letzte Änderung am 27. Mai 2003

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Ein kleines Who is Who zum sozialen Konflikt in Frankreich:

Wer sind die Akteure, und was wollen sie ?

Nach dem erwarteten Erfolg der Demonstration gegen den Rentenklau vom Sonntag, 25. Mai (750.000 DemonstrantInnen, davon 600.000 in Paris) hier ein kleines Lexikon, um das Spiel der wichtigsten Akteure zu verstehen. Auf die Regierung soll dabei nicht mehr näher eingegangen werden: Deren Pläne sind in früheren Beiträgen auf Labournet ausführlich analysiert worden. Am Montag früh betonte die Regierung Raffarin, dass sie nicht verhandeln wolle, und versuchte, auf den Neideffekt gegen die öffentlich Bediensteten (die "nicht an der nationalen Anstrengung teilnehmen wollen, während die Beschäftigten im Privatsektor längst 40 Jahre Beitrag zahlen", da sie der Rentenreform von 1993 unterliegen ) zu setzen. Da am Mittwoch, 28. Mai das französische Kabinett tagt und den Gesetzentwurf des neogaullistischen Sozialministers François Fillon zum Rententhema annehmen soll, wird dann nochmals näher auf die Beschlüsse einzugehen sein.

 

Die CFDT (Confédération française démocratique du travail / Französischer demokratischer Arbeiterverband), rund 600.000 Mitglieder

Der ursprünglich sozialdemokratisch orientierte gewerkschaftliche Dachverband, gegründet 1964, ist seit den späten 80er Jahren an der Spitze neoliberal orientiert. Er tritt für das Prinzip ein, dass die sozialen Beziehungen "entpolitisiert" werden müssten, und deshalb die Entwicklung einer ("verantwortlichen") "Vertragspolitik" unter so genannten Sozialpartnern notwendig sei. Theoretisch richtet sich dieser Diskurs gegen den Gesetzgeber, dem Zonen eigenständiger Regelungskompetenz unter so genannten Sozialpartnern abgerungen werden sollen. De facto dient dieses Thema aber vor allem dazu, das Absegnen sozialer Rückschritte zu legitimieren. So, im Prinzip, auch beim Thema Rentenklau.

Die starke Politisierung der sozialen Beziehungen in Frankreich (mit einer gewissen Rolle des Gesetzgebers als Regulator) stellte bisher eine Mindestgarantie dar ­ sie beruht nicht auf Staatsfetischismus, sondern im Gegenteil darauf, dass Entscheidungen der Zentralregierungen (in einem an soziale Konflikte gewöhnten Land wie Frankreich) einem immensen Rechtfertigungsdruck unterliegen. Und dass sie des öfteren Millionen von GegendemonstrantInnen, im ganzen Land gleichzeitig, auf den Asphalt bringen können. Diese Druckanfälligkeit politischer Entscheidungen ist der Grund dafür, dass das Arbeitgeber-Lager gern verstärkt "intermediäre" Regulierungsmethoden entwickeln würde, und etwa Verhandlungen unter "Sozialpartnern" (soweit diese auf technokratische und gebändigte Weise, und relativ konfliktarm ablaufen, wie es mit dem CFDT-Apparat möglich erscheint) an die Stelle bisheriger "politischer" Regulierungsmechanismen setzen würde. Allerdings opponiert der Kapitalverband MEDEF heute nicht mehr so stark, wie in den Jahren 1999 bis 2002 unter der sozialdemokratischen Regierung Lionel Jospins, gegen die "Einmischung der Politik" überhaupt. Im Gegenteil betrachtet der MEDEF heute die Rechtsregierung unter Jean-Pierre Raffarin als zuverlässigen Verbündeten. Deswegen sucht das Arbeitgeberlager derzeit eher nach Drei-Parteien-Abkommen unter Einbeziehung der Regierung, und ruft (ganz im Gegensatz zur vorherigen Phase, als er seine Kampagne gegen "die Politik" betrieb) nach dem Gesetzgeber, wenn es ihm bei der Durchsetzung sozialer Rückschritte nicht schnell genug geht.

Für die CFDT resultiert daraus ein gewisser Widerspruch : Einerseits segnet sie seit Jahren sozialpolitische Rückschritte und "Opfer" (welche die Lohnabhängigen zu erbringen haben) ab, im Namen der Notwendigkeit, eine eigenständige Regulierungssphäre der "Sozialpartner" zu entwickeln. Auf der anderen Seite ist die Führung der CFDT heute ein wichtiger Verbündeter der konservativen Regierung. Und sie vereinbarte mit dieser Regierung ­ also auf "politischer" Ebene, deren "Einmischung" sie eigentlich verdammt ­ ihre Unterstützung für die Renten"reform". Allerdings ist diese Positionierung nicht ganz neu : Bereits 1995 unterstützte die CFDT die so genannte "Reform" der Krankenversicherung unter der konservativen Regierung von Alain Juppé, gegen die (neben anderen antisozialen "Reformen") im Dezember 1995 zwei Millionen Leute demonstrierten und mehrere Millionen öffentlich Bedienstete streikten. Dabei verfolgt die CFDT auch materielle Eigeninteressen. Die, im Prinzip paritätisch durch Arbeitgeber- und Gewerkschafts-Delegationen (unter ferner Oberaufsicht der Regierung) verwalteten, Sozialkassen werden teilweise durch die CFDT verwaltet. Die Verwaltung der Arbeitslosenkasse UNEDIC war seit längerem ­ mit Unterstützung durch die Arbeitgeberseite und die Regierung ­ an die CFDT delegiert worden. Zum Dank für ihre Haltung im Streikherbst 1995 erhielt die CFDT dann, ein halbes Jahr später (im Frühsommer 1996), auch noch die Krankenkasse. Dagegen wird die Rentenkasse vom (kleinen) Gewerkschaftsbund der höheren und leitenden Angestellten, der CGC, verwaltet.

Aus den genannten Gründen fordert die CFDT, unisono mit dem Arbeitgeberlager, auch bereits eine " Reform " der defizitären Krankenkasse, um deren roter Zahler Herr zu werden. Da gleichzeitig eine Reihe neokonservativer Abgeordneter bereits deren Teilprivatisierung fordert, könnte da einige Ungemach auf die Fanzösinnen und Franzosen zukommen. Vor allem dann, wenn die jetzige Bewegung gegen den Rentenklau eine Niederlage werden sollte, dürfen sie sich warm anziehen (denn eine Grippeerkrankung könnte teuer für sie werden).

Der "Kompromiss" CFDT - Regierung

Am 15. Mai 2003, keine 48 Stunden nach dem ersten erfolgreichen Aktions- und Demonstrationstag vom 13. Mai (zu dem die CFDT mit aufgerufen hatte, um noch ein wenig symbolischen Druck vor der Verhandlungen zu entfalten), unterzeichneten die CFDT und die CGC das Abkommen mit der Regierung zur Unterstützung der Rentenreform. Die Mehrheit der französischen Gewerkschaften war darüber empört. Heute rechtfertigt die CFDT ihre Unterschrift mit den "Zugeständnissen", die sie angeblich in zähem Kampf mit der Regierung errungen habe ­ de facto genügten wenige Stunden Plaudern beim Premierministern, um die Sache aus Sicht der CFDT-Führung unterschriftsreif zu machen. (Am Mittwoch, 14. Mai verhandelten alle, gesetzlich als "repräsentativ" anerkannten Gewerkschaften mit dem Regierungschef zum Rententhema. Um 4 Uhr in der Frühe endeten die Verhandlungen ergebnislos. Zu diesem Zeitpunkt sagte CFDT-Generalsekretär François Chérèque in die Kameras, die Ergebnisse seien nicht zufrieden stellend. Aber bereits um 8 Uhr in der Frühe tönte er im Radio, wenn die Regierung wolle, könne man sofort weiter verhandeln und alsbald unterschreiben. Am Nachmittag dann genügte ein kurzer Plausch am Amtssitz des Premierministers, an dem nur die CFDT und die CGC sowie die christliche CFTC teilnahmen, damit die beiden erstgenannten der "Reform" zustimmten.)

Welche "Zugeständnisse" hat die CFDT angeblich errungen? Die beiden wichtigsten sind:

Erstens: Für die Geringverdiener wird garantiert, dass ihre Renten nicht unterhalb von 85 Prozent des SMIC zu liegen kommen. Ursprünglich hatte Sozialminister Fillon die Schwelle, in seinem "Reform"entwurf, bei 75 Prozent angesetzt. Das ist jedoch in Wirklichkeit reine Augenwischerei. Denn die Verhandlungsmasse war an diesem Punkt von vornherein einkalkuliert. Der konservative Ex-Premierminister Alain Juppé, heute Chef der bürgerlichen Einheitspartei UMP, hatte bereits Anfang Mai in Presse und Radio erklärt, er sei zu Verhandlungen bereit. Und er könne sich vorstellen, dass man für die Geringverdiener den Wert bei "80 bis 90 Prozent des SMIC" festlege. Damit bleibt der Abschluss mit der CFDT noch unterhalb dessen, was Jupp als vorstellbar bezeichnet hatte.

Derzeit liegt  die Rente für die Empfänger von Niedriglöhnen real bei 83 Prozent. Damit wird künftig, nach dem tollen "Kompromiss" mit der CFDT, nur der jetzige Zustand bewahrt. (Es stimmt freilich, dass die "Balladur-Reform" von 1993 langfristig zu einer Absenkung bis auf 70 Prozent des SMIC führen sollte.) Aber vor allem:  Die Prozentzahlen, selbst wenn sie gleichbleiben, entsprechen dennoch nicht einem konstanten Zustand. Denn dahinter verbirgt sich, dass ein Rentenanspruch ­ etwa in Höhe von 85 Prozent des SMIC ­ lediglich dann garantiert ist, wenn der Anspruchsberechtigte die nötige Zahl von Beitragsjahren in die Rentenkasse beisammen hat. Da liegt der Hund begraben, denn die Zahl der erforderlichen Beitragsjahre wird bis 2020 auf 42 Jahre steigen., mit Zustimmung der CFDT. Viele Lohnabhängige werden die 42 Jahre vielleicht nicht aufbringen können. ­ Nur noch unverschämt (mit Verlaub: Verarschung) ist es, wenn der CFDT-Unterhändler Jean-Marie Toulisse in einem jüngsten Interview mit "Libération" seinen tollen Erfolg so begründet : "Auf dem Weg von 70 zu 100 Prozent haben wir, indem wir 85 Prozent vereinbarten, einen entscheidenen Schritt in Richtung 100 Prozent getan." Toll: Noch so eine Verhandlung, und wir sind vielleicht bei 200 Prozent!

Zweitens: Die Regierung stimmte einer Art von "Altfall"regelung zu, die durch die CFDT (aber auch andere Gewerkschaften) gefordert worden war. Es geht um jene Beschäftigten einer bestimmten Generation, die in sehr jungen Jahren zu arbeiten begonnen hatten. Und die heute bereits die (derzeit) erforderlichen 40 Beitragsjahre beisammen haben, aber noch nicht das gesetzliche Rentenalter von 60 ­ in absehbarer Zeit wird es bei 65 liegen ­ erreicht haben. Bisher dürfen sie theoretisch nicht in Rente gehen, oder nur mit bedeutenden Straf-Abzügen. (Unter der sozialdemokratischen Regierung war eine gesetzliche Regelung für die Betroffenen gefordert worden, aber die sozialistische Arbeitsministerin Elisabeth Guigou hatte strikt abgelehnt: "Zu teuer".)

Fast alle Gewerkschaften hatten gefordert, diese Beschäftigten gehen zu lassen, solange sie eine der beiden Bedingungen (40 Beitragsjahre) erfüllt haben, auch wenn sie noch nicht 60 sind. Von der Regierung erhalten hat die CFDT ein begrenztes Zugeständnis: Die Betroffenen dürfen gehen, wenn sie mit 14 bis 16 Jahren anfingen zu arbeiten (wer bereits 17 war und heute 57 ist, wird nicht betroffen sein) und heute mindestens 56 ist. Das betrifft theoretisch rund 300.000 Personen. Faktisch stellte sich das Problem aber so nicht, denn gerade für diese offensichtlichen Fälle gibt es häufig Vorruhestands-Regelungen auf betrieblicher oder Branchen-Basis.

Vor allem aber: Diese Regelung ist in Ordnung für jene, die sie direkt betrifft. Es handelt sich aber lediglich darum, "Fälle" zur regeln, die es so in Zukunft nicht mehr geben wird  - insofern eine Art von "Altfall"regelung. Aber rechtfertigt sie die Demolierung des Rentensystems für die künftigen Generationen, von denen man 42 Beitragsjahre fordert, wenn die Leute faktisch mit etwa 25 ins Erwerbsleben eintreten und oftmals Perioden von Prekarität oder Erwerbslosigkeit durchlaufen?

Die Opposition in der CFDT

Es gibt noch eine Linksopposition in der CFDT (die insgesamt in den 70er Jahren noch deutlich links von der heutigen stand). Sie findet sich auch in den jetzigen Demonstrationen. So fand man in der zentralen Demonstration vom 25. Mai die traditionell linksoppositionellen Verbände innerhalb der CFDT (die Transportsektion, darunter die CFDT-Eisenbahner, und die Region Auvergne mit allem, was dazugehört: die regionale Bauindustrie, Autobmobil) massiv vertreten. Auch die Bildungsgewerkschaft SGEN-CFDT, die im Dachverband eine halb-linke Position einnimmt, war vertreten. Manche CFDT-Einzelgewerkschaften (etwa jene bei den Zollbeamten) verteilten Flugblätter, die aus der Fotokopie ihrer Protest-Faxe an die CFDT-Zentrale bestanden.

Das Phänomen als solches ist nicht neu: 1995 war rund ein Drittel der CFDT in den Demonstrationen gegen die "Reform" der Sozialversicherung vertreten, die damals ebenfalls durch die Verbandsführung unter Nicole Notat unterstützt wurde. Doch in der Folgezeit wurde die interne Opposition stärker durch Abgänge, vor allem hin zu den linken Basisgewerkschaften SUD, geschwächt. Anfang 1999 löste sich der linke Oppositionsverband in der CFDT, "Tous ensemble", gar wegen Perspektivlosigkeit auf. Jetzt erhebt die innerverbandliche Linksopposition erstmals wieder deutlich sichtbar den Kopf. Zugleich diskutiert sie nunmehr offen über einen kollektiven Austritt aus der CFDT.

 

Die CGT (Confédération Générale du Travail / Allgemeiner Arbeiterverband), rund 600.000 Mitglieder

Gegründet 1895 mit einer Reihe von Abspaltungen und Umgründungen in der Zwischenzeit. Seit 1945 und bis circa Mitte der 1990er stand der Verband der französischen KP nahe bzw. unter ihrer Kontrolle (nach der Theorie des gewerkschaftlichen "Transmissionsriemens"). Seit einigen Jahren bröckelt diese Bindung, zumal die Referenz zum realsozialistischen System nicht mehr existiert. Das bedeutet nicht, dass die KP nicht mehr im CGT-Apparat vertreten wäre. Oberflächlich betrachtet, trifft sogar das Gegenteil zu : Historisch gesehen, hatte die Partei immer darauf geachtet, nicht mehr als die Hälfte der Sitze im Exekutivbüro der CGT zu besetzen, damit sie sich gegen Vorwürfe der Beherrschung der CGT zur Wehr setzen konnte. Die andere Hälfte der Sitze war für einige frei schwebende Sozialisten (freilich verbot die Sozialdemokratie bis 1971/72 ihren Mitgliedern die Doppelmitgliedschaft bei der Sozialistischen Partei und der CGT) und progressive Christen reserviert. Aber heute gehört mehr als die Hälfte des CGT-Exekutivbüros der Partei an ; bis vor dem jüngsten CGT-Kongress im März 2003 waren es 12 von 18 Mitgliedern.

Das bedeutet aber nicht eine verstärkte Kontrolle der CGT durch die KP ­ denn dafür müsste die KP erst einmal eine "Linie" haben, "wie früher". Derer gibt es derzeit mindestens vier oder fünf rivalisierende. Genau wie in der KP, spiegeln sich ungefähr dieselben Orientierungen und (faktischen) Strömungen auch in der CGT wieder : Reformer, nostalgische Alt- und Neostalinisten (mitunter mit nationalistischem Einschlag), Sozialdemokratisierer, technokratische Modernisierer.

Ferner gibt es im CGT-Apparat nunmehr auch eine starke Tendenz dahin gehend, dass man sich nunmehr auf "gewerkschaftliche Aufgaben" zu besinnen, und nicht mehr "Ziele der Politik" zu verfolgen habe. Diese Orientierung wird auch von CGT`lern geteilt, die (formell oder "richtig") der KP angehören. Es stimmt natürlich, dass es in der CGT die Negativ-Erfahrung enger parteipolitischer Instrumentalisierung gibt. Freilich beinhaltet die angeführte Neuorientierung auch die Aussage, dass man in Verhandlungen auch "konstruktiv" sein müsse, und keine ablehnende Globalposition einnehmen solle (da man sich nicht mehr auf das Generalziel einer "überlegenen Gesellschaftsordnung", in Gestalt "des Sozialismus" - Marke KP und Realsozialismus ­ stütze und daher keine Systemopposition betreibe). Allerdings macht das aus der CGT noch keineswegs eine technokratische Verwalterin von "Sachzwängen", wie es der CFDT-Apparat längst geworden ist. Und an der Basis gibt es, auch ohne realsozialistische Globalreferenz, ein offenkundiges Bedürfnis nach sozialer "Radikalität", nach fundamentaler Kritik an dem, was in der bestehenden Wirtschaftsordnung (schief) läuft. Oftmals ist ein Schnitt zwischen Apparat und Basis zu spüren. In der innverbandlichen Opposition spielen die beiden trotzkistischen Parteien LCR und LO eine gewisse Rolle, die man aber nicht überbewerten sollte.

In der jetzigen Bewegung ist es die Rolle der CGT, den Unmut gegen den drohenden Rentenklau zugleich aufzugreifen und zu kanaliseren. Der Apparat plädiert für "echte Verhandlungen" seitens der Regierung (auf welche letztere aber nicht eingeht), aber fordert nicht den vollständigen Rückzug des "Reform"pakets. (Dagegen wurde der Demozug am Sonntag, 25. Mai durch die Streikkoordination der ausständischen LehrerInnen eröffnet, deren Parole hinter dem Fronttransparent lautete : "Es gibt nichts, es gibt nichts zu verhandeln ­ Rückzug des Regierungsprojekts".) Freilich erklärte CGT-Generalsekretär Bernard Thibault in Interview zugleich, etwa "80 Prozent" des Regierungsentwurfs seien schlecht.

Im derzeitigen sozialen Konflikt setzt die CGT auf eine Art kontrollierter Eskalation. Sie hat den Aktionskalender in gewisser Weise auseinander gezogen: Erst die Demo am 13. Mai, dann den Aktionstag am Sonntag (25. Mai) und ab dem 2./3. Juni dann die höhere Eskalationsstufe durch Ausrufen des Transportstreiks bei Bahn, Bussen und Metros. Letzterer wird als "Atombombe in den sozialen Beziehungen" bezeichnet, da der Transportstreikt natürlich das gesamte wirtschaftliche und öffentliche Leben beeinträchtigt. Daher solle man diese "Waffe" erst auf einer hohen Eskalationsstufe einsetzen. Dagegen wendet sich die CGT gegen ihre unkontrollierte oder vorschnelle Verwendung, und sie wirkte tatkräftig dabei mit, die spontanen Ausstände bei SNCF (Eisenbahn) und RATP (Pariser Metro und Buslinien) in den ersten Tagen nach dem 13. Mai unter Kontrolle zu bringen und abzuwürgen.

Dieses Streben nach stufenweiser Eskalation gehorcht einerseits taktischen Erwägungen, da man angibt, die Sympathien der Beschäftigten im Privatsektor ­ die nicht so einfach streiken können ­ nicht durch "zu frühes" Lahmlegen der Transporte verlieren zu wollen. (Derzeit unterstützen 65 Prozent der Franzosen und Französinnen ­ laut Umfragen im "Parisien" vom Sonntag ­ die öffentlich Bediensteten im Ausstand. Das ist etwas mehr als im Streikherbst 1995, damals waren es zu Beginn 54 Prozent der Befragten und später bis zu 60 Prozent.) Allerdings hängt umgekehrt die Initiative im Privatsektor, wo Arbeitskämpfe heute ­ wegen der Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes ­ sehr viel schwieriger sind, oftmals am Transportstreik als " Initialzündung ". Nach dem Sonntag (25. Mai) sind nunmehr auch in der Privatindustrie vielerorts Betriebsversammlungen zum Rentenklau angesetzt.

Zugleich steckt hinter dem Auseinanderziehen des Kalenders auch der Wunsch, zu "echten Verhandlungen" mit der Regierung zu kommen. Bisher reagiert das Kabinett aber nicht darauf, und die Positionierungen der CGT konnten die Dynamik der sozialen Bewegung auch bisher nicht beeinträchtigen. Da die CFDT derzeit ziemlich weit auf den rechten Flügel der gewerkschaftlichen Landschaft gerutscht, und zugleich als mögliche Vermittlerin zu den Streikenden (von denen sie nicht ernst genommen wird) aus dem Spiel ist, möchte die CGT gern auf den Platz in der Mitte des Gewerkchaftsspektrums rücken. Und sich als potenzielle Verhandlungspartnerin der Regierung, mit der ernsthafter umzugehen ist als heutzutage mit der CFDT, aufzubauen. Wenn die Strategie aufgeht, wird am Ende wohl irgend ein Kompromiss ( der den Namen wenigstens verdient, anders als jener mit der CFDT) stehen, aber nicht der vollständige Rückzug der Regierungspläne. Zugleich kann die CGT die Protestierenden nicht einfach in eine offensichtliche Niederlage führen ­ sie müsste es teuer bezahlen.

Die CGT  lehnt die Forderung nach einem Generalstreik, wie sie durch die linksalterantiven Basisgewerkschaften SUD und  den überwiegenden Teil der radikalen Linken erhoben wird, de facto ab. An der Basis allerdings werden einige Stimmen im Sinne dieser Forderung laut.

Die CGT und die Sozialdemokratie

Seit dem Jahr 2001 wird das Klima zwischen der Sozialdemokratie und der CGT wärmer. Damals lud die Sozialistische Partei den Gewerkschaftsverband dazu ein, an den Debatten um die Ausarbeitung des Präsidentschafts-Programms für Lionel Jospin bei der Wahl vom Frühjahr 2002 teilzunehmen. Diese Tatsache muss ­ jetzt und künftig ­ ebenfalls berücksichtigt werden, wenn es um die Positionierungen der CGT gehen wird.

Heute, da die Sozialdemokratie ihre drastische Niederlage vom 21. April 2002 verdauen muss, als Jospin noch vor der Stichwahl aus dem Rennen ausschied (welche dann Chirc und Jean-Marie Le Pen unter sich ausmachten), kommt ihr eine demonstrative Annäherung an die CGT gerade Recht. Denn eine "sozialere" Positionierung tat dringend Not, nachdem die LinkswählerINnen Jospin gerade für seine Wirtschaftspolitik abgestraft hatten (Stimmenthaltung, Votum für die radikale Linke).

Anlässlich ihres jüngsten Parteitags, der vom 15. bis 17. Mai 2003 in Dijon stattfand, gönnten die Delegierten und die auf den Tribünen anwesenden Parteimitglieder ­ insgesamt 4.300 ­ dem CGT-Generalsekretär Bernard Thibault sechs Minuten anhaltende, stehende Ovationen. Thibault durfte sich, auch beim späteren Mittagessen, direkt zur Rechten des PS-Vorsitzenden François Hollande niedersetzen. So viel Ehre sollte aber nicht allen geladenen Gästen zuteil werden : Die KP-Vorsitzende Marie-George Buffet durfte 20 Minuten lang allein im Foyer warten, weil die Chefs der Sozialdemokratie gerade in Ruhe zu Mittag essen wollten ­ wie bestellt und nicht abgeholt. Die französische KP scheint bereit abgeschrieben, jedenfalls als halbwegs ernst genommener "Partner", aber die CGT wird man wohl noch benötigen.

Denn vor allem setzten die Sozialdemokraten sich natürlich selbst in Szene. François Hollande, der das politische Talent einer Schlaftablette und den Charme eines mittleren Sachbearbeiters hat, versuchte sich in Dijon als donnernder Tribun. Der Redner forderte schlicht den Rückzug des Fillon-Projekts zur Rentenreform, weil es schlecht und unsozial sei. Sogar der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister Laurent Fabius, der in seiner letzten Amtszeit 2000 ­ 2002  als Neoliberaler glänzte, hatte sein Plädoyer aus dem Vorjahr für eine manifeste Wendung à la Tony Blair hinuntergeschluckt. (Die rapide Wandlung versuchte er jetzt mit den Worten zu rechtfertigen : "Man ist ja nicht sein ganzes Leben hindurch Finanzminister" - aber wehe, wenn er es in ein paar Jahren wieder werden sollte) Die erwartete Debatte über New Labour-Entwicklung oder pseudo-linke Oppositionskur war in Dijon vom Tisch gefügt. Gerade auch der rechte Flügel versuchte sich selbst in Anbiederung an die Gewerkschaften, und vor allem die CGT, zu übertrumpfen ­ die Oppositionszeit könnte ja noch vier Jahre dauern.

François Hollande gab das Versprechen ab, im Falle einer Regierungsübernahme im Jahr 2007 werde die jetzige Reform der Rentensysteme ­ deren erste Stufe 2008 abgeschlossen sein soll ­ nicht umgesetzt. (Abgesehen natürlich von der Verlängerung der Beitragsdauer der öffentlich Bediensteten von 37,5 auf 40 Jahre, denn die fordert auch die PS-Parlamentsfraktion.) Und der Parteirechte Fabius griff sogar ­ implizit, aber deutlich ­ die CFDT wegen Verrats an. Er lobte nämlich " jene Gewerkschaftsorganisationen, die sich an ihr Mandat gehalten haben, in der Einheit zu handeln ", nachdem am 23. April noch sieben Organisationen (darunter auch die CFDT) gemeinsam zu den ersten Demonstrationen gegen den Rentenklau aufgerufen hatten. Die Verärgerung über die CFDT ist offenkundig ­ nicht wirklich, weil man als rechter Sozialdemokrat ihre Positionen nicht mehr nachvollziehen könnte, aber weil es den Sozialdemokraten derzeit parteipolitisch gelegen kommt, die Raffarin-Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. Das beschleunigt ihr Comeback auf der politischen Bühne, und bringt sie dem sehnsuchtsvoll erheischten Ziel näher, die Scharte des 21. April 2002 (deren Hauptverantwortung bei der PS-Regierungspolitik zu suchen ist) auszuwetzen. Allerdings ist nach wie vor ein Hauptamtlicher aus dem CFDT-Apparat im neuen PS-Vorstand vertreten, nämlich der in Dijon gewählte Jean-Marie Petit-Jean, seines Zeichens ­ Rentenspezialist und "total mit der Reform einverstanden" (so der ätzende Kommentar des CFDT-Verhandlungführers gegenüber der Regierung, Jean-Marie Toulisse am Tag nach dem Kongress).

Die, mit Verlaub, triefende Demagogie der Kongressreden darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die französische Sozialdemokratie in der Sache selbst nichts ausgesagt ha. Nichts jedenfalls, was über die Aussage hinaus ginge, dass das Projekt der jetzigen Regierung schlecht ist (weil es nicht  die eigene Regierung ist, wäre man versucht hinzuzusetzen). Die Resolution des PS-Kongresses enthält nämlich so gut wie keinerlei Aussage in der  Sache selbst. Mindestens drei Entwürfe dafür waren freilich geschrieben worden, die in jeweils andere Richtung gingen, aber jedes Mal nachträglich gehörig verwässert wurden ­ das berichtet die PS-nahe Tageszeitung "Libération".

Und die Sache kann auch nicht vergessen machen, dass die Sozialdemokratie in ihrer Regierungsperiode (1997 ­ 2002) selbst die Weichen für eine Rentenreform gestellt hatte. Zunächst wurde 1998/99 ein Untersuchungsbericht namens "Rapport Charpin" vorgestellt, der sogar die Anhebung der Beitragsdauer in die Rentenkasse auf 42,5 Jahre forderte (ein wenig mehr, als die jetzige Regierung verlangt). Daraufhin wurde im folgenden Jahr ein etwas softerer Bericht namens "Rapport Teulade"  - die Reports tragen die Namen des jeweiligen Kommissionsvorsitzenden ­ als Alternativentwurf erstellt. Der verschwand jedoch alsbald auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung, weil er von wissenschaftlichen Methodenfehlern wimmelt. Dem damaligen Regierungschef Lionel Jospin wurde die Sache dann aber zu delikat, vor allem nachdem die ersten gewerkschaftlichen Gegendemonstrationen bereits am 25. Januar 2001 stattgefunden hatten. Sein Präsidenten-Wahlpogramm für 2002 enthielt dazu zum Thema nur die Aussage, dass man nach einer "Konzetierungsphase" im ersten Halbjahr 2003 die notwendigen Beschlüsse fassen werde. (Und da beschwerte der Mann sich hinterher, dass die WählerInnen ihm nicht vertrauen wollten). Die CFDT hat daher heute, um in der bürgerlichen Presse ihre Positionen zu rechtfertigen, ziemlich leichtes Spiel, um auf diese Ungereimtheiten und Widersprüche hinzuweisen, wenn die Sozialdemokraten sich ihr gegenüber sauer erweisen. Ferner sei noch darauf hingewiesen, dass sowohl Jospin als auch Präsident Chirac auf dem EU-Gipfel in Barcelona im März 2002 ja beide das Dokument unterschrieben, das für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeiten um 5 Jahre plädiert.  

Daher bleibt zu hoffen, dass der Versuch nicht aufgehen wird, das französische Publikum für dumm zu verkaufen. Freilich hat dieser Verschaukelungs-Versuch derzeit auch einen immensen Vorteil. Da die Sozialisten ­ wenngleich aus rein parteipolitisch-taktischen Motiven heraus ­ den schlichten Rückzug des Regierungsentwurfs fordern, haben sie dadurch objektiv günstigere Bedingungen geschaffen, um die Gangart der Protestbewegung zu beschleunigen. Denn wenn selbst sie den Rückzug fordern (und nicht Verhandlungen auf der Grundlage des Regierungsprojekts).

Der PS-Parteitag in Dijon hatte angekündigt, dass die Parteigänger an den Demonstrationen ­ u.a. vom Sonntag, 25. Mai ­ teilnehmen würden. Tatsächlich konnte man hier und da das Parteisymbol ­ die Rose, von einer Faust umschlossen ­ erblicken. Freilich gingen seine Träger ziemlich in der Menge unter, und es war nicht so häufig zu sehen wie die Aufkleber der KP oder der (trotzkistisch-undogmatischen) LCR. Das dürfte mit daran liegen, dass die PS-Parteibasis heute stark von Honoratioren geprägt, und wenig auf dem Pflaster zu mobilisieren ist; die Bindungen zur Arbeiterklasse haben sich (im Vergleich zu den 70er Jahren) sehr stark ausgedünnt.

 

Force Ouvrière (FO, ungefähr: Kraft der Arbeiter)

Gegründet 1947/48 als Abspaltung von der CGT, aus der sie unterschiedliche, gegen die Vormachtstellung der KP eingestellte Strömungen mitnahm, heute rund 250.000 Mitglieder. Der Dachverband FO war schon immer ein Konglomerat aus sehr unterschiedlichen Strömungen, von sehr weit rechts stehenden Leuten über manche Sozialdemokraten (der derzeitige FO-Generalsekretär Marc Blondel etwa hat ein PS-Parteibuch) bis hin zu einer extremen sektiererischen Variante  des französischen Trotzkismus. Bei letzterer handelt es sich um die autoritäre Politsekte des PT (Parti des travailleurs, Partei der Arbeiter), die sich durch lange Unterwanderungsarbeit einen erheblichen Einfluss im FO-Apparat erarbeitet hat, die aber auf mafiöse Art und Weise funktioniert. Zugleich stimmen 18 bis 19 Prozent der erklärten FO-Sympathisanten an der Basis (bei solchen Umfragen wird nicht nach dem Mitgliedsbuch gefragt) bei politischen Wahlen für Jean-Marie Le Pen. Alles in allem eine krude Mischung, die vor allem durch zwei Dinge zusammenhält:

Bis in die späten 80er Jahre hinein war FO der "gemäßigteste" unter den der großen französischen Gewerkschaftsverbänden, der brav Lohnprozente aushandelte und sich nicht in allgemeine gesellschaftliche Fragen oder Konflikte einmischte. Zugleich teilte FO sich die Plätze bei der Sozialdemokratie mit der CFDT, freilich konnte der Dachverband auch mit der konservativen Rechten ganz gut auskommen.

Seitdem hat aber eine erhebliche Verschiebung seines Standorts in der gewerkschaftlichen Landschaft stattgefunden. Zunächst spekulierte der FO-Apparat nach dem Mauerfall von 1989 darauf, endlich den angestammten Erbfeind CGT (mitsamt der KP) verschwinden zu sehen. Deshalb begann er plötzlich, scharfe Töne zu spucken, um diese Klientel anzuziehen, und positionierte sich (in einer sich verändernden sozialen Umwelt) gegen einige neoliberale Gegenreformen. 1995/96 kostete ihn das den "angestammten" Platz bei der Sozialversicherung, auf den De Gaulle dereinst FO gesetzt hatte. Ab 1996 verlor FO einige der "moderat" (im alten FO-Stil, den sie verinnerlicht hatten) auftretenden Elemten an den Verband unabhängiger Gewerkschaften UNSA. Nunmehr ist man es FO gewöhnt, ziemlich radikale Töne zu spucken. Gleichzeitig unterschreibt der Verband aber nach wie vor einige der übelsten Abkommen, etwa am Ausgang eines Streiks, wie bei den LKW-Fahrern im November 2002. Sein Auftreten ist daher mindestens doppelgesichtig. Aber der Verbalradikalismus der Organisation hat es FO in jüngerer Zeit erlaubt, aus schwierigen Kämpfen heraus Mitglieder zu rekrutieren (trotz mitunter sehr undurchsichtiger Apparat-Politik).

Im Kontext der oben bechriebenen Entwicklung der CGT, die derzeit eher in die Mitte des gewerkschaftlichen Spektrums hin tendiert, versucht FO daher den Rivalen jetzt an (Verbal-)Radikalalität zu übertrumpfen. Zumindest in Worten tritt FO eher als Schrittmacher bei der Radikalisierung der derzeitigen Bewegung auf. Dort, wo die CGT in der laufenden Woche keine Streikankündigungen hinterlegt hat (im öffentlichen Dienst muss, anders als im Privatsektor, eine Streik-Vorwarnung hinterlegt werden) hat FO dies besorgt. So hat FO im Gesundheitswesen (allein), für die gesamte Woche bis zum 1. Juni, eine Streikwarnung in den Krankenhäusern hinterlegt. Und am Dienstag, 27. Mai ruft FO als Erste zu erneuten Demonstrationen der öffentlich Bediensteten auf.

In der sonntäglichen Demonstration vom 25. Mai war wiederholt, in kleineren aber komptakten FO-Blöcken, die Forderung nach "unbefristetem Generalstreik". Es ist freilich gut möglich, dass das ­ jedenfalls zum Teil ­ auch mit dem Einfluss der PT-Sekte zusammenhängt. Am Montag vormittag, 26. Mai positinierte Marc Blondel sich dazu freilich mehr als halbherzig: Die Dynamik des Ausweitung des Streiks werde zu seiner "Generalisierung" führen, von allein, aber seine Organisation könne nicht zum Generalstreik aufrufen, da dies sonst "politischen Charakter" annehme. Natürlich will auch Blondel keine von ihm nicht kanalisierte soziale Eskalation. Nur versteckt eher seine Karten ziemlich geschickt, anstatt offen eine (wenigstens transparente) Strategie auszugeben.

Bernhard Schmid, Paris

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