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Updated: 18.12.2012 15:51
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Heißer Frühling in Prag

»Monat des Ungehorsams« – Radka Sokolová* zu den Streiks in der Tschechischen Republik

40 Jahre nach der Niederschlagung des Versuchs, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben, droht nun der Kapitalismus sein unmenschliches in Tschechien zu zeigen und die Sozialversicherungen, allen voran das Gesundheitssystem – wie in vielen anderen, früher staatsozialistischen Ländern Osteuropas auch – zu privatisieren. Allerdings wehrt sich in der Tschechischen Republik die Bevölkerung und demonstriert, aufgerufen auch von den Gewerkschaften, gegen die »Reform«-Vorhaben der Regierung – zunächst mit Erfolg, wie uns Radka Sokolová, Gewerkschaftssekretärin aus Prag, berichtet.

Die Gewerkschaft für das Gesundheitswesen und die Sozialfürsorge (OSZSP, 38 000 Mitglieder) wurde zum Initiator einer beeindruckenden Serie von Massenprotesten, die Ende Mai und Anfang Juni in Tschechien stattfanden. Der Anlass dafür waren nicht nur die durch die jetzige Regierung vorbereiteten Reformen selbst, sondern auch die Unwilligkeit der Regierung, einen sozialen Dialog zu führen und über die vorgelegten Reformvorhaben zu verhandeln. Was geschah konkret?

Die Böhmisch-Mährische Konföderation der Gewerkschaftsverbände (CMKOS, der mit 530 000 Mitgliedern bei rund fünf Millionen Erwerbstätigen größte der tschechischen Gewerkschaftsverbände), hatte »einen Monat des bürgerlichen Ungehorsams« verkündet, innerhalb dessen auch vier Demonstrationen organisiert wurden. Die erste fand am 21. Mai 2008 unter Schirmherrschaft der OSZSP statt. Unsere Botschaft an die Regierung war: Wir lehnen die Umwandlung von Universitätskrankenhäusern und von anderen Gesundheitsdienstleistern in Handelsgesellschaften (vor allem Aktiengesellschaften und GmbHs) ebenso ab wie die Privatisierung von Krankenversicherungen, die ebenfalls die Form von Aktiengesellschaften annehmen sollen. Hintergrund waren berechtigte Befürchtungen, dass die geplanten Reformen die Zugänglichkeit und die Qualität der gesundheitlichen Versorgung für die Bevölkerung gefährden würden. Themen der weiteren Demonstrationen waren: die Ablehnung der vorgesehenen Rentenreform, die unter dem Motto »Gegen Renten in Memoriam und gegen Altersarmut« stand; die generelle Ablehnung der Reformvorhaben der aktuellen tschechischen Regierung (»Gegen ungerechte Reformen«); und die letzte Demonstration wandte sich unter dem Slogan »Gegen ein Schulwesen, für das es kein Geld gibt« gegen die Unterfinanzierung des schulischen Bildungswesens.

Schon im März hatten die Vorsitzenden der jeweiligen Mitgliedsgewerkschaften des Dachverbandes CMKOS während einer Tagung ihre Unzufriedenheit mit dem Regierungsvorhaben im Bereich des Gesundheitswesens zum Ausdruck gebracht und mit Streik gedroht. Als nun die Regierung in ihrer Arroganz auf die Demonstrationen und öffentlichen Aufrufe nicht reagierte, nutzten die Gewerkschaften die im März verkündete Streikbereitschaft, und so kam es am 24. Juni 2008 zum gemeinsamen Streik der OSZSP und der Ärztegewerkschaft, des »Ärztegewerkschaftsclubs« (LOK). Unterstützt wurde dieser Protest durch einen Warnstreik des Dachverbandes CMKOS. Dem Streik selbst schlossen sich rund eine Million BürgerInnen an, während 62 Prozent der Bevölkerung (von den ca. 10,5 Millionen EinwohnerInnen Tschechiens) ihn laut einer Umfrage unterstützten. In vielen Unternehmen wurden Meetings mit den Angestellten veranstaltet, und da, wo es nicht möglich war zu streiken, trugen die sympathisierenden Angestellten Streik-Buttons. Forderungen unserer Gewerkschaft fanden auch bei dem Patientenverband der Tschechischen Republik (CR), dem Nationalrat der Behinderten und in der fachlich orientierten Öffentlichkeit Unterstützung. Der Streik wurde zudem auch vom Ausland aus unterstützt, z.B. seitens der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc , des DGB-Bezirks Sachsen, der slowakischen Gewerkschaft des Gesundheitswesens und der sozialen Dienstleistungen (SOZZSS), der European Federation of Salaried Doctors (Europäische Föderation angestellter Ärzte; FEMS) und des Europäischen Gewerkschaftsverbandes für den öffentlichen Dienst (EPSU).

Warum wurde soviel Aufhebens um die Reformvorhaben der Regierung gemacht? Im Folgenden einige Beispiele aus dem Bereich des Gesundheitswesens:

Die Regierung hatte sich vorgenommen, Universitätskrankenhäuser und andere Ge­sundheitseinrichtungen in Handelsgesellschaften (vor allem in Aktiengesellschaften) zu transformieren. Die bisherigen Erfahrungen aus der Privatisierung von Krankenhäusern haben aber gezeigt, dass dabei Abteilungen geschlossen und die Löhne der ArbeitnehmerInnen auch um einige Tausend Kronen gekürzt wurden, was zu berechtigten Befürchtungen nicht nur bezüglich der Qualität und der Verfügbarkeit der gesundheitlichen Versorgung insgesamt geführt hat, sondern auch hinsichtlich der Zugänglichkeit von Weiterbildungsinstitutionen, die für die Qualifizierung des Pflegepersonals und vor allem der Ärzte zuständig sind.

Die Regierung macht sich darüber hinaus für die Privatisierung von Krankenkassen und deren Umwandlung in Aktiengesellschaften bereit. Diese Krankenkassen werden als Aktiengesellschaften allerdings keineswegs zu Rechtsnachfolgern der jetzigen Krankenkassen. Insofern sind sie auch nicht verpflichtet, die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse bzw. Angestellten zu übernehmen, sondern sämtliche vertraglichen Beziehungen können von ihnen neu abgeschlossen werden. Es ist für uns auch nicht akzeptabel, dass rein privatwirtschaftliche Gesellschaften öffentliche Finanzmittel bewirtschaften sollen, die gesetzlich verpflichtend für die öffentliche Krankenversicherung gezahlt wurden.

Definitionsgemäß sind Handelsgesellschaften (dies betrifft sowohl Aktiengesellschaften als auch GmbHs) zum Zwecke der unternehmerischen Tätigkeit gegründete juristische Personen. Unter unternehmerischer Tätigkeit wird eine dauerhafte und selbstständige, vom Unternehmer im eigenen Namen und auf eigene Verantwortung betriebene, gewinnorientierte Tätigkeit verstanden. Aus dieser Definition geht hervor, dass die gesetzliche Krankenversicherung, deren Finanzen auf Pflichtbeiträgen beruhen, als Mittel zur Gewinngenerierung von privaten Krankenkasseneigentümern dienen wird.

Die Versicherten in der Tschechischen Republik sind von »Plänen zur gesteuerten Versorgung« bedroht. Es handelt sich dabei um ein System, das dem Patienten weder eine freie Wahl von Ärzten noch Krankenhäusern ermöglicht – denn dies wird voll in der Kompetenz der Krankenkassen liegen. Wir können uns ebenfalls darauf »freuen«, dass wir für eine moderne Behandlung künftig Zigtausende von Kronen zusätzlich bezahlen müssen. In der Tschechischen Republik gibt es nämlich keine festgelegten Standards der gesundheitlichen Versorgung, deswegen ist der Versorgungsumfang, der aus der gesetzlichen Pflichtversicherung zu erstatten ist, schwer abzuschätzen. Die tschechische Regierung bereitet ein weltweit beispielloses Experiment vor, und die bevorstehenden Privatisierungen würden einen irreversib­len Schritt darstellen.

Es stellt sich nun die Frage, ob unsere Proteste als erfolgreich zu werten sind. Dies ist mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Die Vorbereitung von neuen Gesetzen auf Basis von Vorlagen des Ministeriums für Gesundheitswesen, die die Privatisierung von Universitätskrankenhäusern und Krankenkassen und deren Umwandlung in Aktiengesellschaften zum Ziel hatten, wurde vorläufig eingestellt. Somit ist der Weg zu Verhandlungen der Sozialpartner über die Zukunft dieser Einrichtungen frei.

Übersetzung aus dem Tschechischen: Jitka Knourková

* Radka Sokolová arbeitet in Prag bei der »Gewerkschaft für das Gesundheitswesen und Sozialfürsorge der Tschechischen Republik« als Gewerkschaftssekretärin.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 8/08


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