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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Frankreich: Regierung lässt zugunsten von Arbeitslosen und Kulturarbeitern sozialpolitischen "Ballast" ab Wenn alle Beteiligten sich freuen, obwohl sie gegensätzliche Interessen haben, dann ist gewöhnlich einer der Angeschmierte. Etwa so präsentierte sich die Situation am Dienstag dieser Woche: Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Erwerbslosenvertreter zeigten sich in unterschiedlichem Ausmaß freilich erfreut über eine Entscheidung von Frankreichs Sozialminister Jean-Louis Borloo. Der Christdemokrat, der erst seit der Regierungsumbildung vor vier Wochen im Amt ist und bisher noch nicht viel von sich reden machte, verkündete die Rücknahme einer Sparmaßnahme zu Lasten der Arbeitslosen. Finanziert wird ihre Rückgängigmachung aber nicht durch eine Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge, wie es allgemein als unausweichlich angesehen wurde, nachdem die Gesamtzahl der Arbeitslosen jetzt wieder auf 10 Prozent geklettert ist ist, sondern aus dem Staatssäckel. Denn die Arbeitslosenkasse UNEDIC schuldete dem Staat noch 1,2 Milliarden Euro (die im Jahr 1993, als die Kasse kurz vor der Pleite und Zahlungsunfähigkeit stand, hatten zugeschossen werden müssen); die wurden jetzt quasi auf den Sankt Nimmerleinstag gestundet. Deswegen die erklärte Zufriedenheit des Kapitalistenverbands MEDEF, der um eine Erhöhung der Arbeitgeberanteile für die Arbeitlosenversicherung - 0,3 Prozent Beitragserhöhung waren im Gespräch - herum kommt. Der Haken Ansonsten gilt: Die Rücknahme der regressiven "Reform" betrifft nur die "Altfälle", also jene, die vor 2003 arbeitslos wurden und die noch mit eigenen Ansprüchen im Solidarsystem sind. Haben sie aber ersteinmal ihre Ansprüche erschöpft (oder Arbeit gefunden), dann ist die Situation aus Sicht der "Reformer" aber bereinigt. Für alle jetzigen, nach Jahresanfang 2003 erwerblos geworden, und die künftigen Arbeitslosen greift die negative "Reform" aber doch. Darin liegt der Haken des jetzt verkündeten Beschlusses! Worum geht es? Die regressive Maßnahme war im Dezember 2002 durch einen Teil der Gewerkschaften, darunter die sozialdemokratisch-neoliberale CFDT, und die Arbeitgeberverbände als paritätische Träger der Arbeitsloskasse beschlossen worden; die Regierung hatte sie bestätigt und damit rechtsverbindlich werden lassen. Ihr Gegenstand war eine drastische Reduzierung der Anspruchsdauer von Erwerbslosen gegen die Kasse. Wem seine früher eingezahlten Beiträge bisher etwa das Recht auf volle 30 Monate Unterstützung (d.h. die Höchstdauer) gaben, der oder die sollte plötzlich nur noch 23 Monate Arbeitslosengeld erhalten. Danach drohte die vom Staat ausbezahlte und ziemlich magere ASS (Allocation spécifique de solidarité), ein Pendant zum deutschen "Arbeitslosengeld II", oder gleich die Sozialhilfe. Da die "Reform" nicht hinreichend publik gemacht wurde, überraschte ihr Inkrafttreten am 1. Januar dieses Jahres viele Betroffene, die von heute auf morgen ihre Unterstützung verloren. Bisher fielen rund 300.000 recalculés, wie man jene Arbeitslosen nennt, deren Ansprüche inmitten ihrer Laufzeit "neu berechnet" worden waren, aus dem Solidarsystem heraus. Konkret: Am 1. Januar waren zunächst 265.000 Personen betroffen, und am Anfang jeden Monats wurden es jeweils 25.000 mehr. Insgesamt hätte die "Neuberechnung" rund 630.000 Erwerbslose betroffen, die vor dem Jahresende 2002 einen Unterstützungs-Anspruch geltend machten, der dadurch nachträglich verringert wurde. Wie bereits erwähnt: Für jene, die nach dem Jahresbeginn 2003 arbeitslos wurden, greifen von Anfang an die neuen Regeln, so dass sie von vornherein nur auf 23 (statt wie früher 30) Monate Anspruch haben. Daran wird sich auch jetzt nichts zum Besseren ändern. Warum die Rücknahme? Doch von Anfang an steckte der Wurm drin, denn die "Reform" wies erhebliche Rechts- und Formmängel aus, da ihre Akteure es sichtbar zu eilig hatten. Am 15. April hatte deswegen ein Gericht in Marseille einer Klage von 35 recalculés Recht gegeben, die auf Wiedereinsetzung in ihre verlorenen Rechte klagten. Das Urteil fiel zwar bisher nur in erster Instanz und war damit noch nicht rechtskräftig, doch bereits drohten weitere Gerichte zu folgen. So fällt am kommenden Dienstag (11. Mai) in Paris ein Richterspruch in ähnlicher Sache; am selben Tag war eine größere Arbeitslosendemo angesetzt. Landesweit sind es insgesamt 2.053 "neu ausgezählte" Arbeitslose (recalculés), die vor den Gerichten Klage erhoben hatten. Von noch höherer Bedeutung war, dass am Freitag, 7. Mai vor dem Conseil d¹Etat (dem obersten Verwaltungsgericht) die Verhandlungen über die Rechtskräftigkeit von Beschlüssen zur Arbeitslosenversicherung beginnen. Vielfach wurde erwartet, dass wegen der juristischen Probleme - so sind beschlussfassende Instanzen nicht rechtmäßig zusammengesetzt - sämtliche Grundsatzbeschlüsse der Arbeitslosenkasse annulliert werden könnten. Das beträfe, neben den recalculés, auch die prekären Kulturschaffenden (intermittents du spectacle). Diese erhalten während ihrer auftraglosen Zeit nach besonderen Regeln, die eine Errungenschaft des "Volksfront"- und Generalstreikjahrs 1936 sind, Überbrückungsgelder aus der Arbeitslosenkasse. Im Vorjahr 2003 wurden diese Ansprüche aber drastisch reduziert. Wiederum durch Zusammenwirken von CFDT, Arbeitgeberlager und Regierung, die sich am 26. Juni 03 auf ein entsprechend regressives Abkommen einigten, das im Anschluss durch die Regierung für rechtsverbindlich erklärt wurde. Auch diese "Reform" schien jetzt vor dem Aus zu stehen. Die Rechte wirft politischen Ballast ab Es ist daher kein Zufall, dass gerade die beiden "Reformen", welche die recalculés und die Kulturarbeiter betreffen, durch die regierenden Konservativen gekippt wurden. Nach ihrer katastrophalen Niederlage bei den Regionalwahlen hatte Präsident Jacques Chirac am 1. April 04 in einer Fernsehansprache einige soziale Zugeständnisse in Aussicht gestellt. Dazu gehörte vor allem das "Überdenken" dieser beiden Reformen. Höchstwahrscheinlich hat Chirac dabei nur an den Punkten sozialpolitischen "Ballast" abgeworfen, an denen die Justiz ohnehin eingegriffen hätte. Nachdem Le Monde am Montag vor einer "gefahrenreichen Woche" für Regierungschef Jean-Pierre Raffarin gewarnt hatte, wurden jetzt diese beiden Steine aus dem Weg geräumt. Am Mittwoch, nach Redaktionsschluss, sollte auch Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabre die neuen Beschlüsse zur Situation der intermittents du spectacle verkünden. Sie sollen das Festival von Cannes retten, das am kommenden Mittwoch (12. Mai) beginnt; einmal mehr waren Protestaktion von intermittents erwartet worden. Erwartet wird, dass die teilweise Rückkehr zu ihren früheren Ansprüchen durch eine vermehrte Belastung der Kommunen etwa als Theaterbetreiber - finanziert werden soll. Bernhard Schmid, Paris |