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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die Grenzen von Kirchners Sozialpolitik - Das Verhältnis neuer sozialer Proteste zur Dialogbereitschaft des Präsidenten

Während im Dezember 2001 in Argentinien breite klassenübergreifende Bündnisse noch in der Lage waren der ganzen alten politischen Klasse den Kampf anzusagen und mehrere Präsidenten aus dem Amt zu jagen, scheinen sich nach fast vier Jahren Regierung Kirchner sowohl Protestpotential, als auch Protestwille ziemlich beruhigt zu haben.

Nicht nur, dass die Zustimmungsraten der Regierung mit zwischen 60 und 70 Prozent so hoch sind, dass sich sogar Peron höchstpersönlich geschmeichelt gefühlt hätte, auch die jüngsten Wirtschaftsdaten nehmen vielen Kritikern den Wind aus den Segeln: Die Wirtschaft wächst konstant um 7 bis 8 Prozent, die immer noch hohe Arbeitslosigkeit (12,8 %) und Armutsrate (33,8%) sind im Vergleich zu 18% im Jahr 1996 und 56% Anfang 2003 merklich gesunken und auch bei der Bekämpfung der noch immens hohen Schwarzarbeit scheinen sich Erfolge abzuzeichnen (45,5% gegenüber 55% 2001). Um die Inflation, die seit einigen Monaten speziell durch die steigenden Fleischpreisen spürbar ist, zu bekämpfen, legte die Regierung sich sogar mit der selten angetasteten Fleischoligarchie an - die, anstatt ihre Rinder auf dem Binnenmarkt anzubieten, sie lieber gewinnträchtiger ans Ausland verkauft - und verhängte ein temporäres Exportverbot von 220 Tagen. Sogar die Linke ist gespalten: große Piqueterogruppen wie "Barrios de Pie" oder "Movimiento Evita" nutzen die Möglichkeit, erstmals ernsthaft mit einer Regierung zusammenarbeiten zu können und bilden inzwischen schon so etwas wie Kirchners soziale Basis, während regierungskritischere Gruppen, so genannte "Piqueteros duros", mit ihren Forderungen z.B. nach Erhöhung des Basiseinkommens nicht den geringsten Widerhall in Regierungskreisen finden. Zudem sind sie seit einiger Zeit zunehmend verstärkter staatlicher Repression ausgesetzt, wie z.B. die kürzliche Verhaftung des MIJD (Unabhängige Bewegung von Rentnern und Arbeitslosen) Führers Rául Castells zeigte.

Aktuell zeigt sich Kirchner gerne als Freund der Arbeiterbewegung und präsentiert regelmäßig, an der Seite des jeweiligen offiziellen Gewerkschaftsbosses, strahlend frisch ausgehandelte Tariferhöhungen von um die 20%. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die "gordos" (die Dicken) - so nennt man hier die korrupten Gewerkschaftsbosse - sondern auch ehemalige Abweichler und Menem-Kritiker wie der jetzige CGT-Chef Moyano, gerngesehene Gäste in der Casa Rosada sind.

So weit so gut, schaut man allerdings ein wenig genauer hin, stellt man schnell fest, dass das Verhältnis zwischen Regierung und ArbeiterInnenbewegung lange nicht so gut ist wie es vielleicht scheint und sich, teilweise abseits des Medieninteresses, neue Konfliktlinien entwickeln. Auf zwei von ihnen soll im Folgenden eingegangen werden.

Zum einen ist es so, dass die "Tarifvereinbarungen" meist weit unter den Forderungen der Basis liegen, die bei den Absprachen in der Rosada offenbar keine Rolle zu spielen scheint. Beispielhaft hierfür sind die Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst, bei denen die Gewerkschaft, die die Mehrheit der Beschäftigten repräsentiert von den Verhandlungen ausgeschlossen wurde, oder die zwischen CGT-Chef Moyano und Kirchner abgeschlossenen Tarifabschlüsse der LastwagenfahrerInnen, die mit 20% weit unter den Forderungen der Basis (40%) lagen.

Zum zweiten ist seit Mitte letzten Jahres eine überdurchschnittliche Häufung von - augenscheinlich unabhängig voneinander auftretenden - auf verschiedene Regionen und Sektoren begrenzten Arbeitskonflikten zu verzeichnen, den teilweise mit ungewöhnlich harter staatlicher Repression begegnet wird. Hierunter fallen, um nur einige Beispiele zu nennen, die Kämpfe der Ölarbeiter im südlichen Las Heras (siehe Beitrag auf dieser Seite), der wochenlange Streik von nicht-medizinischem Personal im Krankenhaus Garraham in BA, Blockaden der U-Bahn-ArbeiterInnen im November 2005 und die aktuellen Konflikte terzerisierter , an Subunternehmen ausgegliederter, U-Bahn Beschäftigter. Gemeinsam ist diesen Konflikten, neben der Kriminalisierung von Medien und Regierung, ihre Isoliertheit und fehlende institutionelle Repräsentation, was dazu führt, dass sie sich sogar gegen die eigene Gewerkschaftszentrale (CGT) richten, die nicht Willens zu sein scheint, die Interessen ihrer MitgliederInnen zu repräsentieren.

Beispielhaft für den ersten Fall sind die aktuellen Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, getragen von der Gewerkschaft ATE (Asociación de Trabajadores del Estado): ATE repräsentiert mit ca. 15.000 Mitgliedern einen beachtlichen Teil der der staatlichen Beschäftigten und gehört anstatt der offiziellen Dachgewerkschaft CGT der alternativen und klassenbewussteren Zentrale CTA (Zentrale der Argentinischen Arbeiter) an. Diese wurde in den 1990ern aus Protest an der bedingungslosen Akzeptanz der neoliberalen Politik Menems durch die CGT gegründet und hat es inzwischen geschafft, sich vom Modell der ausschließlichen Repräsentation des traditionellen Lohnarbeiters zu lösen. Die CTA, die sich mehr als Soziale Bewegung denn als Gewerkschaft im traditionellen Sinne versteht, vereint mit heute verschiedenen Piquetero- und Arbeitslosenorganisationen, Rentnern und Stadtteilbewegungen einen beträchtlichen Teil des "modernen Proletariats", ohne dabei die Strukturen einer Gewerkschaft aufzugeben. Das Problem ist, dass die Regierung Kirchner, entgegen anfangs gemachten Versprechungen und bestehendem Gesetz, sich weigert der CTA die "pesonaria gremial", so etwas wie das Repräsentationsrecht ihrer Mitglieder, anzuerkennen und lieber alleine mit den VertreterInnen der offiziellen, in der CGT organisierten Gewerkschaften Tarife aushandelt. So verkündeten kürzlich Regierungschef Alberto Fernández und Andrés Rodriguez, der Chef der offiziellen, der CGT angehörigen Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, UPCN, schon vor Beginn der offiziellen Tarifverhandlungen, praktisch per Dekret eine Lohnerhöhung von 19% für alle Beschäftigten. Bei Rodriguez handelt es sich um einen waschechten "gordo", der schon unter der Menem-Regierung jegliche Privatisierung bedingungslos absegnete und nun in Kirchner seinen neuen Ziehvater gefunden zu haben scheint.

Die ATE, die 30% gefordert hatte, wurde nicht berücksichtigt. 19%, so scheint es, hört sich ja gar nicht schlecht an und wären unter Menem und de La Rua sicherlich auch nicht so einfach durchsetzbar gewesen. Bedenkt man aber, dass die ArbeiterInnen im öffentliche Dienst seit der Krise 2001 mit einer Kaufkrafteinbußen con ca. 30 % zu einer der am härtesten getroffenen Gruppen gehörten und laut Berechnungen von ATE das derzeitige Monatseinkommen von 1150 pesos (ca. 300Euro) noch unter der canasta familia r - die familiäre Armutsgrenze - von ca. 2200 pesos liegt , sieht die Sache schon anders aus.

Aus Protest über die Ausgrenzung rief die CTA am 18. April zur Jornada Nacioal de Movilización auf, der mehrere zehntausende Menschen in allen großen Städten des Landes folgten. Und hier bestätigte sich, was sich schon vor einigen Wochen auf dem sechsten Kongress der CTA in Mar de Plata, wo mehrmals in unverhältnismäßig starkem Ton die Unabhängigkeit von allen Parteien und damit auch des "Kirchneismus" betont wurde, angedeutet hat. Niemals zuvor hat man eine derart harte Kritik aus hohen CTA-Kreisen an Kirchner gehört, wie sie CTA-Generalsekretär Victor de Gennardo und andere Spitzen an diesem Tag formulierten. Man werde sich nicht weiter vom Präsidenten "verarschen lassen" und wenn es sein müsse, die offizielle Anerkennung erkämpfen. Mit Bezug auf Nicht-Berücksichtigung von ATE soll eine Urabstimmung unter allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst durchgeführt werden um zu zeigen, dass nicht die UPCN, wie von der Regierung behauptet, sondern die ATE rechtmäßiger Vertreter der Beschäftigten ist.

Die zweite Konfliktliene lässt gut am Beispiel der Proteste der terzerisierten U-Bahn Beschäftigten aufzeigen, die Mitte des Monats durch die Blockade von Strecken und Bahnhöfen zwei Tage lang das gesamte U-bahnnetz und damit auch den kompletten Nahverkehr von Buenos Aires paralysierten und erst durch die Vermittlung durch Friedensnobel-Preisträger Adolfo Péres Espuivel ihre Blockade niederlegten. Grund für die schon Wochen vorher andauernden Proteste (siehe Beitrag auf dieser Seite) ist die konsequente Weigerung des privaten Streckenbetreibers Metrovías, den Subunternehmen und der zuständigen Gewerkschaft UTA, eine Regelung zu finden, die betroffenen ArbeiterInnen in den, im Dezember letzten Jahres zwischen der UTA und Metrovías ausgehandelten Tarifvertrag, zu integrieren. Dabei handelt es sich um knapp 600 Beschäftigte in 9 ausgegliederten Firmen, deren Lohn nach eigenen Angaben bis zu 50% unter dem der nach Tarifvertrag bezahlten Beschäftigten von Mertovías liegt.

Nach der Privatisierung des staatlichen Schienennetzes Anfang der 1990er Jahre durch die Regierung Menem begannen die neuen Eigentümer kontinuierlich Teilbereiche, wie z.B. die Sicherheit oder Reinigung, an Drittfirmen auszugliedern, um gültige Tarifvereinbarungen wie Arbeitszeiten, Kündigungsschutz usw. neu verhandeln zu können. Interessant ist hierbei, dass es sich bei diesen Drittfirmen oft keinesfalls um eigenständige spezialisierte Firmen handelt, sondern wie der Fall Metrovías zeigt, sie aufs engste mit dem Unternehmen verknüpft sind, oder sogar zum gleichen Konzern gehören. Hier gehören nicht nur 90% der Subunternehmen zur gleichen Wirtschaftsgruppen, sondern es finden sich auch viele ihrer AufsichtsratsmitgliederInnen bei Metrovías wieder.

Die Regierung und Metrovías weisen jegliche Verantwortlichkeit zurück und schieben der CGT und der UTE den schwarzen Peter zu, indem sie den Konflikt als Gewerkschaftsintern abstempeln. Diese scheint allerdings ebenfalls keinerlei Interesse an Konflikten mit Metrovías und Regierung zu haben und schwieg bisher zu den Vorfällen. Währenddessen kam es bei der von Innenminister Anibal Fernández angeordneten Räumung der besetzen Bahnhöfe nach Pressemeldungen zu Übergriffen von Polizei und zahlreichen verletzten AktivistInnen.

Beide Konfliktlinien machen relativ deutlich, dass die Bereitschaft der Regierung Kirchner, sich dem Dialog mit sozialen Bewegungen zu öffnen und ihre Forderungen einzugehen, sehr selektiv geschieht. Auch die Trennung zwischen akzeptablen, weil nicht so radikalen, und unakzeptablen "Piqueteros duros" macht dieses deutlich. Wobei man allerdings nicht vergessen darf, dass Teile der "Piqueteros duros", aus einer ultratrotzkistischen Orientierung heraus, keine Differenzierung zwischen der Regierung Kirchner und Menem machen, daher schon ihrerseits jeglichen Dialog ablehnen. Deutlicher wird diese "Selektion der Dialogpartner" in der Nicht-Anerkennung der CTA als Gewerkschaftszentrale.

Abschließend kann man vielleicht festhalten, dass immer noch großes aber gespaltenes Protestpotential in der argentinischen Gesellschaft vorhanden ist, dem allerdings der politische Arm fehlt, es sozusagen auf der Straße gefangen bleibt. Ob die CTA mit ihren relativ offenen Strukturen und vorhandenen Institutionen, sozusagen als institutioneller Arm von sozialen Bewegungen, hier eine integrierende Rolle spielen kann, bleibt abzuwarten.

Artikel von Johannes Schulten vom 03.05.06

E-Mail-Adresse des Autors: johannesschulten@hotmail.com


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