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Updated: 18.12.2012 15:51
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„Kein Vergeben, kein Vergessen, keine Versöhnung“
Demonstrationen zum Jahrestag des Militärputsches in Argentinien

Von Dario Azzellini, Buenos Aires

Es ist Gründonnerstag, die Osterfeiertage haben begonnen. Am Morgen ist Buenos Aires wie leergefegt. Wo sich sonst Blechlawinen durch die Straßen quälen, fahren nur vereinzelte Taxis verloren über die vier- bis sechsspurigen Avenidas. Doch es ist kein gewöhnlicher Gründonnerstag. Vor 29 Jahren, am 24. März 1976 wurde in Argentinien die verfassungsmäßige Regierung von Isabel Perón durch einen Putsch gestürzt. Angeführt von General Jorge Rafael Videla verschaffte sich das Militär die uneingeschränkte Staatsmacht. Es begann eine brutale Repression gegen alle, die der "Störung der Stabilität" bezichtigt wurden.

Nach Zählungen von Menschenrechtsorganisationen wurden 30.000 Menschen ermordet oder verschwanden – um nie oder lediglich als Leichen wieder aufzutauchen. Viele von ihnen wurden, betäubt und mit Gewichten beschwert, aus Hubschraubern und Flugzeugen über dem Rio De La Plata oder dem Atlantik abgeworfen. Betroffen waren Angehörige linker Parteien, Gewerkschafter, linke Intellektuelle und Studierende, engagierte Christen und Guerilleros. Sie wurden gefoltert und ermordet. Die Militärs verschenkten sogar systematisch die Neugeborenen ihrer Opfer an kinderlose Militärfamilien, um diesen so einen Kinderwunsch zu erfüllen. 1981 löste Roberto Viola Videla im Amt ab. Die Diktatur endete erst 1983.

Doch plötzlich füllen sich am frühen Nachmittag die Straßen. Hunderttausende sollten es heute sein, eine der größten Demonstrationen, welche die Stadt je gesehen hat. Eine Gruppe Transvestiten läuft hinter einem Transparent und Regenbogenfahnen. Gewerkschaften – auch jene der Sexarbeiterinnen, Anarchisten, mindestens ein Dutzend verschiedener kommunistischer und sozialistischer Parteien mit jeder erdenklichen ideologischen Ausrichtung, Arbeitslosengruppen und vor allem ein Meer aus Piquetero- und Stadtteilorganisationen füllen die breiten Straßen. Meist dunklerer Hautfarbe und in abgetragene Kleidung gehüllt, kommen sie aus den Vororten der Metropole am Rio De La Plata. Es sind die Arbeitslosen und Müllsammler, die fliegenden Händler und Handlanger, Tagelöhner und Hungerleider Argentiniens. Sie haben ihren eigenen Sicherheitsdienst: Reihen vermummter Jugendlicher, vereinzelt auch Frauen, mit Eisenstangen und Holzknüppeln bewaffnet. Nur zu gut erinnern sie sich an die vielen Toten, die das brutale Vorgehen der Polizei inmitten der politischen Krise in Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Ende 2001 forderte. Auch ihre Bilder werden hoch gehalten, ebenso wie jede der Opfer der Diktatur.

Die Menschen bewegen sich nahezu gar nicht. Allein die Aufstellung in Blöcken nimmt Stunden in Anspruch und wer laufen will, zieht seitlich an den anderen vorbei. Eigentlich sind es sogar drei Demonstrationen, doch die Masse von Menschen führt dazu, dass alle Straßen im Dreieck zwischen den Treffpunkten und Kundgebungsorten Obelisk, Nationalkongress und Regierungssitz „Casa Rosada“ (Rosa Haus) überquellen. Auch viele Jugendliche sind gekommen, die meisten von ihnen waren wohl nicht einmal geboren, als die Diktatur zu Ende ging.

In den Blöcken der Gewerkschaften und Arbeitslosengruppen sind auffällig viele Migranten aus Bolivien und Peru zu sehen, häufig Opfer rassistischer Behandlung durch die mehrheitlich europäischstämmigen Weißen Argentinier. Sie stellen das unterste Segment im Lohnarbeitssektor: unterbezahlt, ausgebeutet und weitgehend rechtlos.

Auf der Demonstration wird auch die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert, von denen die meisten in Folge von Aktionen gegen Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit im Gefängnis sitzen. Und auch an die Toten aus dem „Cromagnon“ vom 30.12. vergangenen Jahres wird erinnert. 193 Jugendliche verbrannten oder erstickten qualvoll in der anlässlich eines Rockkonzerts völlig überfüllten Unterklassendisko. Sie wurden Opfer kaum existenter Sicherheitsvorkehrungen eines Lokals, das eigentlich schon lange hätte geschlossen werden müssen, sich jedoch aufgrund von Behördenkorruption in ein Massengrab verwandelte.

Zu einer Demonstration riefen die „Madres de la Plaza de Mayo“, der populären, aber wegen ihrer harten Kommentare umstrittenen 78-Jährige Galionsfigur Hebe de Bonafini und 30 weitere Organisationen auf. Sie gehören zu den Sektoren, die einen sehr radikalen Diskurs pflegen, jedoch Präsident Kirchner unterstützen, da sie ihm sein Vorgehen gegen die Militärs und seine in Teilen kontinentale Orientierung zu Gute halten, eine zweite, weitaus größere Demonstration vereinte über 150 Organisationen und Parteien der Linken, die Kirchner dennoch ablehnen und ihm vorwerfen die neoliberale Linie seiner Vorgänger fortzusetzen. Eine Dritte Demonstration wurde hingegen von den Madres de la Plaza de Mayo – „Gründungslinie“ und weiteren Gruppen einberufen. Die Organisation der Mütter hat sich aufgrund von Richtungsstreitigkeiten bereist vor Jahren gespalten.

Entstanden war die Gruppe als sich einige Mütter von Verschwundenen (desaparecidos) zusammenschlossen und begannen vor der „Casa Rosada“, trotz des hohen persönlichen Risikos zu demonstrieren, um Aufklärung über den Verbleib ihrer Kinder zu fordern. Immer wieder von Repression betroffen und von Polizisten bedroht und geschlagen, machten sie weiter. Die „Mütter der Plaza de Mayo“, benannt nach dem Platz vor dem Regierungspalast, wurden zum Symbol des Kampfes gegen die Diktatur und danach gegen das Vergessen. Seit mittlerweile 29 Jahren treffen sich die mutigen Mütter jeden Donnerstag Nachmittag auf dem Platz und demonstrieren. Eine weitere Organisation Namens „Abuelas de la Plaza de Mayo“ („Großmütter der Plaza de Mayo“) versucht hingegen die Schicksale der von Militärs geraubten Kinder aufzuklären.

Zwischen 500 und 750 waren es, die in Gefangenschaft geboren und „verschenkt“ wurden, während ihre Eltern von den Militärs ermordet wurden. Viele wissen bis heute nichts von ihrem Schicksal. Andere wiederum versuchen ihre Geschichte zu rekonstruieren. Just diese Woche konnte wieder eine junge Frau auf juristischem Wege zumindest ihren wirklichen Namen wieder erhalten. Unterstützt werden sie auch von der Gruppe H.I.J.O.S. (Söhne und Töchter), die sich vor zehn Jahren gründete und vor allem Kinder von Verschwundenen und Ermordeten eint. Sie haben am heutigen Tage in verschiedenen Städten des Landes Kundgebungen vor den Häusern von Schergen der Diktatur organisiert und bilden auch einen Block auf der Demonstration. Silvina Atencio gehört dazu, ihr Vater Raúl Atencio verschwand während der Diktatur. Doch die junge Frau hat wieder Mut gefasst. „Wir haben zum ersten Mal einen Präsidenten der in dieser Frage auf unserer Seite steht“ sagt sie über Nestor Kirchner.

Zwei Jahrzehnte lang, so berichtet sie, war es nicht einmal möglich gegen bekannte Verbrecher juristisch vorzugehen. 1985 wurden zwar fünf Militärs der Junta zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, Videla und ein weiterer zu lebenslanger Haft, doch sie mussten sie nie absitzen und in der Folgezeit gab es auch keine weitere Verfolgung der Militärs oder an der Diktatur beteiligten Zivilisten. Zwei 1990 von der "demokratischen" Regierung erlassene Gesetze, „Punto Final" (Endpunkt) und „Obediencia Debida" (Verpflichtender Gehorsam), führten zur Einstellung aller Verfahren und schenkten den Diktatoren und ihren Handlangern die Straflosigkeit. Videla wurde 1998 wegen der illegal zur Adoption frei gegebenen Kinder wieder inhaftiert, aber 1999 wieder frei gelassen. „Jetzt sind zumindest juristische Verfahren gegen die Militärs wegen ihrer Verbrechen möglich“, so Silvina Atencio, 2.600 könnten belangt werden. Silvina will auch versuchen ein Verfahren gegen die Mörder ihres Vaters einzuleiten.

Mit der Machtübernahme des Peronisten Néstor Kirchner im Mai 2003 kam Bewegung in die Frage der Militärs. Auch wenn ihm viele vorwerfen den neoliberalen Kurs vorheriger Regierungen, mit linken Diskursen kaschiert, unter der Hand weiter zu führen, gegenüber den Verbrechen der Militärs scheint er konsequenter zu sein. Etwa sechs Monate nach Amtsübernahme hoben die zwei Kammern des argentinischen Parlaments auf sein Betreiben hin, die beiden Amnestiegesetze für Angehörige der Diktatur auf. Er schickte die komplette Militärführung in Pension, feuerte die Polizeichefs und annullierte ein Dekret von 2001, das Auslieferungen von Ex- Militärs verbot. Im Juli 2003 erließ ein Richter daraufhin Haftbefehl gegen 46 ehemalige Mitglieder der Militärjunta und ordnete ihre Verhaftung an. Unter ihnen befinden sich auch Videla und Massera.

Emilio Eduardo Massera war Chef der berüchtigten Mechanikschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires. Die ESMA diente als Folterzentrum und wichtigstes Gefängnis der Diktatur. An die 4.000 Menschen „verschwanden“ dort. Die Folterstätte wird nun nach und nach in ein „Museum der Erinnerung“ verwandelt. Die letzten beiden in ihr verbliebenen Marineeinrichtungen werden das Gelände im Oktober verlassen. Dies geschieht ebenfalls auf Initiative Kirchners, der die Kaserne im vergangenen Jahr als erster gewählter Präsident seit 1983 besichtigte. Eine Delegation aus 26 Ex-Häftlingen begleitete ihn über das Gelände, ohne jeglichen Empfang oder Begleitung von Militärs, so wie es die ehemaligen Gefangenen gefordert hatten.

Kirchners offizielle Politik findet allerdings selbst im Parlament kaum Unterstützung. Der Versuch, vergangenen Dienstag, das Parlament zu einer Rücknahme, die unter dem als mafiös verrufenen Präsidenten Carlos Menem 1989 und 1990 beschlossenen Straferlasse rückgängig zu machen scheiterte. Der Antrag der Vereinigte Linke-Abgeordneten Patricia Walsh, Tochter des verschwundenen Schriftstellers Rodolfo Walsh, scheiterte, da nur 23 Abgeordnete anwesend waren. Das notwendige Quorum liegt bei 129.

Andere wiederum werfen Kirchner vor auf der symbolischen Ebene verhaftet zu bleiben. Er setze sich nicht dafür ein, die Straferlasse aufzuheben, die Prozesse gegen die Mörder aus der Diktatur kämen nicht voran und Kirchner persönlich habe die spanische Regierung unter José María Aznar darauf gedrängt, nicht die Auslieferung diverser argentinischer Militärs wegen Verbrechen an spanischen Staatsbürgern zu fordern.

Auch die Deutsche Bundesregierung fordert seit dem 4. März 2004 die Auslieferung des Ex-Diktators Videla und zweier weiterer ehemaliger Militärs wegen mehrfachen Mordes an deutschen Bürgern. 95 nachgewiesene deutsche oder deutschstämmige Opfer geben klagenden Nachkommen und anderen die Möglichkeit einige Schergen der Diktatur zumindest in Deutschland vor Gericht zu stellen.

Wirtschaftlich hingegen war der Putsch ganz im Sinne transnationaler Konzerne. Die in den vorherigen Jahrzehnten begonnene Industrialisierung und eigenständige Entwicklung Argentiniens wurde abgebrochen und rückgängig gemacht. Es folgten sogar Werbekampagnen, die dazu aufforderten keine einheimischen Waren zu kaufen. Von der Diktatur profitierten auch deutsche Unternehmen, die wie etwa Mercedes-Benz in ihrem Werk in González Catán mindestens 16 Gewerkschafter von der Militärjunta verhaften und „verschwinden“ ließ. Ein Verfahren vor deutschen Gerichten gegen den Mercedes Benz-Manager Juan Tasselkraut wegen Beihilfe zum Mord wurde allerdings mangels Beweisen eingestellt. Im konkreten Fall sei ein Opfer zwar „verschwunden“, allerdings ließe sich nicht sicher von einer Tötung ausgehen. Streiks wurden nach 1976 von der Diktatur unterbunden, so dass Mercedes Benz bereits 1977 in seinem Geschäftsbericht berichten konnte, das Unternehmen habe einen "Stabilisierungsprozess" erlebt, der "positiv" verlaufen sei.

Die Demonstranten sind sich daher bewusst, dass es sich bei der Diktatur nicht lediglich um eine besonders dunkle Epoche der argentinischen Geschichte handelte, sondern um die gewaltsame Durchsetzung eines Wirtschaftsmodells, das letztlich auch die Verantwortung für die heutige Krise und Armut trägt. Daher lautet auch einer der Aufrufe der Demonstration an die Regierung die enormen Außenschulden Argentiniens nicht zu zahlen. 29 Jahre nach dem Putsch haben mehr Argentinier als jemals zuvor in den vergangenen Jahren auf den Straßen „Kein Vergeben, kein Vergessen, keine Versöhnung“ gefordert.

Eine Frau Anfang 50 mit langen blonden Haaren trägt ein Schild mit einem großen Hochzeitsfoto um den Hals. Obwohl das Bild über 30 Jahre alt sein muss, ist sie in einem modischen und einfachen Hochzeitskleid leicht zu erkennen. Neben ihr steht ihr kaum älterer Ehemann. Beide lächeln vor Glück erfüllt. „Doch wenige Monate nach der Hochzeit, kurz nach dem Putsch, verschwand mein Mann und damit auch mein Lächeln“, erzählt sie mit kräftiger Stimme, auch wenn sie dem Weinen nahe ist. „Seine Mörder laufen aber noch frei herum und Lächeln“, fügt sie hinzu.


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