letzte Änderung am 2. Februar 2004

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China: Wirtschaftswunderland - für wen?

Die Geschichte der Rezeption der Entwicklungen in China - zumindest in Europa - scheint sich wenig zu verändern: Kenntniss wird durch Mythen ersetzt, Analyse durch Spekulation. War einst die Auseinandersetzung um die Ereignisse der Kulturrevolution im wesentlichen auf die unterschiedliche Rezeption politischer Slogans reduziert, so wird heute vor allem über Wirtschaftswachstum, Absatzmärkte und Regierungsbeziehungen spekuliert, und die politischen Auseinandersetzungen spielen sich zwischen Positionen ab wie " Kapitalismus unter kommunistischer Diktatur" oder "sozialistisches Land". Vom Leben der Menschen erfährt man wenig - Politstrategen mögen dies uninteressant finden, Profitjäger ohnehin.
Diese Zusammenstellung stellt einen Versuch dar, durch Auswertung (meist englischer, ansonsten mit überaus dankenswerter Hilfe eines nicht genannt werden wollenden Übersetzers ins deutsche übersetzter) Beiträge im Worldwide Web einen Beitrag zum konkreteren Verständnis der Lage in China zu leisten - der Lage der arbeitenden Klassen vor allem, 25 Jahre nach dem Beginn der "Öffnung" durch Deng Hsiao Ping 1978.

Soziale Veränderungen der letzten 25 Jahre

Angaben des staatlichen chinesischen Statistikbüros zufolge gab es im Jahre 1978 in der VR China 120 Millionen Menschen, die als Arbeiter registriert waren, im Jahr 2000 waren es 270 Millionen, zu denen noch (2000 noch 70 Millionen, in den letzten drei Jahren sind weitere ca 25 Millionen dazugekommen) die Bauern und Landarbeiter hinzukommen, die offiziell als "migrant labourers" geführt werden. Damit stellen "Arbeiter" insgesamt mit 350 Millionen Menschen die Hälfte aller in China arbeitenden.
Bereits über 100 Millionen Menschen arbeiten davon in privaten Unternehmen. Seit 1978 sind über 2 Millionen solcher Privatunternehmen entstanden, was sich auch in der Parteimitgliedschaft widerspiegelt: Waren 1993 noch 13,1 Prozent der KP Mitglieder Unternehmer und Manager, so ist dieser Anteil bis 2000 auf 19,8 Prozent gestiegen. (Alle Angaben nach : Liu Shi "Current Condition of China's Working Class" ein Beitrag vom 1.November 2003 auf der homepage der "China Study Group").

"Smash the iron rice bowl"

Die im Westen allseits bejubelten Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft zeigen zunächst vor allem eines: Dass das Bruttoszialprodukt als Masstab wirtschaftlicher Entwicklung ein zutiefst kapitalistisches Kriterium ist. Denn während diese Raten explodierten, hat sich die Lage der arbeitenden Menschen in China keineswegs verbessert.
Mit einer Pressemeldung der Nachrichtenagentur Xinhua vom 15.Dezember 2003 wurde eher beiläufig offiziell bekannt gemacht, dass im Zeitraum 1996 bis 2002 erstmals Staatsangestellte entlassen wurden - zwar nur rund 17.000. aber weitere 28.000 kündigten nach dieser Angabe selbst und rund 150.000 wurden wegen "Verfehlungen" entlassen.
Dass staatliche Industriebetriebe bankrott gingen oder privatisiert wurden, ist im Laufe der 90er Jahre bereits alltäglich geworden.
"Zerschlagt die eiserne Reisschüssel" ist der Slogan, mit dem Beschäftigte unter die Knute des Leistungszwangs gestellt werden sollen - oder eben das Heer der Arbeitslosen vergrössern müssen, das alleine im traditionellen Industriezentrum Shanghai rund eine Million Menschen umfasst. Eine Meldung bei Xinhua vom 9.Januar 2004 meldet als Erfolgsgeschichte, dass trotz beinahe 28 Millionen Arbeitsplätzen, die seit 1998 in staatlichen Betrieben abgebaut wurden, die Arbeitslosenrate nur bei 4,3 Prozent liege (was, die offiziellen Zahlen zusammengerechnet, weit über 10 Millionen erwerbslos gebliebene bedeutet) - was der im selben Jahre organisierten Einführung von "Wiederbeschäftigungsagenturen" zu verdanken sei. Diese sollen 2007 abgeschafft werden und durch "normale" Arbeitslosenversicherung ersetzt.

Dass im Zuge der Anpassung an marktwirtschaftliche Erfodernisse auch die sozialen Sicherungssysteme kapitalisiert werden, kennt mensch auch aus den westlichen Wohlfahrtsstaaten: Auf dem Land existiert faktisch keine Krankenversicherung mehr, die Krankenhäuser sind nur noch zu 70 Prozent staatlich. (Siehe: "Turning Points in Chinese Health Care - Crisis or Opportunity?" Deborah Davis and Nancy E. Chapman in (und bei) bei "China Medicine"von 2001 der Yale Universität, als pdf Datei.
Dies sind die Hintergründe der verschiedenen Versuche - vor allem aus grösseren Staatsbetrieben der Industrie und von "Rentnern" - eigene, unabhängige Gewerkschaften zu organisieren, die nach wie vor entschieden unterdrückt werden.

Die innere Migration

Die Entwicklung neuer ökonomischer Zentren - bei deren Entstehung die Auslandsinvestitionen eine wichtige Rolle spielten - und die Kapitalisierung der diversen Branchen führt vor allem zu einer geschichtlich einmaligen Landflucht: Wanderarbeiter, die ihre Familien verlassen müssen und sich irgendwo verdingen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sind in der nachgeradezu absurd hohen Zahl der Betroffenen die massivste neue Erscheinung Chinas.

Wobei festzuhalten ist, dass in China - etwa um nach Beijing zu ziehen - eine Erlaubnis der Stadt von Nöten ist, was auch etwa für Shanghai gilt: Die allermeisten dieser Menschen sind also das, was eine inhumane Bürokratie auch hierzulande "Illegale" nennen würde. (Die Stadtregierung von Peking hat 2003 etwas über 5.000 "Greencards" ausgegeben, verglichen mit 30.000 Anträgen - meist von sogenannten "Weisskragen-Migranten", siehe "Beijing shuns white-collar migrant workers" von Jason Leow in der Zeitung "Strait Times" vom 16.Dezember 2003, im Netz bei der "China Study Group".
Dabei ist dieser Exodus keineswegs freiwillig, sondern, neben der Landkonzentration auch staatlichen Entwicklungsprojekten geschuldet: "But the great danger facing the population of the countryside is not a merger of peasant holdings, but state expropriation of peasant lands for commercial development. This is now a widespread phenomenon in China. In Jiangxi, for example, the local government recently forced peasants off some 8,000 acres, capable of supporting 20,000 people, to lease the land to a company supposedly engaged in ecologically enlightened agriculture. In practice, all the compensation the peasants received was to be excused from paying taxes—they got nothing from the deal, and when they protested, the government sent the police to quell them." ( Qin Hui "DIVIDING THE BIG FAMILY ASSETS" in (und bei) der "New Left Review" November-Dezember 2003 als pdf Datei.

Xing Bao schreibt in seinem Artikel "Unrewarded labours," im "Shanghai Star" vom 15.Januar 2004: "Statistics from the All-China Federation of Trade Unions reveal that there are 94 million migrant rural labourers in China whose employers owe them up to 100 billion yuan (US$12.1 billion) in unpaid wages." 94 Millionen ländliche Wanderarbeiter nach Zahlen der Staatsgewerkschaft ACFTU - die um 12 Milliarden US Dollar ausstehende Löhne kämpfen. Die grössten Aussenstände sind in der Bauwirtschaft registriert. Dies nicht zuletzt, weil dort das System der Leiharbeit vorherrscht. Von den 38 Millionen Bauarbeitern Chinas sind rund 30 Millionen ländliche Migranten.
Ihr Kampf um die ausstehenden Lohnzahlungen ist so heftig geworden, dass - da es keine gesetzlichen Regelungen gibt - die Regierung gezwungen war, Massnahmen gegen säumige Zahler zu ergreifen, und das Problem überwand in den letzten Monaten im gegensatz zu vielen anderen das Tabu in den Medien. Von Bauarbeitern, die ein Einkaufszentrum blockierten, das sie gebaut hatten, wofür sie aber keinen Lohn bekamen bis hin zu verzweifelten Selbstverbrennungen - eine ununterbrochene Kette von Protesten hat dieses Tabu durchbrochen. Bezeichnenderweise ist der erste Versuch eine eigenständige Migrantengewerkschaft zu organisieren bisher nicht unterdrückt worden.

Mittelklasse - Mittelklasse?

Obwohl die "neue chinesische Mittelklasse" beinahe ein ähnlicher Hype war, wie die "new economy" und obwohl sich rund 45 Prozent aller Befragten dazu zählten, seien es in wirklich nur ca 3 Prozent, die bestimmte Kriterien dafür erfüllten. so besagt es eine Studie von The Dr Li Chun- ling von der "Chinese Academy of Social Sciences", laut einem Bericht von Chua Chin Hon in (und bei) "Strait Times" vom 30.Januar 2004 . (Achtung: Bezahlartikel!) Selbst in den grossen Zentren hatten nur 15,9 Prozent aller beinahe 6.000 Befragten einen qualifizierten Beruf und selbst in Beijing erreichte nur ein Viertel aller Befragten das für diese Region angesetzte Einkommen von 2000 Dollar im Monat. Was den Zugang auch für diese Schichten zu den Zentren betrifft, hatten wir bereits oben den Beitrag von Jason Leow zitiert.

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