Die EigentümerInnen der Armut im Aufstand

Landlose und Gewerkschaften machen in Brasilien mobil

 

Auf Druck des IWF wird derzeit in Brasilien ein einschneidendes Privatisierungsprogramm umgesetzt. Dagegen fanden in den letzten Monaten zahlreiche Aktionen statt, u.a. die bislang größte Demonstration in der Geschichte des Landes Ende August mit 100.000 TeilnehmerInnen und ein eintägiger Generalstreik Mitte November.

Der seit 1994 amtierende Präsident Fernando Henrique Cardoso (gemeinhin FHC genannt) von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB)kündigte im Sommer dieses Jahres ein mit dem IWF ausgehandeltes Privatisierungsprogramm an, das die Entlassung von 150.000 BeamtInnen vorsieht. Die Verabschiedung dieses Programms ist die Voraussetzung neuer Kredite des IWF für Brasilien. Inzwischen hat der IWF wegen der "positiven Wirtschaftsentwicklung" seit Juli einen neuen Kredit in Höhe von 9,1 Mill. DM bewilligt.

Die Privatisierungen sind aktuell ein Hauptkritikpunkt der linken Opposition, vor allem des linken Gewerkschaftsdachverbandes Central Unica dos Trabalhadores (CUT).

Die Privatisierungspolitik, bei der viele Staatsunternehmen wie z.B. der Erdölkonzern PETROBRAS und die Telekom Brasilien (TELEBRAS) weit unter ihrem Marktwert verkauft wurden, hat die Popularität des Präsidenten auf einen neuen Tiefpunkt gefürt: In Umfragen sprechen sich mittlerweile 60 Prozent der BrasilianerInnen gegen seine Politik aus. Der Präidentschaftskandidat der Arbeiterpartei (PT) Inácio da Silva Lula liegt inzwischen mit 30 Prozent weit vor dem amtierenden Präsidenten. Der sich als brasilianischer Tony Blair gebende Ciro Gomez folgt mit 20 Prozent.

Politisch werden die Proteste gegen die Privatisierungspolitik der Regierung hauptsächlich von der CUT, der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) und einzelnen Mitgliedern der linkssozialdemokratischen Arbeiterpartei getragen. Diese Kräfte der brasilianischen Linken stehen für unterschiedliche Positionen: Die CUT mit ihrer Massenbasis, die sich Anfang der 80er Jahre von einem Verband oppositioneller Gewerkschaftsgruppen zu einem gewerkschaftlichen Dachverband entwickelte, steht vor allem für soziale Gerechtigkeit und schwankt zwischen reformerischen und radikal-sozialistischen Forderungen. Die MST steht eher für radikale Aktionsformen und Strategien. Die einstmals radikale PT orientiert sich immer stärker am politischen Mainstream und sieht ihre Aufgabe darin, der allgemeinen Unzufriedenheit an den Wahlurnen Ausdruck zu verleihen.

Marsch auf die Hauptstadt

Im September, Oktober und November dieses Jahres verstärkten sich die Proteste und der Widerstand der MST. Die in der Endphase der Militärdiktatur 1984 im südlichen Bundesstaat Paran  entstandene MST versteht sich als "Gewerkschaft der LandarbeiterInnen". Mit damaliger Unterstützung von maßgeblichen Teilen der katholischen Kirche versucht der MST, den Kampf um Land hauptsächlich durch Besetzungen zu organisieren. So dringen immer wieder MST-AktivistInnen auf Fazendas ein, die im Rahmen der Agrarreform enteignet werden sollen, um die Enteignung zu beschleunigen.

Beispielsweise haben 450 Familien die Farm Palmeiras (13,5 Hektar) im Bundesstaat Gois mittlerweile zum vierten Mal besetzt, um die schon seit 1997 offiziell geplante Enteignung zu beschleunigen bzw. endlich durchzusetzen. Angesichts einer drohenden Räumung durch die Polizei errichteten sie am 27. September eine Barrikade aus Sojasäcken und sieben Traktoren, bedeckten sie mit Stroh und drohten sie anzuzünden, falls die anwesenden Polizisten die Räumung beginnen würden. Die Aktivisten wurden wegen Besetzung, dem Töten von fünf Rindern (zum Eigenbedarf) und angeblichen Waldschäden, die sie auf der Fläche, die sie besetzen, anrichteten, angeklagt.

Existenziell betroffen von der Agrarpolitik des Präsidenten Cardoso, erhöhte sich in den letzten Monaten im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Privatisierungspolitik der Regierung auch die Mobilisierungskraft der Landlosenbewegung. Dabei ist zu beobachten, dass sich die MST-AktivistInnen dem gemeinsamen Widerstand gegen die Regierung Cardoso anschlossen und bemüht sind, ihre Proteste mit dem sogenannten "Städtischen Kampf" zu koordinieren. Die politische Ausrichtung der Landlosenbewegung beschränkt sich zunehmend nicht mehr nur auf das Land. Es hat den Anschein, dass der MST bemüht ist, die traditionelle Spaltung der brasilianischen Linken und Basisbewegungen zwischen Stadt und Land aufzuheben. Neben den oft blutigen "Landschlachten" zwischen Landlosen und den berittenen paramilitärischen Einheiten der GroßgrundbesitzerInnen sind heute nicht nur die Aktionsorte, Aktionsformen und AktivistInnen, sondern auch die politischen Ziele des MST vielfältiger geworden.

Vom 26. Juli bis zum 7. Oktober sollte der bislang größte Protestmarsch der MST stattfinden. In regionalen Versammlungen hatten die Landlosen einen Marsch auf die Hauptstadt Brasilia beschlossen. Dieser Marcha Popular pelo Brasil hatte zwei Ziele: 1. In ihrem Aufruf verlangen die Landlosen das Ende der Zahlungen an den und der Verhandlungen mit dem IWF. 2. Auf die Regierung sollte der Druck erhöht werden, sofort mit den Ansiedlungsprogrammen und der Enteignung von brachliegenden Latifundien zu beginnen, also die seit Jahren versprochene Agrarreform endlich umzusetzen. In den fünf Jahren der Cardoso-Regierung ist von den versprochenen Familienansiedlungen bloß ein minimaler Bruchteil realisiert worden. Immer noch sind 46 Prozent der Agrarflächen in der Hand von einem Prozent der Bevölkerung, von diesen 400 Mio. Hektar wiederum sind 340 Mio. brachliegendes Land.

Über 1.000 Landlose zogen ab dem 26. Juli 74 Tage lang von Rio de Janeiro, wo eine Auftaktkundgebung stattfand, in die Hauptstadt Brasilia. Höhepunkt war dort die Kundgebung vor der brasilianischen Zentralbank. Die MST-AktivistInnen liefen rund 25 km am Tag Autobahnen entlang, abends fanden in kleinen Siedlungen jeweils Kundgebungen statt. Obwohl durch den Marsch kaum neue AktivistInnen hinzugewonnen werden konnten, ziehen die Organisatoren eine positive Bilanz. Die Aktion habe "zu einer engen Bindung und einem Solidaritätszuwachs unter den Marschierenden selbst" sowie "zur breiten Kenntnis der MST-Ziele in der Öffentlichkeit" geführt.

Im Zentrum von Brasilia, auf dem Vorplatz der Banco Central do Brasil, bei 35 Grad Hitze und im spärlichen Baumschatten versammelten sich am 7. Oktober rund 4.000 DemonstrantInnen. Aus dem Lautsprecherwagen schallte die Parole: "Fora, fora j  daqui: O FHC e o FMI" (Raus, raus jetzt hier, mit dem Präsident FHC und dem IWF). Tags zuvor hatten vor dem Kongress, wo traditionell alle großen Demonstrationen in Brasilia enden, 10.000 LehrerInnen des staatlichen Bildungssektors unter einem gemeinsamen Aufruf von CUT und MST protestiert. Im Gegensatz zu diesem Versammlungsort wählte die MST bewusst die Zentralbank als Endpunkt des Marsches, da dort jeweils die IWF-Spitzen mit der Regierung verhandeln. Der regionale Koordinator der MST-Santa Catarina "Parafuso" (Schraube) begründete es so: "Wir wollten unsere Kundgebung genau hier haben - auf dem Vorplatz der Zentralbank Brasiliens und nicht vor dem Kongress, weil wir ganz genau wissen, dass in diesem Land FHC nichts zu sagen hat, sondern der IWF - sie regieren unser Land, der Präsident ist nur eine Marionette."

Auf der Abschlusskundgebung rief der MST-Vorsitzende Joao Pedro Stédile u.a. zu Blockaden und zur Zerstörung von Autobahnzahlstellen sowie zur Besetzung von Latifundien auf. Dies brachte ihm die bis heute anhängige Klage wegen Aufruf zum Vandalismus ein. Der Erziehungsminister Paulo Renato Souza bezeichnete angesichts dieser Äußerungen die MST als "eine anti-demokratische Bewegung" (Folha de Sao Paulo, 09.10.99). Auch der Vorsitzende der PT, Jos‚ Genuino, distanzierte sich sofort. Durch solche Äußerungen "isoliere" sich der MST, da "sowohl die Parlamentarier als auch die Bevölkerung" Vandalismus nicht tolerieren würden.

Mitte November erzielte die Landlosenbewegung trotz dieser Anfeindungen einen großen Erfolg. Am 12. November begannen MST-AktivistInnen mit der Belagerung des 1.300 Hektar großen Grundbesitzes des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso. 200 DemonstrantInnen blockierten den Eingang von dessen Farm und plünderten einen Lastwagen, der Teile der Sojaernte geladen hatte. Ihnen standen 250 PolizistInnen mit Hunden und Waffen und 10 Elite-Agenten entgegen. Das ganze Unternehmen war eine symbolische Aktion, die vor allem große Resonanz in den Medien hatte und dazu führte, dass die Regierung ein neues Verhandlungsangebot über die Situation der Landlosen und die Agrarreform unterbreitete. Der Landwirtschaftsminister Raul Jungmann gab sogar die konkrete Zusage, dass jede schon im Zuge der Agrarreform angesiedelte Familie einen Kredit in Höhe von 2.000 DM erhalte.

Der Generalstreik am 10. November

Der Gewerkschaftsdachverband CUT mobilisierte nach dem Erfolg der Massendemonstration im August für einen Generalstreik und Protesttag am 10. November. Den ganzen Oktober hindurch streikten im wöchentlichen Wechsel die AutomobilarbeiterInnen in fünf Bundesstaaten jeweils für einen Tag bei FIAT, Mercedes, Volkswagen, Ford, General Motors, Renault und Audi. Hierbei kam es teilweise zu Auseinandersetzungen mit Polizei und Werkschutz. Im Oktober gab es ebenso Warnstreiks der Bankangestellten verschiedener Banken.

Der Generalstreik sollte, wie die CUT es formulierte, auf Konfrontation und nicht auf Verhandlungen ausgerichtet sein. Es ging darum, möglichst viele Menschen gegen die Regierungspolitik, also gegen den Ausverkauf der profitträchtigen Infrastruktur des Landes an das multinationale Kapital und für eine Erhöhung des Lebensstandards der breiten Masse, zu Aktionen zu bewegen.

Geplant wurden vor allem lokale Demonstrationen, Straßenblockaden und die zeitweilige oder völlige Arbeitsniederlegung in Betrieben.

In der Begründung zum Generalstreik fand sich wie bei der MST an erster Stelle die Forderung an die Regierung, die Zahlungen an den IWF einzustellen. Zentrale Forderungen waren weiterhin: die Einführung der 36-Stunden-Woche (gegenüber einer üblichen 42-45-Stundenwoche), eine allgemeine Lohnerhöhung um zehn Prozent und die Erhöhung des Mindesteinkommens von ca. 130 DM auf 180 DM.

Doch auch allgemeine politische Forderungen wie die nach einer wirksamen Agrarreform, nach Erhaltung und Ausbau des maroden öffentlichen Schul- und Gesundheitssystems, dem Erhalt der Rente und der Chancengleichheit von Schwarzen, Frauen, Behinderten und MigrantInnen waren Bestandteil des Aufrufs zum Streik- und Protesttag.

Insgesamt haben 1,5 Millionen Menschen am Generalstreik teilgenommen, vor allem die Bankangestellten, AutomobilarbeiterInnen, die Beschäftigten in der Ölindustrie und im Öffentlichen Dienst, ProfessorInnen und StudentInnen sowie die TransportarbeiterInnen bei Metro und Omnibussen.

In der 18-Millionen-Metropole Sao Paulo bildete sich auf Grund der Proteste ein 92 Kilometer langer Stau, 1 Million Arbeitende kamen wegen des Verkehrschaos verspätet zur Arbeit. An der dortigen Universität beteiligten sich einige hundert ProfessorInnen und StudentInnen an einer Demonstration auf dem Campus, bei der zwei Autos angezündet wurden.

Am Tag des Generalstreiks gab es aber nicht nur Arbeitsniederlegungen, sondern auch vielfältige Protestaktionen, an denen sich auch der MST beteiligte. MST-AktivistInnen blockierten hauptsächlich die "Pedágios" (Autobahnzahlstellen). Zeitweilig besetzt sie sie oder zündeten sie teilweise an. Sie protestierten damit am Beispiel der Autobahnen gegen die extreme Privatisierungswelle. Am selben Vormittag sperrten sie auch wichtige Autobahnstrecken und -brücken.

Auf der nationalen Konferenz der CUT vom 16. bis 19. November in Belo Horizont wurde die Fortsetzung der Proteste beschlossen. Falls die ArbeitgeberInnen bis dahin keine höheren Angebote vorlegen, soll am 8. Dezember ein weiterer Generalstreik folgen.

An Wunder glaubt niemand

Die Cardoso-Regierung war in den letzten Monaten angesichts der Massenproteste und der im nächsten Jahr anstehenden Parlamentswahlen bemüht, selbst das Thema Armut und soziale Ungleichheit aufzugreifen. Das Thema beherrscht auf einmal das Parlament, beschäftigt die Parteien und die Medien. Ganz so als ob plötzlich die ParlamentarierInnen entdeckt hätten, dass sich 40 Millionen BrasilianerInnen in Armut befinden.

Anfang August kündigte der Senatsvorsitzende Antonio Carlos Magalhaes ein Projekt zur Beseitigung der Armut an. Das Wunder des Wohlstandes, so der Senator, soll in 10 Jahren erreicht werden. Es reicht ein Blick auf die direkte Nachbarschaft des Kongresses, um die selbst um das Machtzentrum des Landes existierende Armut zu sehen. Kinder, die nach Kleingeld fragen, sind ein gewohntes Bild auf den Parkplätzen des Kongresses und der Ministerien. Entlang der Esplanada dos Ministérios drängen sich StraßenverkäuferInnen, die Zigaretten, Eis, Telefonkarten und andere Kurzwaren anbieten. Im hinteren Teil der Regierungsgebäude wühlen MüllsammlerInnen in den Containern, um wiederverwendbares Material an die Recyclingindustrie zu verkaufen.

Selbst eine Favela mit 80 Menschen befindet sich in weniger als 500 Meter Entfernung vom Präsidentenpalast. Einer der Bewohner dort, Dalvino Jesus Leite, 25 Jahre, 5 Kinder, ist vor 3 Jahren von Bahia im Nordosten Brasiliens auf der Suche nach einem Job in die Hauptstadt ausgewandert. Gefragt, was er vom neuen Armutsprojekt der Regierung erwarte, antwortete er: "Nee, ich erwarte nichts davon ... Ich sammle weiter Papier, mit diesen 100 Reais (100 DM) im Monat kann ich auskommen. Zurückkehren nach Bahia würde ich niemals. Außer wenn sie mir ein Stück Land zum Ernten gäben. In Bahia zu sein, bedeutet, an Hunger zu sterben."

de Souza Alves, Jörg Nowak

aus: ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis 433 vom 16.12.1999