen.
So versucht sie auf die französische Sozialdemokratie Einfluss zu nehmen.
Beispielsweise begrüßte sie am 20. Februar dieses Jahres in den Reihen
der konservativen Tageszeitung Le Figaro das zu Jahresbeginn erschienene
Buch des früheren Wirtschaftsministers unter Jospin, Dominique Strauss-Kahn
(Minister von 1997 bis 1999, er musste wegen einer Bestechungsaffäre -
es ging u.a. um Rüstungsexporte - zurücktreten, ist heute aber wieder
im Kommen). Sie erklärte in dem Gastbeitrag ihren Wunsch, die Ideen des
sozialliberalen Flügelmanns für eine "moderne Linke" sollten
die französische Sozialdemokratie der Zukunft hoffentlich prägen,
während der traditionssozialistische "Dogmatismus" von ihr verdammt
wurde.
Vorübergehend kursierten auch Gerüchte, Notat sei für einen Posten
in der EU-Kommission in Brüssel bestimmt. Nach einigen Wochen wurden aber
auch diese Gerüchte dementiert. Stattdessen wird Notat nun künftig
an der ³Spitze einer europäischen Agentur für soziale und ökologische
Bewertungen² stehen, die Unternehmen entsprechende Labels oder Zensuren auf
sozial- und umweltpolitischem Gebiet erteilt. Damit sollen Arbeitgeber dazu
animiert werden, im Rahmen der Globalisierung gewisse Mindeststandards in ihr
unternehmerisches Handeln zu integrieren. Dies soll in den Augen von Nicole
Notat als Modell für eine "positive Regulierung der Globalisierung"
dienen.
Zugleich behält die ehemalige CFDT-Chefin auch andere Aufgabenfelder bei.
So ist sie Mitglied des - vor gut einem Jahr gegründeten - Institut Montaigne,
eines ausgesprochen wirtschaftsliberalen Think tanks, dem u.a. auch der Vorstandschef
des Versicherungsgiganten Axa, Claude Bébéar, angehört. Daneben
zählt sie auch zum Conseil d¹orientation, einer Art Aufsichtsrat mit politischen
Funktionen, der "Stiftung Unser Europa" (Fondation Notre Europe).
Diese wurde vom ehemaligen EG-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der
aus dem sozialliberalen Flügel der französischen Sozialdemokratie
steht, ins Leben gerufen. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich auch
hier nicht um eine besonders sozial subversive Vereinigung.
Es hat immer Opposition gegen diesen Kurs innerhalb der CFDT gegeben, und es
gibt sie auch heute noch. Zunächst hat die Entwicklung des Dachverbands,
von der selbstverwaltungs-sozialistischen Gewerkschaft der 70er Jahren zur "modernistisch"-sozialliberalen
Organisation der 90er, zahlreiche ehemalige Aktivisten am Wegrand gelassen.
Aus den Ausgeschlossenen und Ausgetretenen haben sich vielerorts die linksalternativen
Basisgewerkschaften SUD (Solidaires, Unitaires, Démocatriques) geformt,
die seit der Streikwelle in den öffentlichen Diensten 1995 einen fast kontinuierlichen
Aufschwung erleben und mittlerweile auch im privaten Wirtschaftssektor Fuss
fassen konnten.
Die ersten beiden SUD-Gewerkschaften entstanden aus der Ausschlusswelle, die
1988 unter den streikenden Postangestellten und Krankenschwestern erfolgte -
der CFDT-Apparat versuchte beide Bewegungen zu zerschlagen, da sie mit der sozialliberalen
Regierung unter Michel Rocard damals auf gutem Fuß stand. (Rocard hatte
1974 ebenfalls, wie die CFDT, eine Schlüsselrolel bei den Assises du
socialisme - siehe oben - gespielt, und hatte später auf vergleichbare
Weise seinen Frieden mit dem Neokapitalismus gemacht. Zahlreiche Kader des heutigen
Führungsapparats der CFDT kommen aus der näheren Umgebung Rocards.)
Die ausgeschlossenen Aktivistengruppen bildeten die Gewerkschafts-Neugründungen
SUD-PTT (bei Post und Telekom) sowie CRC (im Gesundheitswesen). SUD-PTT ist
heute bei der Post und bei France Télécom die zweitstärkste
Gewerkschaftsorganisation hinter der CGT, bei France Télécom erhält
sie gut 25 Prozent der Stimmen bei Betriebsratswahlen. Die CRC heißt heute
SUD-Santé (SUD-Gesundheitswesen) und ist ebenfalls erfolgreich, wenngleich
weniger stimmenmächtig bei Personalratswahlen.
Bei jedem größeren sozialen Konflikt der letzten Jahre hat die CFDT
einen Teil ihrer Aktivistenbasis am Wegesrand gelasse - und zugleich andernorts
neue Mitglieder, auf einer anderen sozialen und politischen Basis (siehe oben),
geworben. Der Höhepunkt der Spannungen innerhalb der CFDT lag im Herbst
1995, als die Streikwelle in den öffentlichen Diensten gegen die "Reform"
der Sozialversicherungssysteme durch die konservative Regierung unter Alain
Juppé stattfand. Nicole Notat und die Mehrheit der CFDT-Führung
unterstützten die neokonservative "Reform". Ein Drittel der CFDT-Strukturen
opponierten damals gegen den Führungskurs und nahmen, gegen den Willen
der Leitung des Dachverbands, an der Streiks teil. Zugleich wurde Nicole Notat
zwei mal mit Gewalt aus gewerkschaftlichen Großdemonstrationen in Paris
hinausbefördert: auf dem Höhepunkt des Streikherbst 1995, am 24. November
jenes Jahres, sowie ein Jahr später anlässlich eines Demonstrations-
und Aktionstages der im öffentlichen Dienst Beschäftigten am 17. Oktober
1996. Ihre Teilnahme wurde, aus leicht nachvollziehbaren Gründen, als unannehmbare
Provokation gewertet. Daran waren jeweils in erster Linie oppositionelle Mitglieder
der CFDT selbst beteiligt.
Die massive Protestbewegung der Erwerbslosen zum Jahreswechsel 1997/98 sorgte
ebenfalls für Unmut innerhalb der CFDT. Die CFDT-Chefin Nicole Notat stand
damals an der Spitze der, durch die "Sozialpartner" paritätisch
verwalteten, Arbeitslosengeld-Kasse UNEDIC. Und hatte dort einen eisernen Sparkurs
auf Kosten der Erwerbslosen gefahren, der dem Interesse der Arbeitgeber an einer
möglichst starken Senkung der abzuführenden Arbeitgeber-Beiträge
entgegenkam. Zweieinhalb Jahre später war es ebenfalls die CFDT-Führung
unter Notat, die - neben dem kleinen katholischen Gewerkschaftsbund CFTC - das
Abkommen unter "Sozialpartnern" zur Reform der Arbeitslosenversicherung
unterzeichnete. Dieses Abkommen vom Sommer 2000 führt den PARE ein, den
"Plan zur Rückkehr an einen Arbeitsplatz". Demnach müssen
Erwerbslose künftig einen individuellen Eingliederungsvertrag unterschreiben,
um überhaupt noch Recht auf Erwerbslosengeld haben. Daraufhin werden sie
künftig weit stärker als bisher unter Druck gesetzt, irgendeinen Job
- nicht unbedingt nach ihren Wünschen - anzunehmen, andernfalls drohen
Sanktionen bis hin zur (befristeten oder unbefristeten) Streichung des Arbeitslosengelds.
Infolge dieser Vereinbarung trat die - bis dahin sehr aktive - CFDT-Gewerkschaft
der Arbeitsämter, die CFDT-ANPE, aus dem Dachverband aus und positionierte
sich als unabhängige Organisation auf dem linken Flügel der gewerkschaftlichen
Landschaft neu. Sie hat mittlerweile auch ihren Namen geändert und heißt
nunmehr SNU-ANPE (für Syndicat National Unifié). Sie kooperiert
heute in einem lockeren Verbund mit den SUD-Basisgewerkschaften und der eher
linken Lehrergewerkschaft FSU.
Die zahlreichen Austritte unter Aktivisten haben zugleich die innerverbandliche
Opposition in den Reihen der CFDT gespalten und geschwächt. Anlässlich
des vorletzten CFDT-Kongresses, im Dezember 1998 in Lille, konnte die rechte
Vorstandsmehrheit unter Nicole Notat über ihre KritikerInnen triumphieren.
In den Wochen nach dem Kongress von Lille löste sich der Oppositionellen-Verband
Tous ensemble ("Alle zusammen"), der nach einer weit verbreiteten
Streikparole aus dem Herbst 1995 benannt war, sang- und klanglos auf.. Die Niederlage
der CFDT-Linken schien endgültig besiegelt. Freilich blieben einige Sektoren
des Gewerkschaftsverbands fest in der Hand der Linken, die dort eine - von der
zentralen Führung weitgehend unabhängige - Politik verfolgen kann.
Das gilt beispielsweise für die mitgliederstarke Transport-Föderation
der CFDT, die FGTE.
Hingegen erschien es nach dem Kongress vom Dezember 1998 als aussichtslos, noch
um die Ausrichtung der Spitze des Dachverbands CFDT zu kämpfen. Dies gilt
nach wie vor: Es exisitiert auch heute keine strukturierte Opposition, die zum
Ziel hätte, eine anders geartete globale Orientierung der CFDT als solcher
durchzusetzen. Wer dies in der Vergangenheit versucht hat, dürfte mittlerweile
längst verzweifelt und ausgetreten sein.
Doch neue innergewerkschaftliche Widerstände kommen unterdessen an`s Tageslicht,
die nicht aus der gewerkschaftspolitisch bewussten und in einer Strömung
zusammengefassten, traditionellen CFDT-Opposition heraus erwachsen, sondern
gewissermaßen mitten aus der Basis heraus. So interpretiert beispielsweise
die Wirtschafts-Tageszeitung La Tribune vom 31. Mai dieses Jahres die
Ergebnisse des jüngsten CFDT-Kongresses, der am gleichen Tag in Nantes
zu Ende ging: "Da die Opponenten gegen die Führungsriege zu den SUD-Gewerkschaften
oder zur CGT gegangen sind oder aber zu sehr geschwächt wurden, schien
die Gewerkschaftsorganisation sehr konsensgeprägt geworden zu sein. Aber
nur scheinbar. Der Kongress von Nantes hat neue Debatten in ihrem Inneren hervortreten
lassen."
So stimmte eine starke Minderheit von gut 46 Prozent für einen Resolutions-Antrag,
der sich dafür aussprach, in Gewinn erwirtschaftenden Unternehmen für
die Verhinderung börsenbedingter Kündigungen (Danone lässt grüßen)
zu kämpfen - und nicht nur ihre Folgen zu verwalten, in Gestalt der Aushandlung
von Sozialplänen. Die Geschäftsgrundlage der CFDT-Politik besteht
just aus der Aushandlung solcher Folgewirkungen, während die aufgrund von
Kapitalinteresse und "Globalisierung" getroffenen Grundentscheidungen
als solche um Gottes willen nicht in Frage gestellt werden sollen. Die offene
Rüge für die bisherige CFDT-Haltung konnte durch eine knappe Mehrheit
der Kongressdelegierten (viele von ihnen sind hauptamtliche Beschäftigte
des Apparats) gerade noch verhinderten werden. Daneben stimmten auch 37 Prozent
gegen die Orientierung des CFDT-Apparats, der Einführung privater Rentenfonds
als festem Bestandteil der Altersrente zuzustimmen, wenn nur eine minimale gewerkschaftliche
Beteiligung an der Verwaltung dieser Fonds erzielt werden kann. Ebenfalls 37
Prozent stimmten für ein Festhalten an einer festen Entlohnung der Arbeitsleistung
als Hauptbestandteil der Lohnpolitik, während die sozialliberale Mehrheit
der Ansicht ist, dass etwa der "Steuerkredit" (den die Jospin-Regierung
im Frühjahr 2001 einführte, eine Art staatlichen Zuschusses zu Billiglöhnen
im Rahmen einer Form von Kombilohn) als fester Einkommensbestandteil mitgerechnet
werden soll.
Notat wurde im übrigen am Mittwoch, dem dritten Kongresstag, durch einen
Teil der Delegierten ausgepffifen. Anlass war, dass sie erklärte, die Führung
habe es "nicht für nötig erachtet", die Frage einer Rückkehr
zu einer Renten-Beitragszeit von 37,5 Jahren auf die Tagesordnung der Debatten
und Abstimmungen zu setzen. Die konservative Regierung von Edouard Balladur
hatte die Beitragsdauer 1993 für den privaten Wirtschaftssektor von 37,5
auf 40 Jahre hochgesetzt. Die Absicht der nachfolgenden Rechtsregierung unter
Alain Juppé - im Rahmen der ³Reform² der Sozialkassen - , den gleichen
Beschluss auch für die öffentlichen Dienste umzusetzen, hatte im Herbst
1995 mit zur sozialen Explosion geführt. Für die öffentlichen
Dienste war das Vorhaben damals zurückgezogen worden. Der konservative
Diskurs versucht seitdem, Neid und Zwietracht unter den Beschäftigten zu
säen, indem auf die Ungleichbehandlung und "Privilegien" zugunsten
der öffentlich Bediensteten verwiesen wird. Viele Gewerkschafter antworten
darauf, indem sie die Forderung auf die Tagesordnung setzen, auch die Maßnahme
der Rechtsregierung von 1993 für den privaten Sektor abzuschaffen. Doch
von solch "dogmatischen" Forderungen will die CFDT-Führung nichts
hören. Ein zweites Debattenthema, das die Kongressleitung ebenfalls aus
den Resolutionsentwürfen verbannt hatte, das aber in zahlreichen Delegierten-Beiträgen
angesprochen wurde, betrifft die Frage der prekären Beschäftigungsverhältnisse.
Der neu im Amt befindliche CFDT-Generalsekretär François Chérèque
scheint auf alle Fälle die Gewähr dafür zu bieten, den bisherigen
Kurs der Notat-Politik in seinen Grundzügen fortzusetzen. Nicht nur, weil
"die Zarin" - so lautete ihr Spitzname in den Reihen der CFDT (la
tsarine), aufgrund ihres autoritären Führungsstils - ihren Nachfolger
selbst ausgewählt hat. Notat war im Sommer 2000 auf Chérèque
zugegangen. Sondern auch, weil der neue Generalsekretär bisher an der Spitze
der CFDT-Föderation im Sektor des Gesundheitswesens stand. Damit hatte
Chérèque konkret die Auswirkungen der CFDT-Politik zu verwalten,
die den "Reform"projekten der konservativen Regierungen ab 1995 (die
durch die Jospin-Regierung ab 1997 ohne größere Brüche weiterhin
umgesetzt wurden) ihre Unterstützung zukommen ließ. Damit war Chérèque
bereits bisher mit den realen Folgen der CFDT-Strategie vertraut, und an ihrer
Umsetzung beteiligt.
Dennoch ist ein gewisser Grad der Lockerung an der Spitze der CFDT möglich.
Notat hatte den Rechtskurs bisher als beinharte Ideologin vorangetrieben. François
Chérèque hingegen hat ein weniger ideologisch verbissenes Profil,
und gilt eher als Pragmatiker im Hinblick auf Verhandlungen. Das macht ihn vielleicht
künftig nicht nur für die Kompromissbereitschaft gegenüber Arbeitgebern
und Regierung anfällig - sondern manchmal auch für Druck aus der eigenen
Basis heraus...
In jedem Falle sind die interessantesten Vorgänge in der CFDT nicht jene,
die sich an der Spitze des Dachverbands abspielen. Von den Figuren dort ist
ohnehin nicht viel Gutes zu erwarten. Aber unter den (wenn die offiziellen Zahlen
stimmen) 865.000 Mitgliedern könnte vielleicht einiges in Bewegung kommen.
Das ist kein Grund, die deutschen Gewerkschaften nicht dafür zu kritisieren,
dass sie unter den unterschiedlichen französischen Dachverbänden bisher
die CFDT mit großem Vorzug behandeln. Etwas Besseres als die offiziellen
Orientierungen der CFDT-Leitung findet sich allemal.
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