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Updated: 18.12.2012 15:51
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Aufruhr in den französischen "Überseegebieten"

Nach neuen Zusammenstößen auf den Antillen am vergangenen Wochenende kehrt dort nun vorerst Ruhe ein. Unterdessen fing es auf der Insel La Réunion an zu rappeln. - Auf Guadeloupe droht die französische Staatsmacht, am "Rädelsführer" des ,Kollektivs gegen Ausbeutung' (LKP) Rache zu nehmen. Sie leitete ein Ermittlungsverfahren gegen ihn, unter dem völlig irren Vorwurf, "Rassenhatz gegen Weiße" betrieben zu haben.

Kaum ist an einem Unruheherd relative Ruhe eingekehrt, bricht am nächsten ein heftiger sozialer Konflikt auf. In den französischen "Überseebezirken" ( départements d'outre-mer , DOM) herrscht seit Wochen sozialer Aufruhr. Auf der Karibikinsel Guadeloupe begann der Generalstreik am 20. Januar 2009, und ging am 5. März dieses Jahres zu Ende. Das Kollektiv, das den Protest trug - Liannay kont pwofitasyon , auf Kreolisch "Zusammen gegen Ausbeutung" - und dem 49 Organisationen angehörten, unter ihnen alle Gewerkschaften auf der Insel, konnte seine Ziele weitgehend erreichen. Nun steht aber noch ein zäher Kampf in den einzelnen Betrieben um die Durchsetzung des Abkommens vom Abend des 4. März, das nicht von allen "Arbeitgebern" anerkannt wird, bevor.

Auf der ebenfalls zu den französischen Antillen gehörenden Insel La Martinique , wo der Generalstreik etwas später anfing - am 5. Februar - ging er voraussichtlich in der Nacht vom Dienstag (10. März) zum Mittwoch, den 11. März zu Ende. Zu dem Zeitpunkt wurde ein Abkommen über die Anhebung aller niedrigen Löhne abgeschlossen; zuvor hatte es zwar bereits ein Rahmenabkommen vor circa 14 Tagen gegeben, aber zwischenzeitlich waren die Verhandlungen zu den näheren Bestimmungen blockiert geblieben. - Auch hier konnten, im Wesentlichen, die Forderungen der Protestbewegung erfüllt werden.

Aber in einem anderen französischen "Überseebezirk", auf La Réunion (im Indischen Ozean zwischen Madagaskar und der Insel Mauritius gelegen), ging der Streik gleichzeitig erst los. Am 5. und 10. März fanden erstmals generalstreiksförmige Arbeitsniederlegungen statt. Am 11. März wurden, nach einer Nacht heftiger Unruhen - in der mutmaßlich 20 Polizisten verletzt wurden und mit scharfer Munition auf einen Gendarmeriebeamten geschossen wurde - in einem "sozialen Brennpunkt" der Stadt Saint-Denis-La-Réunion, die Verhandlungen über die Erhöhung der Löhne und Senkung der Preise wieder aufgenommen.

In allen drei Fällen wechselten sich Phasen breiter sozialer Mobilisierung, in Form von - gemessen an der Einwohnerzahl - riesigen Demonstrationen, ab mit Phasen militanter Auseinandersetzungen. So wurden in den Tagen ab dem 16. Februar auf Guadeloupe Barrikaden errichtet, Straßen abgesperrt, und jugendliche "Aufrührer" schossen mit scharfer Munition. Nach dem Tod eines 48jährigen Gewerkschafters - Jacques Bino, der mutmaßlich von jungen "Hitzköpfen" irrtümlich für einen Zivilpolizisten gehalten wurde - in der Nacht zum 18. Februar kühlte sich die Lage zunächst temporär wieder ab. Heftige Zusammenstöße zwischen Polizei und "Aufrühern" gab es am 6. März auch auf La Martinique - wo die Austragung sozialer Konflikte normalerweise "moderater" abläuft als auf Guadeloupe, wo radikalere politische Traditionen bestehen. Und auf La Réunion erschütterten Riots bereits in der ersten Woche nach Ausrufung des Generalstreiks das Quartier ,Le Chaudron' (Der Kessel), ein Armenviertel der Inselhauptstadt Saint-Denis-la-Réunion.

Das Aufflammen der Gewalt stellte jeweils eine Reaktion auf eine "blockierte Situation" dar, wo die Verhandlungen festzustecken schienen und sich die Staatsmacht zu keinen substanziellen Zugeständnissen bereit erwies. Im Falle von La Martinique bildeten die Unruhen und Konfrontationen mit der Staatsmacht zudem eine Reaktion auf eine Provokation der "Béké", der aus Nachfahren der früheren weißen Sklavenhalter bestehenden Gutsbesitzerkasten, in deren Teile wesentliche Teile der Inselökonomie liegen. Ihre Repräsentanten hatten an jenem Freitag zu einer Kundgebung gegen die Streikenden und ihre Forderungen aufgerufen, was viel böses Blut hervorrief und selbst die französische Zentralregierung nicht entzückt haben dürfte . Allerdings wertete es der neue Chef der Regierungspartei UMP und frühere Pariser Sozialminister (bis Januar 2008), Xavier Bertrand, in einer ersten Stellungnahme als skandalös, dass man "das Demonstrationsrecht" dieser elitären Kaste "nicht respektiere".

In Wirklichkeit ist die politische Klasse in Paris jedoch gespalten: Der französische "Staatssekretär für Übersee-Angelegenheiten", Yves Jégo, etwa hält die politische Linie der reationärsten "Béké"-Kreise für nicht durchsetzbar und zeigte sich in seinen öffentlichen Stellungnahmen von einem "archaischen Patronat" - also einem nicht zeitgemä b auftretenden Arbeitgeberlager - entsetzt. Es einfach zu unterstützen, ist in seinen Augen aus Sicht des französischen Zentralstaats nicht haltbar. Dagegen setzte ein anderer Teil des Regierungslagers offenkundig auf eine repressive "Lösung" und/oder darauf, dass der Ausstand auf den Inseln sich entweder im Laufe der Wochen "totlaufen" oder aber in Gewalt umschlagen würde - welche es erlaube, die Protestierenden zu isolieren oder repressiv niederzuschlagen. Letztere Position scheint lange Wochen hindurch auch jene des Elysée-Palasts unter Präsident Nicolas Sarkozy gewesen zu sein, bevor die Regierung dann letztendlich doch noch eher beruhigend auf das Geschehen einwirkte. Ein sehr schlechtes Zeichen ist allerdings, dass die Staatsanwaltschaft in der Inselhauptstadt Pointe-à-Pitre - auf Guadeloupe - am 6./7. März ein Strafverfahren gegen den (schwarzen) Sprecher des Kollektivs LKP, Elie Domota, einleitete. Dem 42jährigen wird in dem Ermittlungsverfahren, das von Amts wegen eröffnet wurde, "Aufstachelung zum Rassenhass" - so lautet ein Delikttatbestand des französischen Strafgesetzbuchs, vergleichbar dem deutschen Volksverhetzungsparagraphen - vorgeworfen. Gegen Weiße.

Was hatte er verbrochen? Elie Domota hatte jenen Arbeitgebern, die nicht zur Anerkennung und Umsetzung des am 4. März abgeschlossenen Abkommens bereit seien, damit gedroht, sie müssten auf Dauer die Insel verlassen: "Wir werden es nicht zulassen, dass eine Bande von Béké wieder die Sklaverei einführen möchte." Dies wurde von Amts wegen als Rassenhatz gegen Weiße gewertet. In Wirklichkeit bezeichnet der Begriff "Béké" aber mitnichten eine Hautfarbe, sondern die Zugehörigkeit zu einer fest definierten sozialen Gruppe. Ein Eintrag im französischen Wikipedia erklärt beispielsweise, als Béké bezeichne man auf den französischen Antillen "die Nachfahren der frühen, Sklaven haltenden Siedler". Und im übrigen auch nicht alle ihrer Nachfahren. Denn wer in diesen Kreisen eine "Mischehe" mit Dunkelhäutigen eingeht, wird - auch heute noch - von seiner Klasse oder Kaste verbannt und ausgeschlossen. (Die Staatsanwaltschaften in Frankreich sind an Weisungen aus dem Justizministerium gebunden - nicht jedoch die Richter/innen -, so dass klar ist, dass die politischen Machthaber in Point-à-Pitre und Paris dieses Ermittlungsverfahren unterstützen.)

Das LKP, das die Tageszeitung Libération vor kurzem als "Unidentifiziertes politisches Objekt" bezeichnete, setzt sich aus einem Geflecht von Gewerkschaften, kulturellen Vereinigungen wie etwa karibikfranzösischen Karnevalsgruppen, Stadtteilgruppen und ähnlichen Initiativen zusammen. Insgesamt 49 an der Zahl - es hätten auch an die 100 werden können, aber die Leiter des Kollektivs zogen es vor, seine Grenzen nicht zu sprengen, um eine gewisse Homogenität bei den Forderungen und im Vorgehen zu wahren. Unterdessen formierte sich auch auf La Martinique eine ähnliche, aber nicht ganz so breite Allianz - unter führender Rolle der örtlichen Gewerkschaften -, das "Kollektiv vom 5. Februar", um den Ausstand zu organisieren, der an jenem Tag begann. Und auch auf La Réunion führt nun ein ähnliches Bündnis aus gewerkschaf tlichen, sozialen und "zivilgesellschaftlichen" Kräften den Ausstand seit den beiden Generalstreiktagen vom 5. und 10. März an.

Die zentrale Forderung auf den Antillen lautete einerseits, alle niedrigen Löhne um 200 Euro zu erhöhen, beinhaltete andererseits aber auch die Senkung vieler Preise - die in der Regel vom Präfekten (juristischen Vertreter des Zentralstaats) festgelegt werden - und spezifische Forderungen wie die nach einem Entschädigungs- und Entgiftungsprogramm für die Opfer von Pestiziden, die in früheren Jahrzehnten auf den Monokultur-Bananenplantagen der Großgrundbesitzer eingesetzt wurden.

In den letzten Februartagen, am 26. und 27. Februar, zeichneten sich Konturen eines Abkommens zwischen den wichtigsten sozialen Akteuren ab. Es würde in etwa beinhalten, dass die Arbeitgeber auf der Insel 50 Euro aus eigener Tasche auf die niedrigen Löhne (bis circa 1.400 Euro netto, dem 1,4fachen des gesetzlichen Mindestlohns SMIC) hinzulegen und nochmals 50 Euro, die ihnen der Staat durch eine Senkung von Steuern oder Sozialabgaben erlässt. Nochmals 80 Euro würden als Sonderprämie aus staatlichen Mitteln bezahlt, die allen unteren Lohngruppen bis zum 1,4fachen SMIC - freilich gestaffelt - zugute kommen soll. Dadurch würden die Lohn- und Gehaltsempfänger zumindest zeitweise 180 Euro pro Monat mehr in der Tasche haben (was annäherungsweise an die 200 Euro-Forderung herankäme), finanziert würde die Beinahe-Erfüllung dieser Forderung jedoch aus unterschiedlichen Quellen.

Das Abkommen, das in der Nacht vom 4. zum 5. März auf Guadeloupe unterzeichnet wurde, sieht nunmehr einen ähnlichen Mix vor, der nunmehr das Erreichen der 200 Erhöhung für alle tiefen Löhne (bis zum 1,4fachen des Mindestlohns SMIC) sichert. Zudem wurden verschiedene Preissenkungen garantiert, und das Bereitstellen eines Kontingents vergünstigter Flugtickets zwischen Guadeloupe und Festlandfrankreich zu 340 Euro - da auch die überhöhten Flugpreise der einzigen die Route befliegenden Luftfahrtgesellschaft kritisiert worden waren - wurde ebenfalls festgeschrieben. Nicht zuletzt wurde jungen, diplomierten Inselbewohnern eine bevorzugte Einstellung auf Arbeitsplätze der öffentlichen Hand zugesichert, um zu verhindern, dass diese immer wieder durch europäische Franzosen aus der Metropole aufgefüllt werden, während die Arbeitslosigkeit auf den Inseln horrend bleibt (derzeit laut offizieller Statistik 23,5 % auf Guadeloupe).

Ähnliche Modalitäten sieht auch das Abkommen auf La Martinique vor. Dort hatte die örtliche Führung der Gewerkschaft CGT - die auf La Martinique der trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) nahe steht - nochmals kurzfristig nachgelegt und eine Erhöhung um 250 Euro statt 200 gefordert, war jedoch damit gescheitert. Neben der Erhöhung der Löhne unterhalb des 1,4fachen Mindestlohns SMIC (das entspricht circa 1.400 Euro netto, wobei das Preisniveau auf den Antillen deutlich über dem europäischen liegt) um 200 Euro ist lt. dem letzten Abkommen auf La Martinique zudem vorgesehen, alle Löhne zwischen 1,4 und 1,6 mal dem SMIC um 4 Prozent anzuheben. Und die Löhne knapp oberhalb von 1,6 SMIC werden ihrerseits um 2 Prozent erhöht.

Die entscheidende Frage wird jedoch sein, welche Unternehmen das jeweilige Abkommen auch respektieren. Bislang zeichnet sich ab, dass viele kleine, selbst von den Inseln stammende Arbeitgebern bereit sind, es umzusetzen - während vor allem die Großunternehmen in den Händen von Béké oder Europäern dies bislang zu verweigern scheinen.

Das LKP hat nun angekündigt, durch die einzelnen Betriebe zu ziehen und dort massiven sozialen Druck für die Einhaltung und Umsetzung des Abkommens zu sorgen. Die damit verbundene Drohung von LKP-Sprecher Elie Domatas, jene Unternehmer, die dazu dauerhaft nicht bereit seien, hätten nicht ihren Platz auf der Insel, wurde nun zum Anlass genommen, um das - skandalöse - Ermittlungsverfahren aufgrund angeblichen "Rassismus" gegen ihn einzuleiten. Ein Teil der regierenden Rechten möchte ganz offenkundig Rache nehmen an einer sehr erfolgreichen sozialen Bewegung.

Am 07. März wurde die Prozedur zur ,extension' (wörtlich: "Ausdehnung") des Abkommens auf Guadeloupe, das bedeutet in deutscher Terminologie: zu seiner AVE (Allgemeinverbindlich-Erklärung), lanciert. Das bedeutet aber zunächst nur, dass - um den 20. März - die Nationale Tarifkommission (Commission nationale de la négociation collective) zusammentreten wird, in der die einzelnen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie die Staatsvertreter sich für oder gegen die anvisierte ,extension' aussprechen können. Im Anschluss wird die Kommission ein Mehrheitsvotum abgeben, wobei ihr Beschluss jedoch den zuständigen Minister nicht bindet. Daraufhin wird dann der Pariser Arbeits- und Sozialminister entscheiden, das Abkommen "auszudehnen' oder nicht. Gibt der Minister tatsächlich dem Verlangen der Kommission nach ,extension' (falls denn ihr Mehrheitsbeschluss so lautet) - oder sollte er, was sehr viel seltener vorkommt, sie durchführen, ohne dass die Kommission ihr zustimmt oder sie fordert - dann wird dieses Abkommen künftig für alle Arbeitgeber auf der Insel rechtsverbindliche Wirkung haben. Sie müssten also in diesem Falle die Lohnerhöhungen zahlen und das Abkommen respektieren, auch wenn sie es nicht anerkennen oder ihre Verbände es nicht unterzeichnet haben. Bislang äußert der zuständige Minister (Brice Hortefeux) sich jedoch ausgesprochen zurückhaltend zur Sache selbst - ob es also eine Allgemeinverbindlicherklärung des Abkommens geben wird oder nicht -, sondern vertröstet auf das Datum des Zusammentritts der Kommission.

Ab dem 16. März wird der französische Staatssekretär für Übersee-Angelegenheiten, Yves Jégo, nun (erneut, wie Anfang Februar) auf die Antillen reisen. Präsident Nicolas Sarkozy wird dort im April 2009 erwartet. Nachdem in den "Überseegebieten" wieder Ruhe eingekehrt sein wird, möchte Sarkozy dort - Insel für Insel - "Generalstände für die Zukunft Überseefrankreichs" abhalten. Also großer Kongress mit den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Ob aus deren Sitzungen etwas Vernünftiges herauskommen wird, bleibt abzuwarten.

Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 12.3.2009


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