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Updated: 18.12.2012 15:51
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Das nahende Ende der 35-Stunden-Woche
Oder: Wie einst progressive Reform erst zur neoliberalen umgewandelt, und
dann gestoppt wurde

Am 5. Februar fanden die größten, von den Gewerkschaften initiierten Demonstrationen seit dem Frühsommer 2003 statt. An diesem Tag gingen Beschäftigte aus den öffentlichen Diensten und aus der Privatwirtschaft - etwa aus den Automobilfabriken Citroën und Renault, aus vielen Banken und
Metallbetrieben - gemeinsam auf die Straße. Knapp 50.000 Leute waren in Paris auf den Beinen und je über 20.000 TeilnehmerInnen auch in Marseille, Bordeaux und Toulouse. Insgesamt waren frankreichweit gut 400.000 Leute unterwegs. Dazu hatten alle Gewerkschaften mit Ausnahme jener der höheren und leitenden Angestellten, die CGC, aufgerufen.
Nach dem Erfolg der Demonstrationen planen mehrere Gewerkschaften jetzt neue
Aktionen, darunter auch in den Betrieben.

Erneuter Aufschwung sozialer Proteste? Rückblick auf eine Periode bleierner
Lähmung

Die jüngsten Demonstrationen waren die breiteste Protestmobilisierung seit dem Juni 2003: Auf die damalige Streikwelle gegen die regressive "Reform" der Rentensysteme folgte eine schwere Niederlage und eine längere Phase der Demoralisierung sozialer Protestkräfte. Der Entwurf der Regierung zur "Rentenreform" wurde durch die Abgeordneten in einer Sondersitzung während
der Parlamentsferien, Ende Juli 03, trotz aller Proteste und Streiks unverändert verabschiedet.

Zuvor hatten die großen Gewerkschaftsbünde, namentlich die sozialdemokratisch-neoliberale CFDT und die "postkommunistische" CGT, auf unterschiedliche Weise die Streikbewegung desorientiert und gelähmt. Die CFDT hatte bereits am 15. Mai 2003, nur 48 Stunden nach der ersten
Demonstration gegen die Regierungspläne, die "Reform" akzeptiert. Die CGT-Führung ihrerseits hielt bis am Schluss an der Idee eines strategischen Bündnisses mit der "reformfreundlichen" CFDT, um Druck auf die Regierung auszuüben, und einer "Nachbesserung" ihrer "Reform" durch die
konservativ-liberale Regierung Jean-Pierre Raffarin fest ­ statt für den simplen Rückzug der so genannten Rentenreform zu streiken. Über diese strategische Minimallinie hinaus weisende Streikbewegungen, wie die zunächst spontane Arbeitsniederlegung der Eisenbahner und der Beschäftigten der Pariser Transportbetriebe, wurden durch die CGT abgewürgt oder
"kanalisiert". Im Hintergrund stand die Vorstellung vieler Gewerkschaftsfunktionäre, dass eine "Reform" der Rentensysteme im Grunde unvermeindlich sei. Denn im Kern akzeptierten sie das mechanistische Argument der Regierung, die demographische Entwicklung und die höhere
Lebenserwartung der Bevölkerung mache eine regressive Anpassung der Rentensysteme automatisch notwendig. Eine Argumentation, die weder das starke Anwachsen der Produktivität berücksichtigt noch überhaupt die Frage der Aufteilung dieser Produktivitätsgewinne zwischen Löhnen und Profiten stellt, als ob letztere naturgegeben sei.

Vor diesem Hintergrund herrschte auf dem Gebiet der sozialen "Reformen" bzw. Rückschritte, und der Widerstände dagegen, anderthalb Jahre lang eine spürbare Resignation vor. Einzige positive Ausnahme bildeten die nicht abreißenden Aktivitäten der "intermittents du spectacle", der prekären
Beschäftigten im Kulturbetrieb. Die sozial rückschrittliche "Gesundheitsreform" im Sommer 2004 hatte kaum ernsthafte Proteste ausgelöst; in Paris etwa blieb es bei einer einzigen Demonstration mit rund 20.000 TeilnehmerInnen am 5. Juni 04.

Die jüngsten Demonstrationen markieren ­ vielleicht ­ das vorläufige Ende dieser Periode bleierner Lähmung, auch wenn es noch zu früh ist, dies eindeutig zu affirmieren.

Infragestellung der 35-Stunden-Woche

Anlass für diese Protestmobilisierung boten die Regierungspläne zur Verlängerung der Arbeitszeiten. Ein entsprechender Gesetzentwurf der konservativen Regierungspartei UMP wurde am 9. Februar in erster Lesung durch die französische Nationalversammlung angenommen.

Es handelte sich um die größten, von den Gewerkschaften initiierten Demonstrationen seit dem Frühsommer 2003: Auf die damalige Streikwelle gegen die regressive "Reform" der Rentensysteme folgte eine schwere Niederlage und eine längere Phase der Demoralisierung sozialer Protestkräfte.

Dabei war es keineswegs selbstverständlich, dass gerade die angekündigte Infragestellung der 35-Stunden-Woche durch die Rechtsregierung zum Stein des Anstoßes für größere Proteste werden könnte. Denn die damalige Reform der Vorgängerregierung unter dem Sozialdemokraten Lionel Jospin, mit der vor sechs Jahren schrittweise die 35-Stunden-Woche als theoretische
Arbeitszeitnorm eingeführt wurde, bleibt vielen Lohnabhängigen in zumindest teilweise schlechter Erinnerung.

Die 35-Stunden-Woche à la Jospin:
Bereits selbst Teil der neoliberalen "Modernisierung"

Die Verkürzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit bildete damals vor allem den Zuckerguss, der die gleichzeitig verabreichte bittere Pille in Gestalt von Jahresarbeitszeiten und nach Bedarf der Betriebe variierenden Arbeitswochen überdecken sollte. Doch was die jetzige Regierung plant,
bedeutet, den Zuckerguss zu entfernen und die bittere Pille weiterhin schlucken lassen will. Das hat die Mehrheit der Lohnabhängigen auch wohl verstanden.

Dass eine scheinbare Verteidigung der unter der Jospin-Regierung verabschiedeten Arbeitszeitgesetzgebung, die bereits selbst Bestandteil der neoliberalen "Modernisierung" war, nicht unbedingt Begeisterung hervor rufen würde, befürchteten freilich auch viele Gewerkschaften. Deswegen nahmen sie auch mehrere weitere Anliegen in die Demonstrationsaufrufe für den 5.
Februar mit auf, und so demonstrierte man an jenem Tag (laut dem zentralen Aufruf) "gegen Arbeitszeitverlängerung und Beschäftigungsabbau, für höhere Löhne und gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts".

Zugleich sollte damit der Regierungspropaganda der Wind aus den Segeln genommen werden. Letztere versuchte, die Geldnot vieler Lohnabhängiger auszunutzen, um ihnen als Rezept anzubieten: "Mehr arbeiten, um mehr Geld zu verdienen". Die Kaufkraft der Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor sank seit 2000 um bis zu 12 Prozent (gegenüber 5 Prozent im öffentlichen Dienst), da es kaum noch kollektive und stattdessen überwiegend individuelle
Lohnerhöhungen gibt. Hinzu kommen die Auswirkungen der mit den Modalitäten der 35-Stunden-Reform à la Jospin-Regierung in sehr vielen Betrieben einhergehenden, oftmals mehrjährigen "Mäßigung bei den Lohnerhöhungen" oder <modération salariale>. Insofern war zu befürchten, dass diese Propaganda sogar - zunächst - noch verfangen könnte.

Darauf fielen die meisten Beschäftigten dann aber doch nicht herein, da sie wohl wussten, dass es der rechten Regierung weniger um ihr Wohl, sondern eindeutig um das der Arbeitgeber geht. In einer Umfrage, welche die Sonntagszeitung JDD am 30. Januar 05 veröffentlichte, äußerten 77 Prozent sich gegen eine Ausdehnung der bestehenden Arbeitswoche(n), wie die
Regierung sie plant, und nur 18 Prozent erklärten sich dazu bereit.

Rückblick auf die 35-Stunden-Reform unter Jospin

Zum besseren Verständnis soll ein kurzer Rückblick auf die Modalitäten der Einführung der 35-Stunden-Woche vor nunmehr 5 bis 6 Jahren geworfen werden.

Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden wöchentlich ist bereits eine ältere gewerkschaftliche Forderung; in den späten 60er und frühen 70er Jahren wurde sie durch die beiden größten Gewerkschaftsbünde gefordert: die seinerzeit KP-nahe Gewerkschaft CGT und die damals eher links-undogmatische CFDT.1972 wurde sie in das Programm der "Linksunion", der Allianz aus Sozialistischer und Kommunistischer Partei, aufgenommen. Nach dem
Regierungsantritt dieser beiden Parteien im Mai/Juni 1981 wurde ihre Einführung bis im Jahr 1985 offiziell auf die Tagesordnung gesetzt. Im Zuge der "notwendigen Anpassung an die wirtschaftlichen Realitäten" und der unter François Mitterrand alsbald eingeschlagenen "Wende zur Austeritätspolitik" verschwand der Plan allerdings schnell in den Schubladen.

Es war der sozialliberale Wirtschaftspolitiker Dominique Strauss-Kahn ("DSK"), der ab 1993 eine Lobbygruppe der französischen Privatindustrie bei der EU-Kommission in Brüssel (den "Cercle de l¹industrie") leitete und später Wirtschaftsminister unter Lionel Jospin werden sollte, der die Idee
gegen Mitte der 90er Jahre wieder ausgrub. In seinen Konzepten hatte die Reformvorstellung freilich eine andere Bedeutung und Funktion gewonnen: Die Arbeitszeitverkürzung sollte den abhängig Beschäftigten als "Gegenleistung" angeboten werden, im Austausch zur Hinnahme flexibler, je nach dem Bedarf der Betriebe und Dienstleistungsunternehmen variierender Arbeitszeiten. Damit sollte die Wirtschaft des Landes endlich "modernisiert" werden, im Idealfall im Konsens zwischen den "aufgeschlossenen" Fraktionen des Kapitals und den Gewerkschaften.

"DSK" war es, der deswegen die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche "entstaubte" und in das Programm des damaligen Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin zur Wahl des Staatschefs im April/Mai 1995 hineinschreiben ließ. Seine Parteikollegin Martine Aubry war
seinerzeit dagegen: In einem Interview von 1994 hatte sie noch bekundet, der Wunsch nach der 35-Stunden-Woche sei ökonomisch unsinnig und ruinös.

Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass die ab 1998 etappenweise eingeführte Gesetzgebung, die den von DSK konzipierten "Deal" umsetzen sollte, heute unter dem Namen "Aubry-Gesetz 1 und Aubry-Gesetz 2" bekannt ist. Denn die Dame, heute Oberbürgermeisterin von Lille, amtierte damals als Arbeits- und Sozialministerin der Regierung Jospins und wurde mit der
Umsetzung betraut.

Am 10. Oktober 1997 vereinigte Premierminister Lionel Jospin seine Regierung, die Arbeitgeberverbände und die größeren Gewerkschaften an seinem Amtssitz zu einem "Sozialgipfel". Das Gipfeltreffen sollte den Startschuss für die Umsetzung der zuvor angedachten Reform im "sozialpartnerschaftlichen" Konsens abgeben. Dieser Plan scheiterte jedoch: Der oberste Chef des Arbeitgeberverbands CNPF (der heute in MEDEF umbenannrt ist), Jean Gandois, weigerte sich strikt, einem solchen "Deal" zuzustimmen. In seinen Augen handelte es sich um eine unzulässige Einmischung der Politik in die "Angelegenheiten der Unternehmer".

In der Folgezeit setzte die Regierung durch die beiden "Aubry-Gesetze", die im Juni 1998 und im Januar 2000 in Kraft traten, die "Reform" dennoch um. Der Zeitabstand zwischen der Verabschiedung der beiden Gesetzeswerke sollte dazu dienen, dass in den einzelnen Unternehmen Betriebsvereinbarungen angenommen würden, in denen die Modalitäten des angedachten "Deals" festgeschrieben würden. Als mögliche "Gegenleistungen" für die Verkürzung
der Wochenarbeitszeit hatte Jospin in seiner Rede auf dem "Sozialgipfel" von 1997 explizit die Flexibilisierung der Arbeitszeitorganisation oder eine "Mäßigung" bei den Löhnen genannt. In der Praxis konnte nur selten eine Lohnsenkung im wörtlichen Sinne vereinbart werden (weniger als 10 Prozent der Betriebsvereinbarungen), etwas häufiger war dagegen die Verpflichtung
der unterzeichnenden Gewerkschaften zu einer "Zurückhaltung" bei Lohnforderungen in den kommenden Jahren. Dagegen enthalten 80 bis 90 Prozent der geschlossenen Betriebsvereinbarungen Regelungen über variable Arbeitszeiten.

Eine vorläufige Bilanz der 35-Stunden-Reform

Als vorläufige Bilanz der damaligen Reform lässt sich (erstens) festhalten, dass der Beschäftigungseffekt vergleichsweise gering ist oder jedenfalls geringer ausfällt als erwartet. Nach Angaben des Commissariat au Plan, einer staatlichen Wirtschaftsbehörde, aus dem Jahr 2001 wurden in der letzten Wachstumsperiode (1997 bis 2000) in Frankreich insgesamt 1,375 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist vor allem im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologien wie des Internet zu sehen. Nur 240.000 dieser Arbeitsplätze stehen, der Behörde zufolge, im Zusammenhang mit den Beschäftigungseffekten der 35-Stunden-Reform. Demnach haben die mit ihr einher gehende Flexibilisierung der Arbeitszeiten sowie eine
Leistungsverdichtung und ­intensivierung wesentliche Teile der erwarteten Beschäftigungseffekte absorbiert. Manche Wirtschaftswissenschaftler debattieren jedoch kontrovers über diesen Befund: Die Arbeitszeitverkürzung der Jahre 1998 bis 2000 habe zwar nicht direkt einen bedeutenden
Beschäftigungseffekt geschaffen. Allerdings sei der indirekte Effekt zu sehen, der verhindert habe, dass die technologische Modernisierung während der Wachstumsphase der späten 90er Jahre mit noch mehr Arbeitsplatzvernichtungen in anderen Sektoren einher gehe.

Was die Auswirkungen auf die abhängig Arbeitenden betrifft, so ist je nach sozialer Situation und Beschäftigungslage zu differenzieren. Am 15. Mai 2001 fasste die Tageszeitung France Soir eine Studie aus dem Arbeitsministerium folgendermaßen zusammen : "Je nachdem, ob man cadre (höherer, leitender Angestellter) oder aber ’einfacher ArbeiterŒ ist, fallen die Auswirkungen
der 35-Stunden-Woche unterschiedlich aus. Und es sind vor allem die cadres, die sich am zufriedensten mit der Arbeitszeitverkürzung zeigen". Nämlich weil sie davon in Form ganzer Urlaubstage, über das Jahr verteilt, profitieren. Das damalige Frohlocken der Tourismusindustrie über die gestiegene Zahl von Kurzurlauben und Wochenend-Reisen geht vor allem auf
diesen Teil der Beschäftigten zurück, der aber oft einen hohen Preis dafür bezahlte: Die "Aubry-Gesetze" sehen ausdrücklich vor, dass für die cadres (anders als für Arbeiter und "einfache" Angestellte) nur mehr die Zahl der Arbeitstage pro Jahr, aber nicht mehr die Länge der Arbeitszeit am Tag gemessen wird. Andere Beschäftigte hingegen sehen sich die Verkürzung der
Arbeitszeit in Form einzelner Stunden angerechnet, was wesentlich geringere Veränderungen im Lebensrhythmus nach sich zieht.

Ferner hieß es in dem Artikel: "Bei den einfachen Angestellten oder Arbeitern klingt das anders. So zeigt eine Studie des Gewerkschaftsbunds CFDT im Bausektor von Anfang des Jahres, dass sich die Bedingungen im Arbeitsleben verschlechtern. (...) Die Beschäftigten des Sektors legen einen
markanten Pessimismus an den Tag, was die Entwicklung der Arbeitsbedingungen, des Rhythmus und der Intensivität der Arbeit betrifft, aber auch die Entwicklung der Löhne."

Die Wirtschaftszeitung ’La TribuneŒ vom 19. Juni 01 sah aber auch für die leitenden Angestellte Nachteile: "Stress und Müdigkeit für die cadres" lautete die Überschrift. Der Untersuchung zufolge zeigte sich dennoch die Mehrheit der Befragten global mit der Arbeitszeitverkürzung einverstanden: 58 Prozent der Befragten betrachten sie als Verbesserung des täglichen
Lebens, 29 Prozent sehen keine Veränderung darin, und für 13 Prozent stellte sie eine Verschlechterung dar. Doch befragte man die Beschäftigten nach ihren konkreten Arbeitsbedingungen, dann sah die Verteilung von Zufriedenheit und Unzufriedenheit schon anders aus: 46 Prozent erblickten auf diesem Gebiet weder Verbesserung noch Verschlechterung, 29 Prozent konstatieren eine Verschlechterung und nur 25 Prozent eine Verbesserung.

Insofern lässt sich das Fazit ziehen, dass die damalige Reform der gesetzlichen Arbeitszeit zwar einerseits von vielen Menschen insofern als Erleichterung erlebt wurde, als sie ihnen erlaubte, für längere Zeiträume als bisher dem Arbeitsleben und seinen Zwängen zu entfliehen. Andererseits
ging sie sehr häufig mit einer Zunahme von Zwängen, mit Leistungsverdichtung und zunehmend irregulären Arbeitsrhythmen innerhalb des Berufslebens einher. Das Arbeitsleben selbst zu verbessern, dieses Ziel ist durch die konkreten Modalitäten der Reform eher in weitere Ferne gerückt als bisher. Zugleich aber konzentrieren viele Beschäftigte, die an diesem Punkt resignieren, ihre Bemühungen nunmehr auf die Ausgestaltung ihrer Freizeit, da die "Aubry-Gesetzgebung" die Spielräume dafür erweitert ­ die finanziellen Möglichkeiten dazu vorausgesetzt.

Nicht alle Arbeitgeber spielen mit

Jene Unternehmen, die das "Spiel" mitspielten und entsprechende Vereinbarungen mit mindestens einem Teil "ihrer" Gewerkschaften abschlossen, wurden dafür üppig belohnt. Für die Dauer von 5 Jahren erhielten sie kräftige Nachlässe bei den abzuführenden Sozialabgaben, und zwar für die
unteren und mittleren Lohngruppen (bis zum 1,8-fachen des gesetzlichen Mindestlohns) gestaffelt: Je niedriger der Lohn, desto höher der Nachlass.
Damit wurden die Lohnnebenkosten für mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten kräftig gesenkt, mit einem entsprechenden Verlust an Einnahmen für die öffentlichen Sozialversicherungssysteme. Voraussetzung dafür, 5 Jahre lang die üppigen De-facto-Subventionen zu genießen, war für die Unternehmen eine Senkung der Arbeitszeit um 10 Prozent und die Beschäftigung von mindestens 6 Prozent zusätzlichen Personals ­ während mindestens zwei Jahren.

Gleichzeitig setzte aber derjenige Teil der Kapitalistenverbände, der den "Deal" wegen einer zu starken "Einmischung der Politik" ablehnte, eine stark ideologisch aufgeladene Kampagne dagegen fort. Im Dezember 1999 konnte der Arbeitgeberverband MEDEF so mehrere tausend Unternehmer zu einer "Protestversammlung" mobilisieren. Der MEDEF forderte, dass künftig
Betriebsvereinbarungen Vorrang vor Gesetzen und Branchen-Tarifverträgen haben sollten, damit die angebliche notwendige "Modernisierung" von den betrieblichen Akteuren und nicht von "der sich unzulässig einmischenden Politik" ausgehe. Dafür gewann er die auf die, heute sozialdemokratische und in ihrem Funktionskern klar pro-neoliberale, CFDT als Bündnispartner. Beide Organisationen zusammen schlossen in den folgenden Monaten mehrere Abkommen
zur "Neubegründung der sozialen Beziehungen". So vereinbarten sie im Sommer 2000 eine Neuregelung der Rechte von Arbeitslosen in Gestalt des Projekts PARE (Hilfe zur Rückkehr an den Arbeitsplatz), das wie eine Light-Version der deutschen Hartz IV-Gesetze aussieht. Die CFDT verwaltete damals die, paritätisch mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern besetzte,
Arbeitslosenkasse. Beide "Sozialpartner" trieben damals den Gesetzgeber vor sich her, den sie aufforderten, weitere "Reformen" anzunehmen. Allerdings
ist die damals geschmiedete strategische Achse aus MEDEF und CFDT seit dem Regierungswechsel von 2002 zerbrochen: Seitdem Jean-Pierre Raffarin Premierminister ist, bildet der MEDEF nunmehr eine strategische Allianz mit der Regierung. Die sozialliberale CFDT sieht sich um die Früchte ihrer
Bemühungen gebracht.

Bis zum Regierungswechsel hatte die CFDT sich als "die 35-Stunden-Gewerkschaft" strategisch positioniert: Von allen Gewerkschaften hat diese Organisation die meisten Betriebsvereinbarungen zur Umsetzung der Arbeitszeitreform unterschrieben, und ist häufig den Wünschen der
Arbeitgeber ­ etwa nach flexibleren Arbeitszeiten ­ am meisten entgegen gekommen. Es hat ihr nichts genutzt, da die Raffarin-Regierung sich jetzt anschickt, ihr das Symbol "35 Stunden" weg zu nehmen. Deswegen hat die CFDT auch an den Demonstrationen vom 5. Februar teilgenommen, wobei freilich die CGT weitaus mehr Demonstranten (in Paris etwa zwei Drittel des gesamten
Protestzugs) stellte als die CFDT.

In Paris beispielsweise stellte die CFDT maximal 4.000 Demonstranten. Davon zählte ein Teil zu den ohnehin linksoppositionellen, kämpferischen Sektionen innerhalb der CFDT (wie die Pariser Metallindustrie). Andere Teile der Demo vom 5. Februar hingegen kamen auch aus den traditionell rechten, ja "gelben" CFDT-Verbänden wie dem Dienstleistungsverband (CFDT Services), der
jedenfalls bis vor wenigen Jahren durch die Arbeitgeber finanziert wurde; "Le Canard enchaîné" publizierte vor 5 Jahren eindeutige Dokumente dazu. - Damit stellte die CFDT, bei annähernd gleicher Mitgliederzahl wie die weitaus mobilisierungsfähigere CGT, allerhöchstens ein Zehntel der Pariser Demonstration. Nachdem sie sich bereits so sehr als technokratische
Verhandlungsgewerkschaft erwiesen hat, hat sie jetzt eben Mühe damit, ihre Basis auf die Straße zu bekommen.

Was die jetzige Regierung plant

Unmittelbarer Anlass für den Protest war die Offensive der rechten Parlamentsmehrheit, die Teile der Gesetzgebung zur 35-Stunden-Woche aus den Jahren 1999/2000 rückgängig machen will. Der Gesetzentwurf der konservativen Regierungspartei UMP sollte ursprünglich am 3. Februar in erster Lesung verabschiedet werden, doch aufgrund der zähen Hinhaltetaktik der parlamentarischen Opposition verzögerte sich die Abstimmung um mehrere Tage. Die Annahme in erster Lesung erfolgte am vorigen Mittwoch in der Nationalversammlung.

Seit zwei Jahren war es innerhalb der UMP heftig umstritten, ob man die beiden "Aubry-Gesetze" zur 35-Stunden-Woche einfach abschaffen solle, um das "hässliche Symbol" zu entfernen, oder aber ob man dessen Grundstruktur beibehalten und vorzugsweise die in ihm enthaltenen Flexibilitäts-Spielräume ausweiten solle. (Letztere Variante hat sich durchgesetzt.) Dieser Streit
wurde zeitweise durch die Kontrahenten, die sich in der UMP einen heftigen Machtkampf liefern (der derzeitige Parteichef Nicolas Sarkozy und Präsident Jacques Chirac) beinahe zum Glaubenskonflikt hochstilisiert, wobei Sarkozy sich im Frühsommer 2004 vor einem begeisterten kleinbürgerlichen Publikum zum Fürsprecher der vermeintlich radikaleren Abschaffungs-Lösung machte.
Davon wollte aber letztendlich auch das Arbeitgeberlager, jedenfalls das Großkapital und der dessen Interessen vertretende Verband MEDEF, nichts wissen. (Anders sah es höchstens bei aufgeregten Mittelständlern und Kleinunternehmern aus, die nicht denselben strategischen Weitblick aufweisen wie die MEDEF-Kapitäne.) Denn bei den dominierenden Kapitalfraktionen hatte
man wohl verstanden, dass man mit den Aubry/Jospin-Gesetzen auch riesige Vorteile habe, namentlich in Gestalt der Nachlässe an Sozialabgaben und Lohnnebenkosten ­ und die wollte man behalten! Ferner hatten die strategisch denkenden Kapitalvertreter auch verstanden, dass die Aubry-Gesetze bereits einen geeigneten Rahmen für weitgehende "Flexibilisierung" abgeben. Es gelte (ihnen zufolge) lediglich, die vorhandenen Spielräume der Arbeitgeber noch
weiter auszudehnen und vor allem die Obergrenzen für die Ausdehnung der Arbeitswochen anzuheben. Dies aber nicht durch eine einfache Streichung des Gesetzes, sondern unter Bewahrung seiner sonstigen Mechanismen.Sobald der jetzt in der parlamentarischen Debatte befindliche Text definitiv verabschiedet ist, wird es in Frankreich kaum noch rechtliche Obergrenzen
für das Ableisten von Überstunden geben. Die vom Gesetz vorgesehene theoretische Obergrenze wird auf 220 Überstunden pro Jahr angehoben ­ außer bei Bestehen einer Betriebsvereinbarung, die ebenso nach unten wie nach oben hin abweichen kann. Das entspricht vier Stunden pro Woche oder einer Rückkehr zur 39-Stunden-Woche, aber mit einem wichtigen Unterschied:
Überstunden werden dann und nur dann geleistet, wenn der Arbeitgeber sie anordnet. Eine Garantie einer entsprechenden Lohnhöhe gibt es damit ebensowenig wie für auf längere Sicht hin stabile Arbeitszeiten.

Doch "freiwillig" mehr arbeitende Lohnabhängige können diese gesetzliche Maximalgrenze für Überstunden zukünftig auch überschreiten, was bisher unzulässig war. Die einzigen legalen Grenzen sind dann noch die Vorschriften, wonach abhängig Beschäftigte höchstens 48 Stunden (oder in begründeten Ausnahmefällen vorübergehend 60 Stunden) pro Woche arbeiten
dürfen. Ferner entfällt der bisher obligatorische Freizeitausgleich: Die auf einem "Zeitsparkonto" (Compte épargne-temps, CET) registrierten Überstunden können künftig auch ausbezahlt statt durch Freizeit ausgeglichen werden; dasselbe gilt für bis zu zwei Urlaubswochen pro Jahr. Und bestand bisher eine Obergrenze von 5 Jahren, binnen derer das Zeitkonto geleert werden
musste, so kann es zukünftig auf unbestimmte Zeit hin aufgefüllt werden. Um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes oder um die Höhe ihrer späteren Rente fürchtende Lohnabhängige können es also über etliche Jahre hin auffüllen, das Geld wird vom Unternehmen angespart. Was passiert, falls der Betrieb dann pleite geht, dürfte zukünftig noch ein haariges Problem darstellen.

Wie geht es weiter?

Welche möglichen Konsequenzen die derzeitigen Auseinandersetzungen und Proteste haben werden, ist im Moment noch nicht abzusehen. Premierminister Jean-Pierre Raffarin hat in den Tagen nach dem 5. Februar verkündet, 400.000 bis 500.000 Demonstranten seien nicht so wichtig, und die Protestzüge gehörten eben zum Ritual der Gewerkschaften; eine funktionierende "soziale
Demokratie" könne damit leben, ergo zur Tagesordnung übergehen.

Allerdings genügten bereits 100.000 demonstrierende SchülerInnen der Oberstufen eine Woche später, um die von Bildungsminister François Fillon geplante Abiturreform zu Fall zu bringen. Ein hoher Beamter des Pariser Bildungsministeriums wurde in der französischen Presse mit den warnenden Worten zitiert: "Schüler und Studenten sind wie Zahnpasta. Wenn sie einmal
aus der Tube entwischt sind, bekommt man sie nicht wieder hinein." Die am Dienstag dieser Woche (15. Februar) vom Parlament beratene Fassung der neuen Schulgesetze enthalten zwar immer noch mehrere Bestimmungen, die von Schülerverbanden wie Lehrergewerkschaften bekämpft wird, wie den Abbau von fast 4.000 Lehrerstellen im kommenden Herbst. Aber die heikle Reform des
Abiturs, mit der Streichung von ("zu teuren") Fächeroptionen und der Abschaffung des Zentralabiturs, wurde vorläufig zurückgezogen ­ auf Anordnung von Präsident Chirac persönlich, der eine unkontrollierbare Dynamik der Schülerproteste fürchtete.

Vielleicht sollten auch die abhängig Beschäftigten sich öfter "wie Zahnpasta" verhalten.

Bernhard Schmid, Paris


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