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Updated: 18.12.2012 15:51
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Arbeitsagentur-Beschäftigte streiken gegen Verpflichtung zur Schnüffeltätigkeit

"Gut ein Viertel der 24.000 Angestellten der französischen Arbeitsagentur ANPE (Agence nationale pour l’emploi, « Nationale Agentur für Beschäftigung ») streikten am Dienstag dieser Woche. Die linksliberale Tageszeitung ‘Libération’ spricht von einer Streikbeteiligung von « 29 % laut den Gewerkschaften », die Pariser Abendzeitung ‘Le Monde’ hingegen von « 27 % nach Angaben der Gewerkschaftsführungen, 22 % nach denen der Direktion (der ANPE) ». Die KP-nahe Tageszeitung ‘L’Humanité’ begnügt sich mit der Feststellung : « Rund ein Viertel der Angestellten der ANPE haben die Arbeit im ganzen Land niedergelegt » - so beginnt der aktuelle Streikbericht "Arbeitsagentur-Beschäftigte streiken gegen Verpflichtung zur Schnüffeltätigkeit" von B. Schmid vom 16. Juni 2006.

Arbeitsagentur-Beschäftigte streiken gegen Verpflichtung zur Schnüffeltätigkeit

Gut ein Viertel der 24.000 Angestellten der französischen Arbeitsagentur ANPE (Agence nationale pour l’emploi, « Nationale Agentur für Beschäftigung ») streikten am Dienstag dieser Woche. Die linksliberale Tageszeitung ‘Libération’ spricht von einer Streikbeteiligung von « 29 % laut den Gewerkschaften », die Pariser Abendzeitung ‘Le Monde’ hingegen von « 27 % nach Angaben der Gewerkschaftsführungen, 22 % nach denen der Direktion (der ANPE) ». Die KP-nahe Tageszeitung ‘L’Humanité’ begnügt sich mit der Feststellung : « Rund ein Viertel der Angestellten der ANPE haben die Arbeit im ganzen Land niedergelegt ».

Zu dem Ausstand vom 13. Juni hatten frankreichweit 4 Gewerkschaften aufgerufen : SNU (die fortschrittliche Abspaltung von der ehemaligen Sektion CFDT-ANPE, jetzt dem Bildungs-Gewerkschaftsbund FSU angegliedert), CGT (ehemals KP-nahe), SUD (linke Basisgewerkschaft) und FO (populistisch). Auf lokaler Ebene riefen zusätzlich oftmals die CFDT (sozialdemokratisch) und die CFTC (christlich) ebenfalls zum Ausstand auf. Vom Kongresspalast im Nordwesten von Paris, wo eine « Messe der mittelständischen Unternehmen » unter starkem Polizeischutz stattfand, bis zum Arbeitsministerium im Stadtzentrum – in der Nähe des Invalidendoms – wurde ein Pappsarg getragen. Er sollte « das Ende der Arbeitsvermittlung als öffentliche Dienstleistung » symbolisieren, da letztere immer stärker von der Dienstleistung für die Erwerbslosen zum Druck-, Kontroll- und Geldsperr-Instrument umgewandelt werde. Rund 100 streikende Angestellte der ANPE zogen zusammen mit Arbeitslosen (vom CGT-Arbeitslosenkomitee und der Erwerbslosen-Selbstorganisation AC !) quer durch die Stadt.

Ihr Protest richtete sich gegen die Einrichtung der nunmehr monatlichen Kontrolltermine für die (seit einigen Monaten neu eingeschriebenen) Arbeitslosen. Dadurch soll der Druck auf die Erwerbslosen erhöht, und eine möglichst grobe Zahl von ihnen aus der Arbeitslosenstatistik heraus gedrängt werden – durch massive Streichungen wegen Versäumens eines Termins (die Vorladungen werden nicht per Einschrieben, sondern durch normale Briefe verschickt, so dass ein Verlustrisiko besteht). Vor etwa drei Monaten gab es einen kurzen Skandal, weil einem Erwerbslosen sämtliche Mittel wegen « geistiger Abwesenheit beim monatlichen Termin », « unkooperativer Haltung » und « Zum Fenster hinaus-Schauens » gesperrt worden waren. - Ferner richtete sich der Ausstand auch gegen die zunehmende Präsenz privater Vermittlungsfirmen im Arbeitslosensektor, die der staatlichen Arbeitsagentur ANPE Konkurrenz machen und sie unter zusätzlichen « Effizienz » druck setzen sollen. Die Tageszeitung ‘L’Humanité’ zitiert eine streikende Angestellte der Arbeitsagentur: « Früher bestand unsere Tätigkeit darin, den Arbeitslosen dabei zu halfen, einen Job zu finden, und manchmal auch, ihnen zu helfen, den Verlust ihrer alten Arbeitsstelle zu verdauen. Es gab auch noch Menschlichkeit: Es ist doch nicht leicht, in der Erwerbslosigkeit zu leben. Aber jetzt erhalten wir Druck, Sollzahlen zu erfüllen, das ist ein Schlachtunternehmen geworden... » Und die CGT-Gewerkschafterin bei der « ANPE » namens « Micheline » wird mit den Worten wiedergegeben, sie sei stolz darauf, bislang noch keine/n Erwerbslose/n aus der « Liste der Arbeitssuchenden » gestrichen und damit die Sperrung seines/r Anspruchs auf Unterstützung verursacht zu haben. Aber mit der zunehmenden Annäherung der Agentur an die Zahlstellen ASSEDIC (die unter Druck der dort einzahlenden Arbeitgeber stehen, siehe unten im Kasten zur Erklärung der Strukturen) sowie an private Vermittlungsfirmen lasse sich dieses Herangehen, diese Berufsethik immer schwerer aufrecht erhalten. Micheline dazu: « Mit dem ‘Profiling’ (französisch: profilage) der Erwerbslosen durch die Zahlstellen ASSEDIC (s.u. im Kasten) machen letztere uns immer stärkere Vorschriften. Die Erwerbslosen werden nach sogenannten Employabilité- (englisch employability-)Kriterien durch einen Code eingestuft. (Anm. d Verf.: Dadurch wird definitiert, welche Arten von Jobs sie annehmen müssen oder verweigern dürfen, und in welchem Mabe Druck auf sie ausgeübt werden muss bzw. die Erwerbslosen als « autonom bei der Arbeitssuche » gelten dürfen.) Und wenn wir bei der Arbeitsagentur/ANPE diese Kriterien im persönlichen Dossier des Arbeitslosen verändern möchten, dann müssen wir – theoretisch – bei der Zahlstelle/ASSEDIC um Erlaubnis anfragen. Sehen sie das ? Der öffentliche Dienst (der Arbeitsvermittlung) muss beim Arbeitgeberverband/MEDEF, der hinter den Zahlstellen steht, nachfragen, was er tun darf! Aber ich folge dem nicht: Ich bin der Auffassung, dass es zu meinen Aufgaben gehört, das (‘eigenmächtig’) zu tun.»

Die linksliberale Tageszeitung ‘Libération’ druckt ihrerseits in ihrer Mittwochsausgabe kurze Interviews mit 5 Personen ab: Gewerkschafter/innen bei der Arbeitsagentur ANPE sowie Arbeitslosen. Im folgenden sollen einige der interessantesten Stellen wieder gegeben werden.

Philippe Sabater, der als Personalvertreter für die (eher linke) Gewerkschaft SNU-ANPE, die der Bildungsgewerkschaft FSU angegliedert ist, gewählt wurde : « Wenn die Arbeitslosenzahlen mit der Einführung der monatlichen Kontrolltermine sinken, dann liegt das daran, dass den Erwerbslosen der Mut genommen wird. Heute haben nur 48 % der Erwerbslosen, die bei der Arbeitsagentur ANPE als Arbeitssuchende gemeldet sind, Anspruch auf Arbeitslosengeld/Unterstützung bei der Arbeitslosenkasse. (Anm.: Die anderen Arbeitslosen erfüllen die Kriterien – bspw. betreffend die Länge der voraus gegangenen Erwerbsarbeit – nicht. Oder aber andere Organismen als die Arbeitslosenkasse ASSEDIC sind für sie zuständig, wie die ehemaligen Staatsangestellten, für die gesonderte Kassen beim Staat bestehen.) Jene, die keinen Anspruch auf Zahlungen haben, werden es wohl nicht erdulden, dass man sie allmonatlich für Nichts antanzen lässt. Viele von ihnen werden nicht mehr kommen, und dann werden sie automatisch von der Liste gestrichen. Die Berater haben das Gefühl, dass man ihnen ihren Beruf gestohlen hat. Früher definierte man einen Berufswunsch zusammen mit einem Arbeitslosen und untersuchte seine Realisierbarkeit. Heute wird das (d.h. die Termine) zur puren Kontrolle. »

Vincent Strobel, gewählter Personalvertreter für die CGT bei der Arbeitsagentur : « Es herrscht ein starker Druck, um die Arbeitslosen in den berühmten Sektoren mit Arbeitskräftemangel zu platzieren: Gaststättengewerbe, Bauwirtschaft usw. (...) Wenn diese Sektoren nicht genügend Arbeitskräfte rekrutieren können, dann liegt das auch daran, dass die Arbeitsbedingungen hart und die Löhne zu niedrig zum Leben sind. »

Marc Moreau von der Arbeitslosen-Selbstorganisation AC ! : « (...) Man sagt, dass die Arbeitslosen keinen Job finden wollen. Sie lehnen lediglich solche Arbeit ab, die niemand machen will! »

Jean-Philippe Revel, CGT-Gewerkschafter in einer lokalen Arbeitsagentur : « In den lokalen Agenturen, wo wir jungen Arbeitslosen bei der Jobsuche helfen, bekommen wir langsam auch diesen Diskurs zu sprüren: ‘Erfüllt die Zahlenvorgaben’. Man muss die gröbt mögliche Zahl von jungen Leuten in irgend welche Jobs vermitteln. Die höchst mögliche Zahl in die Berufe, die Mühe dabei haben, Arbeitskräfte zu finden. Man verdirbt uns unsere Aufgabe, die immer mehr lautet: « Wir begleiten Sie (Anm. d. Verf.: im Französischen sagt man ‘begleiten’ für das deutsche Wort ‘betreuen’) , aber wir schreiben Ihnen vor, wohin Sie gehen müssen. »

Zur Erklärung:

Die Strukturen der Arbeitslosen « betreuung » in Frankreich

In Frankreich besteht die Besonderheit, dass bislang noch zwei getrennte Strukturen für die Erwerbslosen zuständig sind: Die ANPE bezahlt ihnen kein Geld aus, sondern ist allein für ihre « Betreuung », Vermittlung, ggf. Weiterbildung und de facto auch für ihre Überwachung zuständig. Dagegen wird das Arbeitslosengeld von einem anderen Organismus verwaltet und ausbezahlt, der UNEDIC (landesweiten Arbeitslosengeldkasse), die auf lokaler Ebene Zahlstellen in Gestalt der ASSEDIC aufweist.

Die ANPE ist eine staatliche Agentur und untersteht dem öffentlichen Recht. Dagegen wird die UNEDIC paritätisch verwaltet, d.h. Gewerkschaften und Kapitalistenverbände sind gleichermaben in ihrem Verwaltungsrat (Conseil d’adminstration) vertreten. Dies rührt daher, dass die UNEDIC eine Sozialversicherungskasse ist (neben der Rentenkasse CNAV, der Krankenkasse CNAM oder der Kindergeldkasse CNAF, die ebenfalls paritätisch verwaltet sind), die ihre Einnahmen aus den Sozialabgaben der Lohnabhängigen und der Arbeitgeber gleichermaben bezieht. Just am Dienstag dieser Woche schlug übrigens die Vorsitzende des Haupt-Arbeitgeberverbands MEDEF, Laurence Parisot, eine radikale Änderung dieser Modalitäten vor: Künftig sollten die Unternehmen vollständig vom Zahlen solcher Abgaben (als Lohnnebenkosten) entbunden werden, die Abgaben sollten allein auf das Einkommen der abhängig Beschäftigten erhoben werden. Im Gegenzug schlug sie eine Lohnerhöhung vor, die der Höhe des solchermaben auf die abhängig Beschäftigten transferierten/abgewältzen Beitragsaufkommens entsprechen solle. Eine solche Überführung der « Lohnnebenkosten » des Arbeitgebers auf die abhängig Beschäftigten würde freilich eine einmalige Sache bleiben, d.h. künftige Lohnerhöhungen würden mit den steigenden Beitragskosten wohl kaum Schritt halten, und die Lohnabhängigen wären die Angeschmierten. Dem MEDEF geht es nach eigenen Aussagen um ein « pädagogisches » Anliegen: Die Lohnabhängigen sollten für die « Kosten » der Sozialversicherungssysteme « sensibilisiert » werden, indem sie sie schmerzhaft auf ihrem Lohnzettel aufscheinen sehen. Alle Gewerkschaften reagierten mit einem Aufschrei auf den Vorstob, auf die « Provokation » der Arbeitgeber-Präsidentin.

Seit längerem « regiert » eine Koalition aus dem MEDEF (gröbter Arbeitgeberverband, in dem die Grobunternehmen vertreten sind) und der CFDT (sozialdemokratischer und pro-neolibaler Gewerkschaftsdachverband) die Arbeitslosenkasse UNEDIC.

Genügt ein/e Erwerbslose/r nicht seinen oder ihren « Pflichten », etwa durch Verweigerung von « zumutbaren Arbeitsangeboten » oder durch Nicht-Folgeleisten gegenüber der Vorladung zu einem « Beratungstermin », dann schlägt die staatliche Arbeitsagentur ANPE eine Sperrung seiner oder ihrer Bezüge vor. Denn sie ist für solche Sanktionen zuständig. Den Geldhahn zudrehen kann sie aber selbst nicht, da sie keine Auszahlungen vornimmt. Sie schlägt also den ASSEDIC eine Sperrung der Erwerbslosengeld-Zahlung vor, die in der Regel auch sehr gern Folge leisten.

Der MEDEF hätte es gern gesehen, dass auch die Zahlstellen der ASSEDIC in eigener Vollmacht den Geldhahn zudrehen können. Dies deshalb, weil nach Ansicht des Arbeitgeberverbands ja « seine » Gelder (bzw. die der Unternehmen, die in den Topf der UNEDIC flieben) sinnlos verbraten werden. Deshalb hätte er gar zu gerne einen Finger am Hebel, um den Geldstrom so restriktiv wie möglich flieben zu lassen.

In einem « sozialpartnerschaftlichen » Abkommen, das im Jahr 2000 zwischen der CFDT (und kleineren rechten Gewerkschaften, namentlich dem christlichen Gewerkschaftsbund CFTC) einerseits und dem MEDEF andererseits im Rahmen der paritätischen Verwaltung der UNEDIC-Kasse geschlossen wurde, wollte die Arbeitslosenkasse sich selbst eine solche Sanktionsgewalt geben. In Gestalt des damals präsentierten « Projekts zur Rückkehr an einen Arbeitsplatz » (PARE), hinter dem sich ein individueller « Vertrag » zwischen Arbeitslosen und Kasse mit « gegenseitigen Pflichten » verbarg, sollten zudem die Erwerbslosen in verschärfter Form zur Jobannahme gezwungen werden. Die damalige sozialdemokratische Regierung unter Lionel Jospin sperrte sich aber dagegen, da dies nicht Aufgabe privater Initiative sei, sondern staatliches Hoheitsrecht. Nach längeren Verhandlungen akzeptierte Premierminister Lionel Jospin – nach einem Telefonat mit dem damaligen Arbeitgeberpräsidenten Ernest-Antoine de Seillière – im Herbst 2000 das Abkommen und die mit dem PARE einher gehendenVerpflichtungen der Erwerbslosen aber grundsätzlich. Allerdings sollte die Sanktionsgewalt in den Händen der ANPE bleiben, die aber besser mit der UNEDIC zusammen arbeiten sollte.

Unter der konservativen Regierung von Dominique de Villepin sind die Geldverwalter der UNEDIC, die einen möglichst rigiden Sparkurs durchsetzen möchte, und die staatliche ANPE noch näher zusammen gerückt. Aber auch private Firmen werden nunmehr zur Vermittlung von Arbeitslosen herangezogen, so dass sich eine Dreierbeziehung (staatliche Arbeitsagentur, Zahlstellen unter Druck des Arbeitgeberverbands, private Vermittlungsfirmen) ergibt. Das « Gesetz zum sozialen Zusammenhalt » von Arbeits- und Sozialminister Jean-Louis Borloo sowie ein Regierungsdekret vom 02. August 2005 verschärfen die Bedigungen für Erwerbslose erheblich. Neu eingeschriebene Arbeitslose sollen zu einem monatlichen « Beratungsgespräch » verpflichtet werden – bis dahin fanden die Termine bei der ANPE durchschnittlich alle sechs Monate statt. Dies ist aber faktisch kaum zu bewältigen, da der Personalbestand der ANPE kaum aufgestockt worden ist: Eine/r Angestellte/r soll so ab jetzt mindestens 130 allmonatliche persönliche Gespräche führen, zusätzlich zum Empfang der neu eingeschriebenen Erwerbslosen sowie den obligatorischen Seminanre für Arbeitslose etc. Die lokalen Agenturen der ANPE sollen schneller die Streichung erwerbsloser Personen von der « Liste der Arbeitssuchenden » anordnen können, etwa wegen eines versäumten Termins oder einer verweigerten Arbeitsaufnahme. Die lokalen Zahlstellen der UNEDIC werden ihnen dann die Gelder sperren.

B.Schmid


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