letzte Änderung am 30. Oktober 2003

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19. Juni 2003: Demonstration gegen die Renten"reform"

Fotos und Kommentare zur Demo in Paris von Bernard Schmid

Donnerstag, 19. Juni 2003

An diesem Donnerstag findet die letzte größere Demonstration gegen die Renten"reform" statt. Die TeilnehmerInnen wissen, dass die Protestbewegung ihren Wendepunkt überschritten hat: Der Transportstreik ist abgebröckelt und so gut wie beendet. Die LehrerInnen stehen kurz vor dem Schuljahresende, und das (letztendlich ungestörte) Stattfinden des Abiturs in den Tagen ab dem 12. Juni hat das Kräfteverhältnis des Schulstreiks aufgelöst. In jedem Falle erzwang das Erreichen dieses Stichdatums eine Klarstellung: Entweder würde eine Ausdehnung der Bewegung (mit Tendenz hin zum ­ weithin geforderten - Generalstreik, auch wenn dieses Ziel nicht völlig erreicht werden würde) und der Aufbau eines günstigeren Kräfteverhältnisses gelingen. Oder aber die Bewegung würde in naher Zukunft auslaufen. Nach intensiven fünf Wochen, zwischen dem 13. Mai und dem 19. Juni, läuft die Entwicklung nun auf zweitere Option hinaus.

Dennoch demonstrieren an diesem Tag erneut Zehntausende von Menschen in Paris, von der Gare de Montparnasse (im Südwesten der Stadt) bis zum damaligen Hauptsitz des Arbeitgeberverbands MEDEF, der in der Avenue Pierre-Premier-de-Serbie (im vornehmen 16. Bezirk, ein wenig nördlich der Seine) liegt. (Einen Monat später sollte der MEDEF auf die gegenüber liegende Seite des Seine, in den 7. Bezirk umziehen.) Damit wird der MEDEF erstmals direkt zum "Ziel" einer Pariser Großdemonstration. Um dorthin zu gelangen, überquert ein langer Bandwurm von DemonstrantInnen die Seine über die Brücke, die direkt vor dem Eiffelturm liegt ­ selten prägte eine Demo optisch so stark die zentralen Orte der Stadt, wie an diesem Tag. Auch in anderen französischen Städten finden noch einmal Demonstrationen statt.

Die meisten Teilnehmern dürften wissen, dass es sich wohl um den letzten Akt der Bewegung gegen die Renten"reform", in ihrer bis dahin bekannten Form (d.h. in Form von Großdemonstrationen in Verbindung mit "Aktionstagen" und damit verbundenen, teilweise befolgten Streikaufrufen) handelt. Dennoch sind erneut mindestens 40.000 DemonstrantInnen in Paris zusammengekommen, womit die Mobilisierung auf ähnlich hohem Niveau wie in den vergangenen beiden Wochen bzw. nur knapp darunter liegt. Zurückgegangen ist allerdings die Zahl der LehrerInnen unter den Demonstrierenden, die immer noch zahlreich vertreten sind, aber nicht mehr in gleicher Weise zahlenmäßig dominierend erscheinen.

Das faktische Ende des Schulstreiks und der Kompromiss, den die (größeren) Lehrergewerkschaften mit Innenminister Nicolas Sarkozy unterzeichneten, spielt bei dieser relativen (freilich begrenzten) Demobilisierung eine wesentliche Rolle. Der Kompromiss sieht vor, dass die besonders "sensiblen" Kategorien, wie OrienterungsberaterInnen - die einen Einfluss auf die Schulwahl der Kinder und Jugendlichen ausüben - und SchulpsychologInnen, nicht von der "Dezentralisierung" des Bildungswesen (d.h. dem Rückzug des Staates zugunsten der, bzw. zu Lasten der, Regionen und Départements) betroffen sein werden. Oder erst deutlich späterŠ "Dezentralisiert", also auf die Regionen und Bezirke umverteilt, werden sollen dagegen weiterhin die technischen und administrativen Angestellten, die so genannte Kategorie der TOS oder ATOS. Sie machen freilich 90 Prozent des nicht-unterrichtenden Schulpersonals (91.000 von gut 100.000 Personen) aus, um das es bei der "Dezentralisierung" ging. Jene LehrerInnen und GewerkschafterInnen, die sich nicht demobilisieren ließen und auch am 19. Juni demonstrieren, antworten darauf mit einer Geste: Die TOS laufen an der Spitze des schulischen Demoblocks, in der ersten Reihe der Bildungsgewerkschaften.

Oft sind die DemonstrantInnen gekommen, um sich durch einen (vielleicht vorläufig letzten) symbolischen Akt "nicht geschlagen" zu zeigen. Und um der Regierung das spätere Wiederaufflammen sozialer Proteste bei nächster Gelegenheit (etwa anlässlich der befürchteten "Gesundheitsreform", die im Herbst 2003 erwartet wurde und inzwischen um ein Jahr verschoben ist) zu versprechen.

Die Akteure des nächsten großen sozialen Konflikts, der wenige Tage darauf beginnen wird ­ was für viele TeilnehmerInnen der Mai- und Juni-Bewegung zunächst unerwartet kommt ­ sind aber bereits in dieser Demonstration sichtbar. Die "intermittents du spectacle", die unter prekären materiellen Bedingungen arbeitenden Kulturschaffenden, beginnen in diesen Tagen ihre Mobilisierung. Diese Mobilisierung begleitet die Anfang Juni begonnene Neuverhandlung der Bedingungen, unter denen die diskontinuierlich beschäftigten KünstlerInnen und TechnikerInnen ­ während der Zeit, in der sie ohne Aufträge sind - Unterstützung aus der Arbeitslosenkasse erhalten können. Vor allem der Arbeitgeberverband MEDEF hatte auf diese Neuverhandlung gedrungen, damit die Arbeitslosenkasse UNEDIC Geld spart ­ und die Unternehmen ihrerseits die Sozialbeiträge reduzieren können. Am 26. Juni wird das entsprechende Abkommen zwischen dem MEDEF und drei Minderheits-Gewerkschaften (CFDT, CFTC, CGC) unterzeichnet. Daraufhin beginnt der "Konflikt der intermittents", der den ganzen Sommer über die Schlagzeilen füllt. Die Keime dieses Konflikts werden bereits sichtbar, wenn man die Fotos des 19. Juni Revue passieren lässt.

Bernhard Schmid

Man kann die nachfolgende Galerie durchblättern durch anklicken der einzelnen Bilder, das dann erscheinende Großformat ist mit Erläuterungen versehen - viel Spaß!















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