? Zé Maria, als Du im Mai beim Euro-Gegengipfel in Köln und am Workshop des Chemiekreises teilnahmst, hast Du die finanzielle Krise in Brasilien geschildert. Wie siehst Du die Lage drei Monate später, im September '99?
! Die Krise in Brasilien hat sich nun vor allem zu einer politischen Krise entwickelt. Die ökonomischen Probleme haben die Regierung veranlaßt, Maßnahmen zu ergreifen, die zu Differenzen bei der sie stützenden politischen Basis, und – noch entscheidender – zu einem Verschleiß gegenüber der Bevölkerung geführt haben. Mehr als 50% bewerten die Regierung für schlecht bis sehr schlecht und nur 14% unterstützen sie. Dies hat politische Krisen zu Folge, wie die, die zur Entlassung des Entwicklungsministers geführt hat. (Differenzen zwischen Ministerien wurden öffentlich ausgetragen...) All dies hat zur Wiederbelebung der Massenbewegungen geführt: der LKW-Fahrer Streik vor einigen Wochen, der Marsch der Einhunderttausend in Brasilia, die Aktionen der katholischen Kirche wie der Schrei der Ausgeschlossenen (Grito dos excluidos) am 7. September, sind Ausdruck dieser Belebung. Diese Faktoren beginnen auf die Regierung zurückzuwirken, unterminieren ihre Regierungsfähigkeit und führen zur weiteren ökonomischen Instabilität, die wiederum die politische Krise nährt.
? Am 20. August hat der Beirat der CUT (gewerkschaftlicher Dachverband) einen Generalstreik und das Abtreten des Präsidenten gefordert. Wie bewertest Du die gefaßten Beschlüsse?
! Die Entscheidungen spiegeln zum einen die Veränderung der politischen Landschaft in Brasilien wieder. Aufgrund der Verschärfung der Krise, wächst der Druck an der Basis zu kämpfen. Und dies ist der weitere Grund für die Beschlüsse. Sie beruhen auf dem starken Druck von unten (einschließlich der Basis der Mehrheitsströmung (Articulação)) und konnten nicht auf die vom Vorstand verfolgte Strategie, die Regierung nur zu kritisieren und zu einem Kurswechsel zu bewegen, begrenzt werden. Unabhängig davon sind die Beschlüsse, sowohl der Generalstreik als auch das „Weg mit dem Präsidenten Fernando Henrique Cardoso" („Fora FHC") sehr wichtig, weil sie, falls sie umgesetzt werden, den Widerstand der brasilianischen Arbeiter in einen Kampf gegen den Neoliberalismus im allgemeinen weiterentwickeln könnten. Daher ist unsere zentrale Aufgabe jetzt, die Beschlüsse mit Leben zu füllen.
? Am 26. August fand der Marsch der Einhunderttausend statt. Es waren nicht ganz so viele Demonstranten, eher 80.000. Lula (Ehrenvorsitzender der PT) sprach vom Vollmond auf der beschwerlichen Busreise, die die meisten die Nacht vorher auf sich genommen hatten, und davon, wie gut es sei, daß alles friedlich verlaufen sei. So richtige politische Alternativen habe ich vermißt. Wie bewertest Du den Marsch und die Reden?
! Der Marsch war außerordentlich wichtig. Zum ersten, weil er eine Veränderung bei den Arbeitern ausdrückte, nämlich, daß sie bereit sind, etwas gegen die Regierung zu unternehmen. Es war eine große Demonstration, radikal – die am meisten gerufene Forderung war „Weg mit FHC" (dem Präsidenten) und belebend. Zum zweiten festigt sie das Vertrauen in die fortschrittlichen Kräfte im Land im Bezug auf die Fortsetzung des Kampfes, und drittens war sie wichtig, weil sie die Regierung im Visier hat und somit auch die neoliberalen Inhalte der Regierungspolitik in Frage stellt. Die Reden von Vicentinho (Vorsitzender der CUT), der nicht einmal den gerade beschlossenen Generalstreik erwähnte, als auch von Lula spiegeln die Strategie der PT-Mehrheit wieder, die Regierung nicht abzusetzen, sondern sie sich verausgaben zu lassen, um sich für den Wahlkampf im Jahre 2002 vorzubereiten. Diese hartnäckig verfolgte Strategie drückt sich im Festhalten an den formalen Regularien, im Diskurs ihrer führenden Leute und im Fehlen einer konsistenten Orientierung für die Weiterführung der Kämpfe aus.
? Was sind die nächsten Kämpfe?
! Die nächsten geplanten Aktivitäten sind zum einen der Generalstreiks Ende Oktober, zum anderen die Aktionen im Zusammenhang mit den Lohnrunden bei den Metallern (beginnend am 23. September im Staat Rio de Janeiro, danach in Minas Gerais, São Paulo etc.), den Erdölarbeitern, den Chemiebeschäftigten, sowie den Bankangestellten. Bei den Tarifverhandlungen dieser Branchen wird es zweifellos zu wichtigen Mobilisationen und Streiks kommen, die sich aufgrund der Gesamtlage auch gegen die Regierung richten werden.
? Nicht nur in Brasilien gibt es zunehmend Kritik an neoliberaler Regierungspolitik und Widerstand in der Bevölkerung. Wie siehst Du die Lage in anderen Ländern Südamerikas?
! Es ist wichtig festzustellen, daß sich die politische Lage Brasiliens in eine allgemeine politische Instabilität und ein Anwachsen von Widerstand in gesamt Südamerika einfügt. ... In Kolumbien gibt es eine Sackgasse zwischen der Regierung und den bewaffneten Aufständischen, die verbunden mit der tiefen ökonomischen Krise das Land in eine der tiefsten Krise seiner Geschichte gestürzt hat. Ein wichtiger Faktor ist der Umstand, daß es ein Aufflammen der städtischen Arbeiterkämpfe gibt, wie wir sie jetzt beim Generalstreik am 31. August gesehen haben. Diese Krise und die politische Instabilität dehnen sich, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau auch auf Argentinien, Brasilien, Bolivien etc. aus, ein klarer Ausdruck für die Verschärfung der sozialen Auseinandersetzungen in der gesamten Region. Das ist letztendlich auch der wahre Grund für die nordamerikanischen Offensive, die versucht eine militärische Intervention in der Region mit den Verhältnissen in Kolumbien zu rechtfertigen. Die Vereinigten Staaten haben Sorge, die politische Kontrolle in der Region zu verlieren und mit ihr die Möglichkeit, die Kontinuität des neoliberalen Projektes in Südamerika zu gewährleisten. Auch aus diesem Grund ist der Kampf gegen eine nordamerikanische Intervention in Kolumbien unser aller Kampf.
Das Interview führte Beatrix Sassermann (Chemiekreis) in Belo Horizonte, Brasilien.