HAN DONGFANG, 34 Jahre alt, war Organisator der "Autonomen Foederation Pekinger Arbeiter", die im Mai/Juni 1989 gegründet und mit dem Massaker auf dem Tien Anmen zerschlagen wurde. Er wurde damals eingesperrt und 1991, nach 22 Monaten, aus der Haft entlassen. Seither wirbt er in der Oeffentlichkeit für die Rechte der chinesischen Arbeiter. Han wurde die Rückkehr nach China verweigert -- als er es 1993 dennoch versuchte, wurde er an der Grenze zu Hongkong von der chinesischen Polizei zusammengeschlagen. Er hatte sich ein Jahr in den USA aufgehalten, um sich von einer Tuberkolose zu kurieren, die er sich während der Haft zugezogen hatte. (Er war, sicher nicht zufällig, mit zahlreichen Tuberkolose- Kranken zusammengelegt worden.) Sein Krankenhausaufenthalt in den USA wurde von US-amerikanischen Gewerkschaftern finanziert; eine Lunge wurde ihm entfernt.
In Hongkong, wo er seitdem lebt, gibt Han seit 1994 das China Labor Bulletin heraus; seit 1997 arbeitet er an einem Programm von Radio Free Asia über die Arbeitswelt in China.
Das nachstehend wiedergegebene Gespräch führte Han mit der sozialistischen australischen Wochenzeitung "Green Left Weekly".
Die Ausweitung der Privatisierung und Umwandlung der Staatsbetriebe in Unternehmen im Privatbesitz durch die Regierung in Peking hat in den letzten Jahren mehr und mehr Menschen auf die Straße gesetzt bzw. dazu gezwungen, zu sehr geringem oder gar keinem Lohn zu arbeiten. Dagegen gibt es unzählige Widerstandsaktionen der Beschäftigten; Proteste und Streiks finden fast täglich statt. Die Hauptforderungen sind: Arbeitsplätze, Nahrung und Mittel zum Ueberleben.
Erwerbslosigkeit und die brutale Zerschlagung eines elementaren sozialen Sicherungssystems sind die brennendsten Probleme geworden. Selbst nach offiziellen Zahlen gibt es in den Städten 30 Millionen Erwerbslose; Han erwartet, daß diese Zahl sich im laufenden Jahr verdoppelt. Darin nicht eingeschlossen sind die Beschäftigten, die zwar technisch gesehen einen Arbeitsplatz haben, aber seit langem keinen Lohn oder nur kleine Abschlagszahlungen bekommen haben.
"Häufig haben solche Arbeiter seit einem halben Jahr, einem Jahr, mitunter aber auch seit zwei oder drei Jahren keinen Lohn erhalten. Darunter sind sogar solche, die Ueberstunden arbeiten."
Wichtige staatliche Zuschüsse wie die zur Wohnung, Schule, Kindergärten, im Krankheitsfall und für Alte, die normalerweise mit einem Arbeitsplatz in den Städten verbunden waren, werden massiv gekürzt. "Wenn du den Job verlierst, verlierst du alles."
"Die Lage der abhängig Beschäftigten ist eine Zeitbombe. Du weißt nicht, wann sie hochgeht."
Das System kracht. Die Arbeiter sind nah an der Verzweiflung, mehr und mehr von ihnen gehen auf die Straße, fordern Lohn und Brot, um ihren Hunger zu stillen.
"Das größte Problem ist die Nahrung. Viele Leute haben nichts mehr zu essen." Die Forderung nach Nahrung wird derzeit auf fast jeder Demonstration erhoben. "Die Leute fordern das Frühstück für den nächsten Tag."
Dabei sind sich diejenigen, die gegen die Zustände protestieren, ihres persönlichen Risikos durchaus bewußt. "Sie stehen unter starkem Druck. Sie können umgebracht werden, im Gefängnis landen oder alles verlieren. Aber das alles hält sie nicht auf."
Vor allem die Wohnungssituation ist eine potentielle Lunte. Es gibt einen wachsenden Druck, daß abhängig Beschäftigte ihre Wohnungen kaufen müssen. Nach 1949 war Wohnen ein Recht, die Miete sehr billig, und immer gab es mit einem Arbeitsplatz auch eine Wohnung. Jetzt werden Wohnungen rar, und häufig sind sie überfüllt.
Noch weiß Han nichts von Maßnahmen, daß Beschäftigte aus ihren Häusern geräumt würden, aber er ist sicher, daß solche Angriffe auf eine massive Gegenreaktion stossen würden.
Bei mancher Gelegenheit haben sich mehrere zehntausend Menschen versammelt. Aber der Umfang der Proteste, sagt Han, sagt nicht sehr viel aus. Viele Beschäftigte seien bereit, an Massenprotesten teilzunehmen, weil sie persönlich für sich kein Fortkommen mehr sehen und weil sie glauben, daß sie nichts zu verlieren haben. Die Angriffe auf die Arbeitsplätze und die soziale Sicherheit werden von ihnen als immer drückender empfunden.
Trotzdem haben sie Angst, bei den Protesten erkannt zu werden; das ist für wirkungsvolle Gegenaktionen ein großes Hindernis. Han schlägt einen Bogen zurück zu den Säuberungen während der Kulturrevolution. "Die Ueberlebenden, die immer noch im sozialen Protest engagiert sind, halten sich zurück, wollen nicht, daß ihre Namen bekannt werden, verstecken sich oder wollen sich nicht organisieren."
An der Demonstration auf dem Tien Anmen 1989 haben viele Arbeiter teilgenommen, die unter den Fahnen ihrer Fabriken marschierten. Von diesen haben sich nur 100 bis 200 der Autonomen Foederation der Pekinger Arbeiter angeschlossen. "Damals hatten die Leute noch Brot", sagt Han.
Aber selbst die, die sich in der Foederation zusammenschlossen, hatten nur ganz rudimentäre Vorstellungen davon, was sie eigentlich wollten, meint Han. Die Foederation war vor allem ein Zusammenschluß von Arbeitern, die die Notwendigkeit verspürten, etwas gegen das anmassende Verhalten der Kommunistischen Partei zu tun. Sie kämpften für Demokratie und Freiheit.
Heute ist Han überzeugt, daß die chinesischen Arbeiter und abhängig Beschäftigten ihre eigene, unabhängige Bewegung aufbauen müssen, damit sie für ihre konkreten Interessen kämpfen können. Die abhängig Beschäftigten können sich nicht mehr der Illusion hingeben, daß Politiker ihre Probleme lösen.
Han glaubt, daß das grundlegende Problem, vor dem die chinesischen Arbeiter heute stehen, das Gesellschaftssystem in China ist. Er ist überzeugt, daß die Mehrheit der Bevölkerung die Diktatur der KP loswerden will. Aber nur wenige Menschen haben eine Vorstellung davon, wie sie das erreichen können, und noch weniger sind bereit, etwas dafür zu tun.
Aber Aktionen für Lohn, Arbeitsplätze, Absicherung im Krankheitsfall und für andere konkrete Probleme, die ihren Alltag betreffen, würden auf breites Echo stossen.
Es wurde im Gespräch nicht klar, ob Han den Kampf um Arbeitsplätze als Teil eines umfassenderen Kampfs zur Ueberwindung des Gesellschaftssystems in China betrachtet, oder als Selbstzweck. Aber er betont, daß der Kampf für einen Ventilator am Arbeitsplatz ein wirksameres Mittel darstellt, um Arbeiterdemokratie durchzusetzen, als Aktionen, die darauf abzielen, die Partei an der Macht zu ändern oder zu ersetzen.
Han betrachtet sich selbst als Teil der Demokratiebewegung, aber praktisch hat er sich von deren Hauptströmung gelöst, die seiner Meinung nach zu sehr von Studenten und Intellektuellen dominiert wird.
Er glaubt, daß die mehrheitliche Strömung nur eine akademische Vorstellung
von der Demokratie hat und in den Arbeiterkämpfen nur ein Mittel sieht,
sich selbst an die Macht zu bringen.
"Die Leute meinen, jede und jeder habe 1989 die Bewegung aus denselben Beweggründen unterstützt und dieselben Ziele und Interessen damit verbunden. Tatsächlich war das einzige, das uns verbunden hat, unsere Gegnerschaft zur KP. In allen anderen Fragen waren wir uneins."
Han zweifelt nicht daran, daß die chinesischen Kommunisten früher einmal aufrechte Revolutionäre gewesen sind, aber er glaubt, daß sie durch die Macht korrumpiert wurden -- auch schon vor 1949. Er ist davon überzeugt, dass in China heute ein Manchester-Kapitalismus auf der Tagesordnung steht und den Arbeitern "das Leben zur Hölle" macht.
Han sieht keine Organisation hinter den Aktionen der Arbeiter in den letzten Jahren; er glaubt, daß die meisten Proteste spontane Kämpfe gegen nackte Ausbeutung waren.
Dieser Artikel erschien in SoZ Nr.5/98. Die "SoZ -- Sozialistische Zeitung" erscheint 14-tägig im SoZ-Verlag und wird herausgegeben von der Vereinigung für Sozialistische Politik (VSP). Kontakt: SoZ, Dasselstr. 75--77, 50674 Köln.