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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Das Frankreich, das knurrt": Länger malochen? No merci!

"Das Frankreich, das Nein sagt" blickte einem am vorigen Samstag vom Titel der Boulevardzeitung ’France Soir`entgegen, während die Sonntagszeitung ’JDDŒ am folgenden Tag schlagzeilte: "Das Frankreich, das knurrt". Diese sympathische Fraktion des Landes war am Samstag nachmittag auf den Straßen oder zumindest im Geiste dabei. Es ging, unter anderem, gegen die Reform der rechten Parlamentsmehrheit und der Regierung zur Verlängerung der Arbeitszeiten. Dabei war der Erfolg zunächst keineswegs selbstverständlich.

40.000 bis 50.000 Leute waren in Paris auf den Beinen, und frankreichweit waren es 400.000. (In Paris sprach die Polizei von 30.000 Teilnehmehnenden, die Veranstalter von 90.000. Letztere Zahl ist jedoch übertrieben, berücksichtigt man, dass der Protestzug an einem fixen Ort zwischen 2 h 30 min und 2 h 40 min zum Vorüberziehen benötigte.) Neben den, leichter zu mobilisierenden, öffentlichen Diensten war dieses Mal ansatzweise auch der private Wirtschaftssektor vertreten. Um ihm eine deutlichere Präsenz zu ermöglichen, war die Großdemo auch auf einen Samstag gelegt worden, da Streiken im Privatsektor zur Zeit wesentlich schwerer fällt als im öffentlichen Dienst. So waren Abordnungen aus den Automobilwerken von Citroën, aus mehreren Banken und Metallbetrieben vertreten.

Jeweils über 20.000 TeilnehmerInnen gingen am Samstag auch in Marseille, Bordeaux und Toulouse auf die Straße.

Dabei stellte die CGT circa zwei Drittel des Pariser Demozuges. Deutlich präsent waren auch die linken SUD-Basisgewerkschaften (1.000 bis 2.000), die gegen die kommende "Schulreform" protestierende Lehrerschaft und dieses Mal auch streikbereite SchülerInnen der Oberstufen.   

Aber auch die sozialdemokratische, pro-neoliberale Gewerkschaftsvereinigung CFDT hatte erstmals seit längerer Zeit ernsthaft für eine Demonstration mobilisiert. In Paris gehörten ihr zwischen 3.000 und 4.000 der Demonstrierenden an. Dazu gehörten einerseits die üblicherweise bei Demos vertretenen, linksoppositionellen CFDT-Verbände (etwa die Pariser Metallindustrie). Andererseits hatten aber auch führungsloyale, also eher rechte Abteilungen der CFDT mobilisiert. Das hängt damit zusammen, dass die CFDT in den letzten 5 Jahren auf die "sozialpartnerschaftliche" Umsetzung der 35-Stunden-Woche als zentrales Element ihrer Strategie gesetzt hatte. Dazu war sie jahrelang auch bereit, höchst fragwürdige Kompromisse abzuzeichnen und dabei ein Maximum an "Flexibilität", variablen Arbeitszeiten für die Beschäftigten usw. in Kauf zu nehmen. Nunmehr möchte die aktuelle Rechtsregierung aber nicht einmal darauf Rücksicht zu nehmen und plant, ihr sogar das Symbol "35 H", das immer noch auf diese (de facto oft sehr arbeitgeber-freundlichen) Betriebsvereinbarungen geheftet werden konnte, wieder "wegzunehmen". Deshalb ist auch ein Teil des CFDT-Apparats derzeit ziemlich sauer auf die Regierung. Allerdings hatte CFDT-Chef  Jacques Chérèque am Vortag in "Le Monde" angekündigt, er möge nicht dazu beitragen, eine "Sammlung aller Unzufriedenen" zu befördern, sondern nur eine auf ein präzises Anliegen beschränkte Mobilisierung unterstützen.

Damit waren die gewerkschaftlichen Demonstrationen vom Samstag, zu der alle Beschäftigtenorganisationen mit Ausnahme der CGC (der Gewerkschaft der höheren und leitenden Angestellten, französisch "cadres") aufriefen, die größten seit den Massenstreiks gegen die regressive Rentenreform vom Frühsommer 2003. Die auf die damalige schwere Niederlage folgende Demoralisierung scheint ansatzweise überwunden.

Die auf investigative Berichte, Enthüllungen und Satire spezialisierte Wochenzeitung "Le Canard enchaîné" hatte am vorigen Mittwoch berichtet, Premierminister Jean-Pierre Raffarin zeige sich im Vorfeld der Demonstrationen vom Wochenende ernsthaft besorgt. Man müsse ihren Erfolg abwarten, aber auch, in welchem Ausmaß "andere Forderungen (über den Protest gegen die Regierungsoffensive zur Ausdehnung der Arbeitszeiten hinaus) in den Demozügen erhoben werden". Vor allem das schien der Regierung Sorge zu bereiten: Dass verschiedene Anliegen sich zu einer Art von (na ja, wenn man es so ausdrücken möchte:) Multitude vermengen könnten.

Damit ist Raffarin im Moment bedient, denn tatsächlich flossen mehrere Anliegen zusammen. So kamen zum Abwehrkampf gegen das längere Malochen auch die Widerstände gegen die "Schulreform" oder die besonders im Moment allzu berechtigte Forderung nach höheren Löhnen hinzu. Aber auch das "NEIN" zur neoliberalen und militaristischen EU-Verfassung, über die Frankreich aller Voraussicht nach in der zweiten Junihälfte abstimmen wird, war massiv präsent. Wenn es auch einigen teilnehmenden Organisationen (die CFDT und der Parti socialiste rufen dazu auf, mit "JA" zu stimmen) wohl missfiel.

Vorab: Sozialarbeiter wehren sich gegen "Schnüffeldienste für die Polizei"

An den zwei Tagen davor, Donnerstag und Freitag, waren bereits einige Tausend Sozialarbeiter und Sonderpädagogen, einige LehrerInnen sowie junge Forscher gegen die Sparpolitik im öffentlichen Bildungswesen auf die Straßen gegangen. Bei Ersteren ging es vor allem auch gegen eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze, die aus ihnen in zunehmendem Maße Hilfskräfte der Polizei machen und sie etwa zum Melden eventueller Straftaten ihrer "Klienten" verpflichten soll. (Der neue Entwurf aus dem Innenministerium zu den Sicherheitsgesetzen enthält u.a. ein kurioses Schaubild, auf dem die Entwicklung von "abweichendem Verhalten" hin zur Kriminalität dargestellt wird. Die schiefe Bahn beginnt demnach im Alter zwischen 1 und 3 Jahren, und zwar damit, dass im Elternhaus von Migranten kein Französisch gesprochen wird. Als Abhilfe gegen Kriminalitätsentwicklung wird vorgeschlagen, dass den Kids in diesem zarten Alter durch die Eltern klar gemacht werden soll, "dass sie nur Französisch als Verständigungsmittel haben".)

Die circa 2.000 jungen ForscherInnen, die am Freitag in Paris demonstrierten, wehrten sich gegen die Mittelknappheit für die öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen und die Bevorzugung privater Forschungsstätten (bei den Unternehmen); und sie kritisierten, dass die im Frühjahr 2004 den Forschern gegeben Versprechungen teilweise nicht eingehalten wurden.

Die Lehrer einiger Schulen, aber auch SchülerInnen der Oberklassen gingen ebenfalls an diesen zwei Tagen mit auf die Straße. Denn in den nächsten Tagen soll der Entwurf von Bildungsminister François Fillon zur Zukunft des Schulwesens ins Parlament kommen. Dieser sieht u.a. die Abschaffung der pädagogischen Betreuungsmöglichkeiten für einzelne SchülerInnen in den Oberklassen (zu teuer) und die Bildung größerer Klassen vor. Eine Reihe bisher angebotener Wahlfächer und Optionen soll geopfert werden, so sollen etwa seltenere Fremdsprachen kaum mehr angeboten werden. Und das bisher geltende Zentralabitur (das zentral korrigiert wurde) soll abgeschafft werden, jede Schule soll ihre eigene Abiturnoten unter Berücksichtigung der ganzjährigen Mitarbeit geben. Nicht zu Unrecht befürchten viele LehrerInnen und SchülerInnen ein Zwei- oder Mehrklassenabitur, wobei besonders die Abgänger von prestigereichen Pariser Oberschulen entsprechend gute Karten hätten.

Die Demos vom Samstag und ihr Anlass: Die Regierung plant die ("flexible") Verlängerung der Arbeitszeiten

Unmittelbarer Anlass für den samstäglichen Protest war die Offensive der rechten Parlamentsmehrheit, die Teile der Gesetzgebung zur 35-Stunden-Woche aus den Jahren 1999/2000 rückgängig machen will. Der Gesetzentwurf der konservativen Regierungspartei UMP sollte ursprünglich am vorigen Donnerstag in erster Lesung verabschiedet werden, doch aufgrund der zähen Hinhaltetaktik der parlamentarischen Opposition verzögerte sich die Abstimmung auf Dienstag dieser Woche. Sobald der Text definitiv verabschiedet ist, wird es in Frankreich kaum noch rechtliche Obergrenzen für das Ableisten von Überstunden geben. Die vom Gesetz vorgesehene theoretische Obergrenze wird auf 220 Überstunden pro Jahr angehoben. Das entspricht vier Stunden pro Woche oder einer Rückkehr zur 39-Stunden-Woche, aber mit einem wichtigen Unterschied: Überstunden werden dann und nur dann geleistet, wenn der Arbeitgeber sie anordnet. Eine Garantie einer entsprechenden Lohnhöhe gibt es damit ebensowenig wie für auf längere Sicht hin stabile Arbeitszeiten.

Doch "freiwillig" mehr arbeitende Lohnabhängige können diese gesetzliche Maximalgrenze für Überstunden zukünftig auch überschreiten, was bisher unzulässig war. Die einzigen legalen Grenzen sind dann noch die Vorschriften, wonach abhängig Beschäftigte höchstens 48 Stunden (oder in begründeten Ausnahmefällen vorübergehend 60 Stunden) Stunden pro Woche arbeiten dürfen. Ferner entfällt der bisher obligatorische Freizeitausgleich: Die auf einem "Zeitkonto" (CET) registrierten Überstunden können künftig auch ausbezahlt statt durch Freizeit ausgeglichen werden; dasselbe gilt für bis zu zwei Urlaubswochen pro Jahr. Und bestand bisher eine Obergrenze von 5 Jahren, binnen derer das Zeitkonto geleert werden musste, so kann es zukünftig auf unbestimmte Zeit hin aufgefüllt werden. Um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes oder um die Höhe ihrer späteren Rente fürchtende Lohnabhängige können es also über etliche Jahre hin auffüllen, das Geld wird vom Unternehmen angespart. Was passiert, falls der Betrieb dann pleite geht, dürfte zukünftig noch ein haariges Problem darstellen.


Die sozialdemokratische 35-Stunden-Woche: Selbst bereits Teil der neoliberalen Modernisierung...

Dass es dagegen ein massenhaftes Aufbegehren geben würde, war dennoch nicht von vornherein sicher. Denn die "sozialpartnerschaftlich" angedachte Reform der sozialdemokratischen Regierung Lionel Jospins, mit der vor sechs Jahren schrittweise die 35-Stunden-Woche als theoretische Arbeitszeitnorm eingeführt wurde, bleibt vielen Lohnabhängigen in eher schlechter Erinnerung.

In Befragungen äußern sich gewöhnlich je circa 50 Prozent in positivem und in negativem Sinne über die damalige "Reform", mit oder ohne Anführungszeichen. Glücklich über deren Auswirkungen zeigen sich i.d.R. vor allem die mittleren und höheren Angestellten ("les cadres"), die zwar nunmehr noch mehr Arbeitshetze innerhalb des Arbeitslebens ausgesetzt sind, aber ihm in Form ganzer Urlaubstage öfter entfliehen können. Dagegen äußern sich Arbeiter und "einfache" Angestellt (ouvriers et employés) des öfteren kritisch bis negativ, da sie nunmehr stärker den Zwängen der "Flexibilität" ausgesetzt sind, während sie aus finanziellen Gründen nicht so sehr die Kompensation in Form von Kurz-Urlaubsreisen genießen können. Hinzu kommt für diese einkommensschwächeren Schichten der Lohnabhängigenschaft, dass die Jospin-Reform i.d.R. zwar nicht mir direkten Lohneinbußen, wohl aber mit einer mehrjährigen "Mäßigung bei der Lohnpolitik" (modération salariale) einher ging.

Alles in allem erscheint das Bild der konkreten Durchführung der 35-Stunden-Reform also eher getrübt (was freilich noch nicht die Idee einer Arbeitszeitverkürzung als solcher diskredieren sollte).

Die Verkürzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit bildete damals nämlich vor allem den Zuckerguss, der die gleichzeitig verabreichte bittere Pille in Gestalt von Jahresarbeitszeiten und nach Bedarf der Betriebe variierenden Arbeitswochen überdecken sollte. Doch was die jetzige Regierung plant, bedeutet, den Zuckerguss zu entfernen und die bittere Pille weiterhin schlucken lassen will.

Der Parti Socaliste (PS) als Urheber der damaligen "Reform", versuchte sich freilich durch seine Anwesenheit in den Demozügen vom Samstag ein neues "jungfräuliches" Politimage zu verleihen. Und nun gar, vorübergehend, als Partei des sozialen Widerstands zu erscheinen. Die ehemalige Arbeitsministerin Martine Aubry, die 1998/99 die konkreten Bestimmungen der Gesetzgebung zur 35-Stunden-Reform aushandelte und ­formulierte, demonstrierte etwa in Lille mit. Dort amtiert sie seit 2001 als Oberbürgermeisterin. Der PS-Parteisekretär François Hollande (alias "Schlaftablette auf zwei Beinen") mengte sich in Rennes unter die Demonstrierenden. Indem sie momentan einen forscheren Ton anschlägt und die jetzige Regierungsmehrheit des "Anschlags auf eine soziale Errungenschaft" beschuldigt, versucht die französische Sozialdemokratie ihre eigene "Reform" von damals nachträglich in besserem Licht erscheinen zu lassen. Ob das gelingen mag, ist freilich fragwürdig. Zumal, neben den "Baronen", das Fußvolk des PS nicht so sehr zahlreich zu den Demos erschien. Hat die Partei sich doch längst derart institutionalisiert, dass sie kaum noch eine Arbeiterbasis aufzuweisen vermag.


...Und der Widerstand gegen eine weitere Verschlimmerung

Dass eine scheinbare Verteidigung der Reform der Jospin-Regierung, die bereits selbst Bestandteil der neoliberalen "Modernisierung" war, nicht unbedingt Begeisterung hervor rufen würde, befürchteten oft auch die Gewerkschaften. Deswegen nahmen sie auch eine Fülle weiterer Anliegen in die Demonstrationsaufrufe mit auf, und so ging es "gegen Arbeitszeitverlängerung und Beschäftigungsabbau, für höhere Löhne und gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts".

Zugleich sollte damit der Regierungspropaganda der Wind aus den Segeln genommen werden. Letztere versuchte, die Geldnot vieler Lohnabhängiger auszunutzen, um ihnen als Rezept anzubieten: "Mehr arbeiten, um mehr Geld zu verdienen". (Die Kaufkraft der Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor sank seit 2000 um bis zu 12 Prozent, da es kaum noch kollektive und stattdessen überwiegend individuelle Lohnerhöhungen gibt. Hinzu kommen die Auswirkungen der mit den Modalitäten der 35-Stunden-Reform à la Jospin-Regierung in vielen Betrieben einhergehenden, oftmals mehrjährigen "Mäßigung bei den Lohnerhöhungen» oder «modéreation salariale». Im öffentlichen Dienst sank im selben Zeitraum die Kaufkraft um circa 5 Prozent, nach gewerkschaftlichen Berechnungen.) Insofern war zu befürchten, dass diese Propaganda sogar zunächst noch verfangen könnte.

Darauf fielen die meisten Beschäftigten dann aber doch nicht herein, da sie wohl wussten, dass es der rechten Regierung weniger um ihr Wohl als um das der Arbeitgeber geht. In einer Umfrage, welche die Sonntagszeitung "JDD" am 30. Januar 05 veröffentlichte, äußerten 77 Prozent sich gegen eine Ausdehnung der bestehenden Arbeitswoche(n), wie die Regierung sie plant, und nur 18 Prozent erklärten sich dazu bereit.

69 Prozent der Franzosen und Französinnen unterstützten laut einer Umfrage, die am vorigen Donnerstag in der Tageszeitung "L`Humanité" und in einer CGT-Gewerkschaftszeitung veröffentlicht wurde, die Protestzüge vom Wochenende. Nur 11 Prozent waren "ablehnend" oder "feindlich" eingestellt, der Rest hatte erst einmal keine Meinung.


Wie geht es weiter?

Der deutliche Erfolg der Protestzüge vom Samstag wird nur den Auftakt für weitere Aktionen bilden, auf die mehrere Gewerkschaften sich in den nächsten Tagen verständigen wollen. Und die Lehrer, die am Samstag vielerorts zahlreich mit dabei waren, wollen am 15. Februar gegen das neue Schulgesetz demonstrieren.

Die Regierung freilich, die den Erfolg der Protestzüge bisher noch kleinreden möchte (Regierungssprecher Jean-François Copé argumentierte, es sei doch mehrheitlich der öffentliche Dienst unterwegs gewesen), hat bereits angekündigt, keine Konzessionen zu machen.

Bernhard Schmid (Paris)


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