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aus:  ak 459 vom 22.2.2002
ak  -  analyse & kritik
Zeitung für linke Debatte und Praxis


"Wir warten noch immer ..."

Aufarbeitung von Diktaturverbrechen in Argentinien

 

Kampf gegen die Straflosigkeit in Lateinamerika

Am 22. Juni 1976 - keine drei Monate, nachdem die argentinische Armee Präsidentin Isabel Peron abgesetzt hatte - drang ein Militärkommando gewaltsam in das Haus der Lehrerin María Cristina Cournour de Grandi ein. Zusammen mit ihrem Lebenspartner wurde María Cristina, die damals im 4. Monat schwanger war, entführt und ist seither verschwunden. Zurück blieb Yamila, die zweijährige Tochter der beiden. Yamila ist heute 27 Jahre alt. Gemeinsam mit den Madres y Abuelas de la Plaza del Mayo, den Müttern und Großmüttern der Plaza del Mayo, sucht sie nach ihren Eltern und ihrer mittlerweile ebenfalls erwachsenen Schwester.

Yamilas Onkel, Víctor Heredia, ist nicht nur Bruder, Schwager und Onkel von Verschwundenen, sondern auch einer der bekanntesten Poeten Argentiniens. Mit "Todavía cantamos" - "Wir singen noch immer" schuf er die landesweite Hymne derer, die noch immer warten, noch hoffen und bis heute dafür einstehen, dass die Schicksale ihrer mehr als 30.000 verschwundenen Angehörigen aufgeklärt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Und so waren es auch mehr als 30.000 Menschen, die am 24. März 2001, zum 25. Jahrestag des Militärputsches, im Eisenbahn-West-Stadion von Buenos Aires die Ränge füllten, um der in Haft "Verschwundenen" zu gedenken, Aufklärung und Gerechtigkeit zu fordern und gemeinsam ihr "Todavía cantamos" anzustimmen. Eingeladen hatten die Madres, die seit nunmehr ebenfalls fast einem Vierteljahrhundert demonstrativ ihre Runden auf der Plaza de Mayo vor dem rosafarbenen Regierungsgebäude in Buenos Aires drehen und - die Bilder ihrer Angehörigen über den Köpfen haltend - unablässig die immer gleiche Frage stellen: "Dónde están? - Wo sind sie?"

Schlusspunkt statt Aufarbeitung

Große Hoffnungen auf Aufklärung waren 1983 zunächst mit der Rückkehr Argentiniens zu einer zivilen Regierung verbunden. Am symbolträchtigen 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, trat Wahlsieger Raúl Alfonsín sein Amt als erster wieder frei gewählter Präsident des Landes an. Noch in der ersten Woche seiner Amtszeit verkündete er die Absicht, Menschenrechtsverletzungen der Diktatur zu ahnden.

Unter dem Titel "Nie wieder" legte die von der neuen Regierung einberufene Ermittlungskommission CONADEP im Folgejahr eine erste Bilanz vor, die die Systematik der Menschenrechtsverbrechen betonte und mehr als 1.000 Verantwortliche namentlich benannte. Dieser Bericht führte 1985 zur Verurteilung zweier von drei ehemaligen Militärdiktatoren. Sechs weiteren ranghohen Offizieren wurde der Prozess gemacht.

Doch ein Jahr später, als die Gerichte begonnen hatten, gegen mehr als 400 weitere Verantwortliche vorzugehen, setzten Militärrevolten den Ermittlungen ein Ende. Unter dem Druck der Kasernen verabschiedete das Parlament das Schlusspunktgesetz und das Gesetz über den Befehlsnotstand. Laufende Prozesse wurden eingefroren, bereits Verurteilten 1990 von Präsident Menem wieder begnadigt. Die Proteste von Menschenrechtsorganisationen verhallten ungehört und wie im Nachbarland Chile breiteten Politik, Justiz und Öffentlichkeit einen Mantel betretenen Schweigens über die erste Hälfte der neunziger Jahre.

Und ebenfalls wie im Nachbarland Chile, war es ein spanischer Staatsanwalt, der mit einer Strafanzeige wegen Völkermordes gegen Mitglieder des argentinischen Militärregimes 1996 eine neue Runde im Kampf gegen die Straflosigkeit einläutete. Auch in Argentinien setzten daraufhin zunächst neue Ermittlungen ein. Ein Anlauf des Linksbündnisses FREPASO, das Amnestiegesetz parlamentarisch zu Fall zu bringen, scheiterte jedoch.

Angesichts der Aussichtslosigkeit die Täter im eigenen Land vor Gericht zu stellen, wandten sich die argentinischen Menschenrechtsorganisationen an die internationale Öffentlichkeit. Strafprozesse in Italien und Frankreich folgten. Und auch in Deutschland gründete sich 1998 die Koalition gegen die Straflosigkeit, die in Fällen von Verbrechen gegen deutsche StaatsbürgerInnen in Argentinien Material gegen zahlreiche Verantwortliche für Anklagen vor hiesigen Gerichten zusammentrug.

Mit der Verhaftung des chilenischen Diktators Pinochet in London erhielten auch die Aktivitäten in Argentinien eine neue Dynamik. MenschenrechtsanwältInnen wurden darauf aufmerksam, dass das Amnestiegesetz sich nicht auf den Tatbestand der Kindesentführung erstreckte. Mit den entführten und ermordeten Oppositionellen hatte die Militärdiktatur auch 300 Kinder "verschwinden" lassen. In den geheimen Folterzentren waren spezielle Entbindungsabteilungen eingerichtet, die sogar Kaiserschnitte ermöglichten. Und wie im Fall von der schwangeren María Cristina Cournour de Grandi wurden die Mütter bis zur Geburt des Kindes am Leben gelassen und erst anschließend von ihren Kindern getrennt und ermordet. In den Folterzentren führten Gynäkologen Listen mit "adoptionswilligen" Bewerbern aus dem Militärapparat, an welche die Kinder unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergeben wurden.

Seit 25 Jahren fordern die Mütter der Plaza del Mayo daher nicht nur die Aufklärung des Schicksals ihrer "verschwundenen" Kinder. Als Großmütter der Plaza del Mayo suchen sie in detektivischer Kleinarbeit ebenfalls nach ihren verschleppten Enkelkindern.

Während Yamila Grandi noch immer vergeblich den Verbleib ihrer nie gekannten Schwester ausforscht, konnten andere Schicksale inzwischen aufgeklärt werden. Über 80 Jugendliche und junge Erwachsene erfuhren auf diese Art in den vergangenen Jahren von ihrer eigentlichen Identität. Sie sind es, die heute ihre "Adoptiveltern" wegen Verschleppung vor Gericht anklagen. Gemeinsam mit anderen Nachkommen von Opfern der Diktatur haben sich einige von ihnen zur Gruppe H.I.J.O.S - "Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen" zusammengeschlossen.

Im Fall der als Kind Entführten Claudia Victoria Poblete, die ihre "Adoptiveltern" wegen Verschleppung verklagte, erging Anfang März 2001 ein Aufsehen erregendes Urteil. Der Bundesrichter Gabriel Cavallo verurteilte zwei Offiziere nicht nur wegen der Entführung. Er erklärte darüber hinaus das gesamte Amnestiegesetz für verfassungswidrig und in diesem konkreten Fall erstinstanzlich für ungültig. Es könne nicht angehen, so argumentierte Cavallo, die beiden Täter zwar wegen der Entführung Claudia Victoria Pobletes, nicht jedoch wegen der Ermordung ihrer Eltern zu verurteilen. Das Schlusspunktgesetz, so Cavallo weiter, verstoße gegen Völkerrecht und internationale Abkommen, die in argentinisches Recht übernommen seien. Im November wurde das Urteil durch den Bundesgerichtshof bestätigt und die Amnestiegesetze in Einzelfällen außer Kraft gesetzt. Damit ist in Argentinien der Weg für die juristische Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen zunächst wieder offen.

Umweg über internationale Gerichte

Seit 1998 befindet sich auch der 1990 amnestierte Ex-Diktator Videla erneut unter Hausarrest. Diesmal wegen Kindesentführung. Zahlreiche weitere Militärs befinden sich wegen desselben Tatbestandes in Haft. Nach der Aussetzung des Amnestiegesetzes wurde schließlich auch gegen Videla in anderer Sache Haftbefehl erlassen. Der Putschistengeneral sei "Mitglied einer schwerwiegenden illegalen Vereinigung gewesen, die Menschen gewaltsam verschwinden ließ," begründete Bundesrichter Rodolfo Canicoba Corral den Haftbefehl. "Es ist nachgewiesen, dass zwischen den Militärmachthabern Südamerikas eine inoffizielle Vereinbarung bestand, länderübergreifend Menschen zu entführen und andere Verbrechen zu begehen."

Damit wurde erstmals die Existenz der Operation Cóndor juristisch anerkannt. An dieser organisierten grenzüberschreitenden Verfolgung von RegimegegnerInnen, die vom chilenischen Diktator Pinochet initiiert worden sein soll, waren auch die Regime in Uruguay, Paraguay, Bolivien und Brasilien beteiligt. Die 500-seitige Anklageschrift wurde in Kooperation mit den uruguayischen und bolivianischen Behörden erstellt. Sie basiert auf FBI-Akten und dem sogenannten "Todesarchiv", das auf einer Polizeistation in Paraguay gefunden wurde. Das Gericht beantragte darüber hinaus die Auslieferung des paraguayischen Ex-Diktators Alfredo Strössner, der im brasilianischen Exil lebt, sowie des früheren chilenischen Geheimdienstchefs Manual Contreras und zuletzt auch des bolivianischen Ex-Diktators Hugo Bánzer. Gerüchten zufolge soll in nächster Zeit die Auslieferung von Augusto Pinochets beantragt werden. Auch Ex-US-Außenminister Henry Kissinger ist in diesem Zusammenhang bereits ins Visier der argentinischen Justiz geraten.

Im Sommer vergangenen Jahres stellte sich auch der als "blonder Todesengel" bekannte Alfredo Astiz der Justiz, nachdem eine Richterin Haftbefehl wegen Kindesentführung gegen den ehemaligen Fregattenkapitän der argentinischen Marine und seinen damaligen Kollegen Jorge Vildoza erlassen hatte. Gegen beide liegen Haftbefehle aus Italien, Frankreich und Spanien vor. Interpol fahndet bereits seit zwölf Jahren nach Asiz, der als einer der brutalsten Folterer und Mörder Argentiniens gilt. Präsident Fernando de la Rua lehnte die Auslieferung an Frankreich und Italien jedoch ab. Bereits 1997 hatte der spanische Richter Baltasar Garzon vergeblich ein Auslieferungsgesuch gestellt.

Im Oktober 2001 ordnete Bundesrichter Cavallo auf Grund eines Haftbefehls des Amtsgerichtes Nürnberg Auslieferungshaft für den ehemaligen Befehlshaber des 1. Heerescorps, Carlos Suarez Mason, an. Ihm wird die Ermordung der Deutschen Elisabeth Käsemann vorgeworfen. Auch im Fall Suarez Mason lehnte de la Rua die Auslieferung ab.

Amnestiegesetze wackeln

Um die argentinische Regierung zu zwingen, dem Auslieferungsgesuch doch noch zuzustimmen, hat die deutsche Bundesregierung am 10. Dezember vergangenen Jahres - dem internationalen Tag der Menschenrechte - Klage gegen die Amnestiedekrete vor einem argentinischen Gericht eingereicht. In ihrer Klage bezeichnet die Bundesregierung die Amnestie als völkerrechtswidrig und unvereinbar mit der argentinischen Verfassung. Im Januar beantragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth darüber hinaus Haftbefehl auch für zwei Untergebene von Suarez Mason.

Unterdessen verfügte die mexikanische Regierung im Frühjahr 2001 die Auslieferung eines der hauptverantwortlichen Folterer Argentiniens an Spanien. Mit falschem Pass und falschem Vornamen war Ricardo Miguel Cavallo als Geschäftsmann in Mexico untergetaucht. Dort wurde er im August 2000 in Haft genommen, da der spanische Richter Baltasar Garzon einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erwirkt hatte. Zur selben Zeit wurde auch der Folterer Jorge Olivera aufgrund eines französischen Haftbefehls in Italien festgesetzt. Abhängig vom Ausgang der Berufungsverhandlung im Fall Cavallo und abhängig von den Entscheidungen der italienischen Justiz im Fall Olivera könnte erstmals gelingen, was im Fall Pinochet scheiterte: Im Ausland verhaftete Menschenrechtsverbrecher würden real in einem Drittland für ihre Vergehen zur Rechenschaft gezogen.

Derartig weit reichende Schritte im Kampf gegen die Straflosigkeit nehmen die argentinischen Militärs jedoch nicht ohne Widerstände hin. Seit einiger Zeit schlagen sie mit den ihnen wohlvertrauten Mitteln zurück. Nach Berichten der Koordination gegen die politische und institutionelle Repression (CORREPI) wurden alleine zwischen dem Ende der Militärdiktatur und 1998 insgesamt 470 Morde von argentinischen Sicherheitskräften begangen. AktivistInnen der Menschenrechtsgruppen werden eingeschüchtert, bedroht und überfallen.

Nicht zuletzt als Folge der neoliberalen Politik, die in Argentinien durch die Herrschaft der Militärs am Ende der 70er Jahre durchgesetzt wurde, befindet sich das Land heute in einer tiefgehenden ökonomischen Krise. Zum Jahreswechsel eruptierte die Unzufriedenheit in soziale Aufstände, welche eine Reihe von Regierungswechseln erzwangen. Welche Auswirkungen die politische Instabilität auf die Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen haben wird, lässt sich derzeit kaum absehen. Einerseits hat die argentinische Zivilgesellschaft eine neue offensive Rolle übernommen, die sich auch auf Forderungen nach einem endgültigen Ende der Straflosigkeit ausdehnen könnte. Andererseits gilt als sicher, dass die Regierung Duhalde die angestrebte Stabilität eher auf einen Schulterschluss mit den Militärs zu gründen gedenkt.

Knut Rauchfuss

Dieser Artikel ist der zweite Teil einer Serie über den Kampf gegen Straflosigkeit in Lateinamerika. In der letzten Ausgabe behandelte unser Autor den Fall Chile, in der nächsten ak folgt Peru.


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