aus: ak 435 vom 17.2.2000
ak - analyse & kritik
Zeitung für linke Debatte und Praxis
Wenn alle sich freuen - obwohl es von der Logik her mindestens einen Verlierer geben muss - dann ist in der Regel etwas faul. Nicht alle, aber doch fast alle wichtigen Akteure (mit Ausnahme des Gewerkschaftsbundes CGT) freuten sich am Abend des 13. Januar, nachdem das französische Verfassungsgericht sein Urteil zum "Aubry-Gesetz" bekannt gegeben hatte. Dieser Gesetzestext, benannt nach der amtierenden Arbeitsministerin, der Mitte Dezember 1999 vom Parlament angenommen worden war, organisiert den Übergang zur 35-Stunden-Woche als gesetzlicher Regelarbeitszeit.
Mit dem Richterspruch trat die verkürzte Wochenarbeitszeit nunmehr am 1. Februar in Kraft, zumindest in größeren und mittleren Unternehmen (ab 20 Lohnabhängigen). Die Beschäftigten der kleineren Betriebe müssen noch bis zum Jahresanfang 2002 warten. Doch die Auflagen der Verfassungsrichter könnten der Reform neue Steine in den Weg legen.
Die Einführung der 35-Stunden-Woche gehört zu den Kernstücken des Reform- und Modernisierungsprogramms für die kapitalistische Ökonomie, mit dem die Jospin-Regierung zur Jahresmitte 1997 angetreten ist. Diese ursprünglich "rein soziale" Reform war allerdings mittlerweile selbst vom modernisierungswilligen Flügel des Kapitals für seine Zwecke übernommen worden: Die (mäßige) Verkürzung der Arbeitszeit sollte die einheitliche Arbeitswoche zu Gunsten "flexiblerer" Organisationsformen aufbrechen und längere Maschinenlaufzeiten bzw. Öffnungszeiten ermöglichen. Die Lebensrhythmen der Beschäftigten würden auf diese Weise zunehmend an die Bedürfnisse von Produktion und Dienstleistung angepasst werden. Unter dem Strich sollte so die Arbeitszeit-Reform für das Kapital zumindest kostenneutral sein und seinen Anteil am gesellschaftlichen Vermögen mindestens stabilisieren.
Als am 10. Oktober 1997 der neue sozialistische Premierminister Lionel Jospin Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zum "Sozialgipfel" an seinem Amtssitz bestellte, strich er in seiner Rede heraus, dass die Beschäftigten für die - damals noch in Planung befindliche - 35-Stunden-Reform "Gegenleistungen" zu bringen hätten, und zwar namentlich in Form einer "Modernisierung der Organisation der Arbeitszeiten". Das hinderte den konservativen Flügel der Kapitalverbände nicht daran, in der "Aubry-Reform" ein rotes Tuch zu erblicken - in seinen Augen hatte die Politik den Wirtschaftsführern überhaupt nicht in "ihre Angelegenheiten" hineinzureden. Der zentrale Unternehmerverband MEDEF, der zwischen einer pragmatischen Haltung und einer Frontal-Opposition schwankt, brachte am 4. Oktober 1999 immerhin 25.000 aufgebrachte Unternehmer und Mittelständler zu einer Protestversammlung in den Pariser Messehallen zusammen.
Das "erste Aubry-Gesetz" - das im Juni 1998 vom Parlament verabschiedet wurde - beschränkt sich darauf, jenen Betrieben staatliche Subventionen als "Anreiz" zuzusagen, in denen entsprechende Tarifverträge zur 35-Stunden-Woche abgeschlossen würden (mit mindestens sechs Prozent geschaffenen oder vor Stellenabbau "geretteten" Arbeitsplätzen). Erst das "zweite Aubry-Gesetz" vom Dezember 1999 legt nunmehr wirklich verbindliche Richtlinien fest, die es den Unternehmen (ab 20 Mitarbeitern) schwer machen, nach dem 1. Februar einfach bei der bisher geltenden 39-Stunden-Woche zu bleiben. Zugleich verspricht es erhebliche Nachlässe an Sozialabgaben für die unteren und mittleren Lohngruppen; sie stehen jenen Betrieben zu, die 35-Stunden-Abkommen mit den Gewerkschaften abgeschlossen haben.
Um den Verhandlungs- und damit Konsensweg zwischen den "Sozialpartnern" zu öffnen, sieht das "zweite Aubry-Gesetz" eine Übergangsfrist von knapp einem Jahr (vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 2000) vor. Während dieser sollte ursprünglich - nach dem Willen des Gesetzgebers - der Überstundenzuschlag, der von der 36. bis zur 39. Wochenstunde nunmehr zu zahlen ist, von gewöhnlich 25 auf nur 10 Prozent abgesenkt werden. Damit sollte der finanzielle Druck auf jene Betriebe, die noch keine Abkommen abgeschlossen haben, für das laufende Jahr gemindert werden. Diese Bestimmung aber hat das Verfassungsgericht nunmehr annulliert. Auf diese Weise entfällt aber - nach Ansicht der meisten Beobachter - ein Anreiz, der die Arbeitgeber zur Eile bei der Einführung der Reform hätte antreiben sollen.
Eine zweite Zensur durch die Verfassungsrichter stellt ebenfalls einen politischen Sieg für jenen Teil der Kapitalverbände dar, die in den letzten Monaten gegen die Aubry-Reform zu Felde gezogen waren. Das "zweite Gesetz" gewährte jenen Branchen, deren Abkommen ungünstigere Bestimmungen (aus Sicht der Beschäftigten) enthalten als der Gesetzestext selbst, ein Jahr Zeit zur Neuverhandlung ihrer Abkommen. Dagegen beschlossen die Verfassungsrichter: Im Namen der Vertragsfreiheit bleiben alle Abkommen gültig, auch wenn sie in mancher Hinsicht schlechter als das Gesetz ausfallen. Bisher war es ein Grundprinzip des französischen Arbeitsrechts gewesen, dass Abkommen zwischen den "Sozialpartnern" nicht in (für die Lohabhängigen) negativer Weise vom Inhalt des staatlichen Arbeitgesetzbuches abweichen dürfe, welches das "Minimum" darstelle.
Diese Weichenstellungen der Verfassungsrichter haben den Arbeitgeberverband MEDEF in seiner Haltung bestärkt. Seit Monaten zieht er gegen die "staatliche Einmischung" mit dem Argument zu Felde, dass einzig im Konsens zwischen der Kapitalseite und (einigen der parallel zueinander existierenden) Gewerkschaften die Arbeits- und Sozialbeziehungen geregelt werden dürften. "Politische Einmischung", etwa durch Parlament und Gesetzgeber, sei unzulässig. Seit zwei Monaten mobilisiert der MEDEF nunmehr für eine Verfassungsänderung, die eine Art "Tarifautonomie" nach deutschem Vorbild einführen soll.
Abgebaut werden soll damit das bisher in Frankreich starke Bedürfnis nach staatlicher und politischer Legitimation sozio-ökonomischer Weichenstellungen - welche in wiederholten Abständen Millionen Franzosen gegen entsprechende Entscheidungen auf die Straße bringen. Die Verbände, und namentlich die Gewerkschaften, sollen so selbst in ihrem jeweiligen "Lager" die ausgehandelten Kompromisse durchsetzen. Hiervon verspricht man sich größere innenpolitische Stabilität, nach dem Vorbild des (west)deutschen "Modells" der letzten Jahrzehnte. Der bürgerliche Präsident Jacques Chirac hat in seiner Neujahrsansprache eine entsprechende Verfassungsänderung ausdrücklich befürwortet und der MEDEF hat auf seiner Generalversammlung am 18. Januar eine Ausweitung seiner Offensive beschlossen.
Ursprünglich sollten die versammelten Kapitalvertreter an diesem Tage entscheiden, ob sie ihre Drohung wahr machen und - aus Protest gegen die 35-Stunden-Reform - aus den paritätisch verwalteten Sozialversicherungs-Kassen (der Kranken-, Renten- und Arbeitslosen-Versicherung) aussteigen. Doch die zwei Minimal-Forderungen, welche der MEDEF zuvor gestellt hatte, waren zu diesem Zeitpunkt bereits erfüllt: Zum ersten dürften die Sozialversicherungs-Kassen nicht zur Finanzierung der 35-Stunden-Reform herangezogen werden; längerfristig könnten sich die nunmehr ausbleibenden Sozialbeiträge zum Problem auswachsen. Zum zweiten hatte der MEDEF die "Respektierung" der (im Rahmen der Aubry-Reform) abgeschlossenen Abkommen ohne Ausnahme gefordert - die hat ihm nun das Verfassungsgericht garantiert.
Nach diesen Erfolgen hat der Kapitalverband seine Drohungen ausgeweitet. Er will sich nun zum 31. Dezember 2000 aus den genannten Sozialkassen zurückziehen, falls die Gewerkschaften sich nicht bis dahin auf die von ihm gewünschte "Neugestaltung der sozialen Beziehungen" einlassen. Dazu gehört auch die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie der "Sozialpartner", welche die Sozialkassen paritätisch verwalten. Aus Sicht des MEDEF müssen die Gelder des Sozialversicherungs-Systems künftig auf möglichst sparsame, rentable und "die Beschäftigung fördernde Weise" eingesetzt werden. Man kann sich ausmalen, wie demnach die Leistungen an die Erwerbslosen aussehen würden.
Die Gewerkschaften, die am 3. Februar zum ersten Mal mit dem MEDEF zusammentrafen, um über diese Punkte zu debattieren, hatten vorab erklärt, sie würden sich auf keine "Erpressung" einlassen. Zugleich zeigen sie sich, gemäß der zuerst durch die sozialliberale Führung der CFDT vorgegebenen Linie, zu Gesprächen bereit, auch der "post-kommunistische" Gewerkschaftsbund CGT.
Die Durchführung der "Aubry-Reform" droht in der näheren Zukunft ins Stocken zu geraten. Zum einen, weil die Entscheidung des Verfassungsgerichts den MEDEF in seinen Positionen gestärkt hat. Zum anderen, weil der am ehesten modernisierungswillige Teil des französischen Kapitals bereits "seine" Abkommen mit den Gewerkschaften unter Dach und Fach hat - 20 Prozent der Betriebe haben bisher ein solches abgeschlossen, 80 Prozent noch nicht.
Tatsächlich gerät die Reform derzeit von zwei Seiten her unter Druck. In Regierungskreisen und bei Beobachtern war zunächst wohl erwartet worden, die Reform werde zu einem Deal zwischen modernisierungswilligen Kapitalkreisen und (zumindest einem Teil der) Gewerkschaften führen und letztere in dezentralisierte Verhandlungen einbinden, so dass sie jedenfalls von der Straße wegbleiben würden. Danach sah es anfänglich auch aus, die Zahl sozialer Konflikte blieb gering und die Gewerkschaften ließen sich in ihrer Mehrheit auf Verhandlungen und häufig auf Kompromisse ein. Das blieb so, bis die konkreten Auswirkungen der Aubry-Reform die einzelnen Betriebe erreichten und die Beschäftigten oftmals in der Praxis merkten, dass ihre Fortschritts-Erwartungen nicht erfüllt wurden (was sich freilich nicht pauschal auf alle Bereiche übertragen lässt). Oftmals entzündeten sich die sozialen Widerstände aber auch bereits in der Verhandlungsphase, da die Vorschläge der Direktion zumindest einem Teil der Belegschaft als Zumutungen erschienen.
Die Arbeitgeber einer ganzen Branche, die LKW-Unternehmer, setzten am 10. und 11. Januar durch, dass das Aubry-Gesetz auf sie nur in abgemilderter Form angewandt wird. Demnach sollen die Betriebe der LKW-Branche künftig in den Genuss der gesetzlich vorgesehenen Finanzhilfen kommen, auch wenn sie ihre Beschäftigten bis zu 48 Wochenstunden arbeiten lassen. Möglich wird das durch die Festlegung von "Äquivalenzen" in einem Abkommen (48 Stunden "entsprechen" demnach 35 im Sinne des Gesetzes), die nach dem im Dezember verabschiedeten Gesetzestext weiterhin grundsätzlich zulässig sind.
Das Dekret von Transportminister Jean-Claude Gayssot (PCF), das dieser nach zwei Tagen Blockade durch die LKW-Unternehmer unterschrieb, erlaubt nunmehr Höchst-Arbeitszeiten von 220 Stunden im Monat (und 56 pro Woche) für internationale Fernfahrer und von 208 Stunden im Monat (und 48 pro Woche) für die übrigen LKW-Fahrer. Im Gegenzug soll den Beschäftigten nach der 36. statt bisher nach der 39. Wochenstunde ein 25-prozentiger Überstundenzuschlag bezahlt werden. Nach der 43. (statt bisher der 48.) Wochenstunde soll der Zuschlag 50 Prozent betragen. Dennoch fürchten die ohnehin schlecht entlohnten LKW-Fahrer nunmehr den Verlust eines spürbaren Teils ihres Lohnes - bisher arbeiteten die internationalen Fernfahrer oftmals 250 bis 300 Stunden im Monat, die "normalen" bis zu 230 Stunden. Die Gewerkschaften fordern daher, zunächst einmal die extrem geringen Löhne in der LKW-Branche anzuheben, damit die Beschäftigten überhaupt an Arbeitszeit-Verkürzung denken können.
Empört über die Vereinbarung zwischen dem Transportminister und den Arbeitgeberverbänden von Mitte Januar, riefen die Gewerkschaften der LKW-Arbeiter ihrerseits die Beschäftigten zum Streik auf, die in Frankreich und an dessen Außengrenzen zwischen 55 und 60 Straßensperren errichteten. Die Mobilisierung war damit zwar etwas stärker als jene der Fuhrunternehmer drei Wochen zuvor. Sie blieb aber zugleich deutlich hinter jener während der großen LKW-Fahrerstreiks vom Jahresende 1996 und vom Jahresende 1997 zurück.
Mitverantwortlich für die relative Schwäche der Mobilisierung ist zweifellos eine große Zwiespältigkeit: Soll man Arbeitszeitverkürzung fordern, wie die Gewerkschafter meinen? Oder soll man - wie andere Streikteilnehmer finden - die Forderungen auf die Erhöhung der geringen Löhne konzentrieren? Nach Abbruch des Streiks argumentierten Gewerkschaftsvertreter, angesichts der realen Kräfteverhältnisse und der Zwiespältigkeit der Beschäftigten selbst in dieser Frage sei nicht mehr möglich gewesen als die Eröffnung neuer Lohnverhandlungen herbeizuzwingen. Deren Ergebnisse in den kommenden Wochen gelte es nunmehr abzuwarten, um von Erfolg oder Misserfolg sprechen zu können.
Aber nicht nur die LKW-Fahrer mobilisierten in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit der Einführung der Aubry-Reform. Vielmehr ist seit Oktober 1999 ein deutliches Anwachsen der sozialen "conflictualité" im Zusammenhang mit der 35-Stunden-Woche zu beobachten. Bei den Automobil-Fabrikanten Renault und Peugeot kam es schon im Sommer 1999 zu Arbeitsniederlegungen und die Renault-Sektion der Gewerkschaft CFDT wurde von heftigen inneren Konflikten zerrissen. Sieben von zehn Betriebs-Sektionen der CFDT lehnten das Abkommen ab, das durch die zentrale Leitung der CFDT-Sektion bei Renault unterzeichnet worden war. Dieses sieht etwa die Einführung der Samstags-Arbeit an 23 Samstagen im Jahr pro Beschäftigtem vor - jedem zweiten Wochenende (nach Abzug der Urlaubswochen). Der öffentliche Sender "Radio France Info" konstatierte am Beispiel der nordfranzösischen Region Picardie, deren private Industriebetriebe (vor allem die Zulieferer der Automobil-Industrie) würden derzeit - im Rahmen der Auseinandersetzung um die Modalitäten der 35-Stunden-Reform - von den heftigsten sozialen Konflikten seit anderthalb bis zwei Jahrzehnten erschüttert.
Seit dem Herbst 1999 jedoch spielt sich die Mehrzahl der Konflikte in den öffentlichen Unternehmen ab, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad deutlich höher ist und wo es erheblich leichter ist, einen Streik zu organisieren. Im November 1999 etwa kam es zu Arbeitsniederlegungen bei allen Sendern des öffentlichen Fernsehens, im öffentlichen Radio oder bei der Pariser Métro-Reinigung. In der Regel konnten zusätzliche Einstellungen durchgesetzt werden; so sind zirka 1.000 Neueinstellungen in den öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehstationen im Rahmen der 35-Stunden-Reform erreicht worden. Im Dezember folgten erste Ausstände bei France Télécom und bei der Post, wo die Widerstände sich in den Januarwochen verstärkt haben.
In diesen öffentlichen Betrieben beruft der französische Staat - als (Haupt-)Arbeitgeber - sich darauf, das Konkurrenzrecht der EU verbiete ihm, die Einführung der 35-Stunden-Woche mit zusätzlichen Mitteln zu begleiten - da ihm sonst eine Sanktion durch die Brüsseler EU-Kommission wegen unzulässiger Subventionen an öffentliche Unternehmen drohe. Bei France Télécom (neuerdings ganz modern "Tele.com") bedeutet dies, dass 1.000 zusätzliche Stellen geschaffen werden sollen - während die Verkürzung der Arbeitszeit der Beschäftigten auf 35 Stunden eigentlich 7.500 neu zu schaffenden Arbeitsplätzen entsprechen würde. Die linken Mehrheits-Gewerkschaften CGT und SUD, aber auch die sozialdemokratische CFDT bekämpfen daher das in Aussicht stehende Abkommen, das durch echte Minderheits-Gewerkschaften unterstützt wird.
Bei der Post sollen durch die Verkürzung der Arbeitszeit nicht einmal zusätzliche Stellen entstehen. Das Rahmen-Abkommen von 1999, das nunmehr auf dezentraler Ebene in konkrete Abkommen umgesetzt werden soll, sieht insgesamt 20.000 Neueinstellungen bei 20.000 (vor allem altersbedingten) Abgängen in den nächsten drei Jahren vor. Von den neu Eingestellten sollen nur 6.000 den Beamtenstatus erhalten, gegenüber 14.000 vertraglich und mehr oder minder prekär Beschäftigten.
Allein im Januar gab es bei der Post insgesamt 195 (meist lokal oder regional begrenzte) Streikbewegungen. Die auf dezentraler Ebene abzuschließenden Abkommen, die eigentlich bis zum 1. Februar unter Dach und Fach sein sollten, kommen nicht voran, und nur 10 Prozent der Postler sind heute real zur 35-Stunden-Woche übergangen. Die Post-Direktion versucht unterdessen, eine ihr genehme Verkürzung der Arbeitszeit zu erzielen, indem sie Aufsichtsbeamte mit Stoppuhr die Arbeitszeit eines jeden Briefträgers neu vermessen lässt. Im ostfranzösischen Besançon, einem der Zentren der sozialen Widerstände bei der Post, sind die Beschäftigten deswegen Ende Januar vors örtliche Polizeikommissariat gezogen - um Anzeige wegen "Diebstahls unserer Zeit" zu erstatten.
Von Besançon ausgehend, breitet sich unterdessen eine neue Aktionsform in Windeseile unter den Postlern aus: die morgendliche "Selbst-Reduzierung der Arbeitszeit" um 20 Minuten. Um die Kunden möglichst wenig zu beeinträchtigen, lassen die Postler nur die Reklame liegen (im Jahr 1999 waren 50 Prozent des Brief-Aufkommens der französischen Post durch kommerzielle Werbung verschlungen), um die Privat-Post an ihre Empfänger zu bringen. Zwar verlieren die Beschäftigten dadurch die Bezahlung ihres gesamten Arbeitstags, da nach geltendem Gesetz ein Arbeitstag als "unteilbare Einheit" gilt. Doch die Sympathie des Publikums ist ihnen zugleich gewiss. Von Besançon aus gewinnt die Aktionsform derzeit immer neue Postämter.
Gestreikt wurde schließlich am 1. Februar auch in den öffentlichen Nahverkehrs-Betrieben, etwa bei der Pariser Métro, freilich mit durchwachsenem Erfolg; der Verkehr kam auf manchen Métro-Linien völlig zum Erliegen, auf anderen blieb er fast unbeeinträchtigt. Auch hier geht es um die Modalitäten der Einführung der 35-Stunden-Woche. Schließlich mobilisierten am 3. Februar die Beschäftigten der Krankenhäuser rund 10.000 DemonstrantInnen auf den Pariser Straßen; weitere Demonstrationen sind angekündigt. Hier geht es zwar auch um die 35-Stunden-Reform, aber nicht ausschließlich. Bereits seit November sind mehrere große Krankenhäuser im Ausstand, um gegen die Sparpolitik und den "schreienden" Mangel an Mitteln zu protestieren. Der wiederum ist auf die rigorose Begrenzung der Gesundheits-Ausgaben zurückzuführen. Die staatliche Oberaufsicht über die Ausgaben im Gesundheitswesen wurde durch die konservativ-liberale Regierung Juppé Ende 1995 eingeführt - und durch die Links-Regierung unter Jospin seit 1997 bruchlos fortgesetzt.
Bernhard Schmid, Paris
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