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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Neue Proteste der prekären Kulturschaffenden in Frankreich Vor Störungen des Festivals in Cannes? "Bis Mittwoch, in Cannes!" grüßen sich derzeit viele Teilnehmer in den Diskussionsforen im Internet, die im Vorjahr durch die streikenden Kulturarbeiter eingerichtet wurden und seitdem Orte aktiven Austauschs geblieben sind. Nicht, dass die prekär abgesicherten Kulturschaffenden - die intermittents du spectacle jetzt alle Aussicht darauf hätten, bei der Preisverleihung in Cannes die berühmte Treppe hochzusteigen. Aber derzeit ist vollkommen unsicher, ob das Filmfestival an der Côte d¹Azur in diesem Jahr störungsfrei ablaufen wird. Denn nachdem Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres vor einer Woche die neuen Maßnahmen für die intermittents verkündete, kocht erneut die Wut bei den Kulturleuten. Am vorigen Freitag hatten engagierte Kulturschaffende in der Pariser Vorstadt Garges-les-Gonesse, bei der Gesellschaft Filminger, das Aufladen von Filmrollen und anderem Material für das Festival von Cannes blockiert und behindert. Erst das Versprechen der Festivalleitung, der Protestbewegung einen Redebeitrag bei der Eröffnungszeremonie zu gewähren, hatte die Lage zunächst beruhigen können. Aber zugleich sind die Wortführer des Protests, von denen viele der Pariser "Koordination der intermittents und Prekären" und oft zugleich der linken Basisgewerkschaft SUD angehören, gespalten. Während einige das Festival von Cannes als Tribüne für spektakulären Protest nutzen wollen, warnen andere vor Zusammenstößen, die - durch sämtliche Medien übertragen - ein schlechtes Bild von der Protestbewegung vermittelten. Schließlich wird ein Großaufgebot an Polizeikräften und privaten Sicherheitsdiensten erwartet. Und während einige ihr Anliegen auf die Kulturwelt beschränken wollen, sehen andere dagegen die intermittents-Proteste als Angelegenheit der gesamten sozialen Bewegung und vor allem der prekär Beschäftigten insgesamt. Einige von ihnen nahmen am Wochenende des 1. Mai in Mailand an einem europaweiten Treffen der Prekären unter dem Titel "Euro May Day" teil; sie träumen von einer Art "spontanem internationalen Sozialforum" mitten im Gewimmel von Cannes. Unterstützung für Proteste ist auf dem Festival von einigen Prominenten wie Ken Loach, Michale Moore (also den üblichen Verdächtigen), der französischen Regisseurin und Schauspielerin Agnès Jaoui und anderen angekündigt. Die intermittents haben in Frankreich nach einem besonderen System, das zu den Errungenschaft des "Volksfront"- und Generalstreik-Jahres 1936 zählt, Anspruch auf Überbrückungsgelder während ihrer auftraglosen Zeit. Diese wird ihnen nach einem spezifischen Modus aus der Arbeitslosenkasse bezahlt. Die Inanspruchnahme dieser Absicherung auch etwa durch große Fernsehsender die ihre Existenz dazu benutzen, um ihre Beschäftigten zu prekarisieren hat zu einem chronischen Defizit des Systems geführt, derzeit rund 800 Millionen Euro. Eine drastische Reduzierung der Ansprüche auf Überbrückungsgelder, die im Juni 2003 beschlossen wurde, sollte das Problem auf buchhalterische Weise lösen, und den Arbeitgeberverbänden eine Erhöhung ihrer Beiträge zur Arbeitslosenkasse ersparen. Infolge der "Reform" sind derzeit 18.000 der rund 100.000 intermittents akut mit dem Verlust ihrer Existenzgrundlagen bedroht. Präsident Jacques Chirac hatte am 1. April in einer Fernsehansprache, die auf die katastrophale Wahlniederlage seiner konservativen UMP bei den Regionalparlamentswahl folgte, eine teilweise Rücknahme der "Reform" angekündigt. Doch daraus wurde ein jetzt ein "Maßnähmchen", wie die CGT Kultur die den Protest stärker in institutionelle Bahnen lenken will, als die Koordination beklagt. Der Staat will jährlich 20 Millionen Euro in einen Sonderfonds zuschießen, mit dessen Hilfe die dringendsten soziale Notfälle gemildert werden sollen. Aber das macht monatlich nur 93 Euro pro Betroffenen aus. Und das dicke Ende kommt noch, denn wie Kulturminister Donnedieu de Vabre zugleich ankündigte, soll bis im Sommer entschieden werden, welche Kategorien ganz aus der Kategorie der intermittents ausgegliedert werden müssen. Sie sollen künftig dem ungünstigeren Zeitarbeiterstatus unterliegen; so wären Bühnenbauer und techniker oder Kameraleute davon betroffen. Dass Präsident und die Regierung überhaupt etwas an der "Reform" änderten, dürfte vor allem auch daran liegen, dass diese ohnehin durch die Gerichte gekippt zu werden drohte. Im Vorjahr hatten die so genannten Sozialpartner unter Federführung der sozialdemokratisch-neoliberalen CFDT und der Arbeitgeberverbände es sichtbar zu eilig, als Träger der Arbeitslosenkasse die Sparmaßnahme zu beschließen, die dann per Regierungsverordnung für rechtsverbindlich erklärt wurde. Denn ihre Beschlüsse weisen eine Reihe von Rechtsmängel und Formfehlern auf. Der gravierendste unter ihnen: Die zuständigen Gremien bei der Arbeitslosenkasse sind nicht gesetzesgemäß zusammengesetzt. Das hatten findige ProtestaktivistInnen und ihre Anwälte herausgefunden. Aus diesem Grunde drohten alle regressiven "Reformen", die in den letzten Jahren durch die Arbeitslosenkasse beschlossen wurde, annulliert zu werden. Der Oberste Gerichtshof nahm dazu am vorigen Freitag seine Verhandlungen auf. Neben den intermittents waren auch die Arbeitslosen betroffen, deren Ansprüche ebenfalls auf Grundlage einer "Reform" vom Dezember 2002 seit Anfang dieses Jahres schmerzhaft reduziert worden waren. 300.000 von ihnen waren deshalb aus dem Solidarsystem heraus gefallen und in die Sozialhilfe verwiesen worden. Doch wegen der Rechtsfehler hatten Erwerbslose, die gegen den plötzlichen Entzug ihrer Rechtsansprüche geklagt hatten, vor mehreren Gerichten gewonnen zuerst am 15. April in Marseille. Insgesamt hatten 2.050 von ihnen Klage erhoben. Deswegen, und wegen der drohenden Annullierung aller "Reformen" zur Arbeitslosenkasse durch die höchsten Richter, hat die Regierung hier in weiser Voraussicht politischen Ballast abgeworfen. Am Dienstag voriger Woche nahm sie auch die Kürzung der Gelder für die Arbeitslosen zurück. Aber nur für jene, die vor 2003 erwerbslos geworden sind; für die anderen sind ihre Rechtsansprüche verloren. Und obwohl allgemein mit einer Beitragserhöhung für die Arbeitgeber gerechnet worden war, konnten letztere durch erheblichen Druck diese "Zumutung" abwehren. Die Milliarde Euro, welche die Rücknahme der Sparmaßnahme kostet, wird stattdessen aus dem Steuersäckel aufgebracht. Bernhard Schmid, Paris |