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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Modell Deutschland: Arbeitszeitoffensive des Kapitals wirkt sich auch auf Frankreich aus

"Das neue rheinische Modell" feiert das Wochenmagazin Valeurs actuelles im Titelthema seiner aktuellen Ausgabe (2. Juli). Die vor allem auf Wirtschaftsthemen und Militärpolitik spezialisierte Zeitschrift ist seit Jahren das Sprachrohr des Rüstungsindustriellen Serge Dassault, der durch seinen jetzt (am 17. Juni 04) durch Brüssel genehmigten Einstieg in die frühere Hersant-Gruppe nunmehr auch ein gutes Drittel der übrigen französischen Presse kontrolliert. Einer Leserumfrage vom Frühjahr zufolge (vgl. Marianne vom 12. April d.J.) wählen 65 Prozent der Leser des Magazins konservativ und weitere 25 Prozent rechtsextrem, d.h. Le Pen. Eine feine Gesellschaft also.

Vorbildwirkung hat die Bundesrepublik, nach Ansicht des Wochenmagazins, derzeit vor allem wegen ihrer Arbeitszeitpolitik. Manchen in der französischen Wirtschaft bringt derzeit Siemens zum Träumen: Der Elektronik- und Rüstungsgigant erreichte am 24. Juni die Unterschrift der Gewerkschaft IG Metall unter ein Abkommen, das die Arbeitszeit in zwei Siemens-Betrieben mit 4.000 Beschäftigten im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) von 35 auf 40 Stunden verlängert ­ ohne Lohnveränderung. Damit nicht genug: Auch das Weihnachts- und das Urlaubsgeld werden abgeschafft und durch eine Prämie, die an die Produktionsergebnisse der jeweiligen Niederlassung des Konzerns gekoppelt ist, ersetzt. Hätte die Gewerkschaft nicht zugestimmt, drohte Siemens die Produktion von Mobiltelefonen nach Ungarn zu verlagern und 2.000 Arbeitsplätze in NRW abzubauen. Jetzt verspricht Siemens die Beibehaltung der Arbeitsstellen, aber nur für zwei Jahre.

"Aufgrund der echten Verflechtung beider Ökonomien", meint Valeurs actuelles, "mit Unternehmen der Spitzentechnologie, die auf beiden Seiten des Rheins arbeiten", könne dieses Signal nicht ohne Auswirkungen auf Frankreich bleiben ­ und zeigt dabei das Foto eines Airbus-Triebswerks, das in Hamburg montiert und in Toulouse eingebaut wird. Das Magazin fügt hinzu: "Ähnliche Verhandlungen sind (in Deutschland) bei Daimler-Benz, Porsche, BMW, Bosch und Philips im Gange" - in Wirklichkeit hat Daimler-Chrysler die Arbeitszeit vieler Mitarbeiter bereits um 18 Prozent erhöht. Nicht zuletzt erinnert es daran, dass ähnliche Tendenzen auch im öffentlichen Dienst in Deutschland am Werk seien. So erhöhten die Bundesländer NRW, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern die Arbeitszeit ihrer Angestellten im öffentlichen Dienst ohne Lohnausgleich.

"Deutschland handelt und reformiert, Frankreich debattiert" wurde am vorigen Freitag (2. Juli) im Wirtschaftsteil des Pariser Figaro moniert ­ neben der Arbeitszeitoffensive gefällt der konservativen Tageszeitung auch die so genannte "Hartz-Reform", die seit dem 1. Juli die Ansprüche der Arbeitslosen drastisch reduziert. Ähnliche Entwicklungen gibt es seit dem Jahr 2000 auch in Frankreich, hier allerdings dank der "Sozialpartner" im Aufsichtsrat der Arbeitslosenkasse (vor allem CFDT und Arbeitgebervertreter); aber östlich des Rheins sind sie weiter fortgeschritten.


Schockwelle in BRD, Österreich, Belgien und Frankreich

Tatsächlich hat die in Deutschland -unter Berufung auf die Konkurrenz der EU-Beitrittsländer, die seit dem 1. Mai dem Binnenmarkt der Union angehören - losgetretene Entwicklung unmittelbare Auswirkungen auf die Nachbarländer.

Neben der BRD sei auch in Frankreich, Belgien und Österreich durch das jüngste Abkommen bei Siemens eine neue Debatte über die Arbeitszeitverlängerung ausgelöst worden, notiert die Wirtschaftszeitung Les Echos.


Bosch als Vorreiter auf französischem Boden

Auf französischem Boden spielt derzeit die Niederlassung des deutschen Bosch-Unternehmens in Vénissieux, einer Vorstadt von Lyon, den Vorreiter. Der weltweit agierende Konzern mit Hauptsitz in Stuttgart produzierte bisher bei Lyon Dieselmotoren, doch diese stehen nicht mit den neuen Umweltverträglichkeitsregeln im Einklang. Um den Standort Vénissieux auf die neuen technischen Normen zu bringen und weiter zu produzieren, verlangte Bosch eine Senkung der Lohnkosten um 12 Prozent ­ sonst könne man auch in die Tschechische Republik gehen. Zwei Gewerkschaften, die rechtssozialdemokratische CFDT und die Vertretung der höheren Angestellten CGC, fanden sich zu einem Abkommen bereit, das die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich von 35 auf 36 Stunden verlängert. Das widerspricht eigentlich geltenden gesetzlichen Regeln, soll aber durch eine Urabstimmung der 820 Beschäftigten bis zum kommenden Dienstag (13. Juli) abgesegnet werden. (Vgl. dazu Les Echos vom 2./3. Juli, S. 2)


Die politische Diskussion in Frankreich

In Frankreich ist eine Arbeitszeitverlängerung per Betriebsvereinbarung schwerer als in Deutschland, da eigentlich ­ anders als in der Bundesrepublik ­ die wöchentliche oder zumindest die Jahres-Arbeitszeit und die Höhe der Überstundenzuschläge gesetzlich festgelegt sind. Im Prinzip sieht ein Gesetz der sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin von 1999 eine gesetzliche Jahresarbeitzeit von 1.600 Stunden vor, was einem Durchschnitt von 35 Stunden wöchentlich entspricht. Um den Unternehmen die "Reform" von 1998/99 schmackhaft zu machen, hatte die Jospin-Regierung zwei Angebote an die Arbeitgeber in ihre Gesetzeswerk aufgenommen: Erstens die Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit ­ je nach Bedarf der Unternehmen ­ im Lauf des Jahres nach oben variieren zu lassen, wenn ein Betriebsabkommen dies vorsieht; und zweitens starke Nachlässe für die Betriebe bei den Sozialabgaben und Lohnnebenkosten und staatliche Subventionen.

Dennoch war ein Teil des Arbeitgeberlagers, teilweise auch aus deuteologisch gefärbten Motiven, die nach der damaligen Arbeitsministerin Martine Aubry benannte Gesetzgebung ­ die Loi Aubry ­ nur schwerlich zu schlucken bereit. Mischte sich doch, aus ihrer Sicht, die Politik ungehöriger Weise in die Privatangelegenheiten der Unternehmer ein. Doch mit den Abgabennachlässen und Subventionen sowie den Flexibilitäts-Möglichkeiten, welche die Loi Aubry erlaubt, konnten viele Arbeitgeber zugleich gut leben. Deswegen war die seit 2002 regierende Rechte auch lange Zeit unentschlossen hinsichtlich der Frage, was mit der "35-Stunden-Reform" passieren solle. Bisher begnügte die neue Regierung sich im Wesentlich damit, sie für die Kleinbetriebe unter zwanzig Beschäftigten faktisch außer Kraft setzen, in denen das neue Gesetz ohnehin erst ab 2002 Anwendung gefunden hätte: Diejenigen kleinen Unternehmen, die es noch nicht umgesetzt hatten, konnten es sich gleich ersparen. Für die mittleren und größeren Betriebe dagegen verabschiedete die konservativ-liberale Regierung im Januar 2003 ein Gesetz, das die Zahl der ohne Sondervereinbarung zulässigen Überstunden von zuvor 130 auf 180 jährlich hochsetzt. Zugleich wird den Branchen erlaubt, per Vereinbarung mit Gewerkschaftsvertretern die Überstunden zu verbilligen und ihre jährliche Anzahl noch zu erhöhen. Bisher kam aber in rund einem Zehntel der 250 französischen Wirtschaftsbranchen eine solche Vereinbarung zustande.  

Doch ein ideologischer Hardlinerflügel innerhalb der Regierungsparteien profilierte sich mehrmals mit der Forderung nach radikalerer Abrechnung mit der "dirigistischen Reform von Martine Aubry". Diese Abgeordneten wollten das Gesetz von 1999 lieber gleich ganz kippen, wie in einem Parlamentsbericht von Hervé Novelli im Frühjahr gefordert wurde, drangen damit aber nicht. Doch Mitte Juni schien der profilierungssüchtige frühere Innen- und jetzige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy sich ihnen anzuschließen. Vor mehreren hundert Parlamentariern wetterte er am 15. 06. heftig gegen die "Absurdität, Milliarden dafür auszugeben, die Franzosen am Arbeiten zu hindern". Später präzisierte er, er wolle die Loi Aubry und die mit ihr verbundenen Subventionen wieder abschaffen und so den Staatshaushalt finanziell entlasten. Als Gegenleistung für die Arbeitgeber sollten die Überstunden verbilligt werden, indem etwa die Lohnzuschläge abgeschafft würden. Daraufhin meldete sich aber sofort der Arbeitgeber-Präsident, Baron de Seillière, in der Wirtschaftszeitung La Tribune (vom 29. Juni) drohend zu Wort. Eine Streichung der seit der "Aubry-Reform" gewährten Abgabensenkungen für die Unternehmen komme nicht in Frage, forderte er, wenngleich er seinerseits das damit dereinst verbundene Ziel der 35-Stunden-Woche deutlich in Frage stellte.

Wahrscheinlich ist also, dass sich die derzeit von Regierungschef Jean-Pierre Raffarin und Arbeits- und Sozialminister Jean-Louis Borloo (siehe das Interview mit dessen Staatssekretär Gérard Larcher in La Tribune vom 5. Juli) favorisierte Lösung durchsetzen wird: Das Arbeitszeitgesetz von 1999 soll demnach nicht einfach gestrichen werden; wohl aber sollen die Branchen oder Betriebe durch von ihnen ausverhandelte "Öffnungsklauseln" eine ­ nach oben hin - abweichende Arbeitszeitpolitik festlegen können. Ein Kompromiss im Sinne der Arbeitgeber, der aber weniger radikal aussieht als die derzeit von "Superminister" Sarkozy hinausposaunte "Lösung".

Bernhard Schmid, Paris


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