Jospin als Alternative ? Die "französischen Verhältnisse" heute

Informations- und Diskussionsveranstaltung mit Vertretern der Basisgewerkschaft SUD-Rail am Mittwoch, den 27.10.99 um 19.30 Uhr im Fzh Lister Turm

Im Herbst 1995 erschütterten die Massenstreiks und Demonstrationen gegen den massiven Sozialabbau des "Plan Juppé" nicht nur Frankreich, sondern bewegten ganz Europa. Die Kritik am "Neoliberalismus" der Herrschenden und an der "Globalisierung" war plötzlich in aller Munde und breiter und entschlossener Widerstand wieder denkbar. Auf den damals errungenen Teilerfolg folgte die Bewegung der illegalen Immigranten, der sogenannten "Sans Papiers". Um die Jahreswende 97/98 bestaunte man ein weiteres nicht für möglichgehaltenes Phänomen: die selbstbewußte und radikale Bewegung der Arbeitslosen.

Nicht umsonst war in Deutschland im Kampf gegen die "Spar"- und Umverteilungspolitik der Regierung Kohl seit Anfang 1996 Konsens: Wir müssen von Frankreich lernen !" und "Wir brauchen französische Verhältnisse !" Mit dem Abflauen dieser Kämpfe und Mobilisierungen und der Ausbreitung von Passivität und Resignation sind auch die französischen Verhältnisse hierzulande weitgehend aus dem Bewußtsein verschwunden. Geblieben ist nur der nebulöse Wunsch, doch lieber einen Jospin denn einen Schröder als Regierungschef zu haben. Da verbinden sich dann mit den Namen Jospin und Strauss-Kahn (Wunsch-)Vorstellungen von erfolgreicher Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung, einem Stop der Privatisierungs-, Flexibilisierungs- und Deregulierungspolitik, Umverteilung endlich von oben nach unten, einer Bildungspolitik für die breite Masse etc. Die Realität allerdings sieht anders aus:

Zwar hat die Regierung Jospin (wie fast alle Regierungen vor ihr) viel Geld in staatliche ABM-Programme gesteckt, doch die Arbeitslosenquote verharrt bei 11,8% und wird sich nach OECD-Prognose bestenfalls auf 10,6% Ende 2000 reduzieren. Die Privatisierungen haben - entgegen den Wahlversprechen - ein Rekordausmaß angenommen, die Zahl der Zeitarbeitsverträge explodiert (mittlerweile 1,34 Millionen !), die Großkonzerne mit France Telekom und Michelin an der Spitze bauen, trotz horrender Gewinnsteigerungen, Zehntausende von Stellen ab und Jospin läßt verlauten, in diesem Falle sei er leider machtlos. Gegen die fortgesetzte Vernachlässigung der öffentlichen Schulen und Hochschulen zugunsten einer Förderung der privaten und Elite-Institute protestieren wie jedes Jahr Zehntausende von Schülern, die Arbeitslosen fristen nach der einmaligen Weihnachtsgeldzahlung wieder ihr Dasein am Existenzminimum, Arbeitgeberpräsident Seillière lobt Strauss-Kahn für seine restriktive Haushaltspolitik und nennt ihn einen "sehr guten Finanzminister" (NZZ 8.7.99) und der Chef der CGT-Textilarbeitergewerkschaft Christian Laroze erklärt zynisch: "Die öffentlichen Angestellten werden mit den 35 Stunden bald die schonungslose Flexibilisierung zu spüren bekommen, wie wir sie in der Industrie schon seit 10 Jahren ertragen. Während sie den Ausbau ihrer Karrieren und ihrer Lohnzuwächse verwalteten, ertrugen wir massiven Personalabbau und Verlagerungen. Heute hoffen sie, die 35 Stunden-Woche ohne Lohnverlust und Flexibilisierung zu überstehen. Träumt mal schön weiter!" (Le Monde 6.2.99)

Diesen Tatsachen entsprechend hält sich die Begeisterung der französischen Wähler für die Politik von Jospins und Strauss-Kahns "Parti socialiste" (PS) in überschaubaren Grenzen. Auch wenn Erdrutsche ausblieben, konnte sich der PS mit einem Verlust von 4,6% bei der Europawahl Mitte Juni nicht gerade zu den Siegern zählen. Die Wahlbeteiligung war mit 47% fast genauso niedrig wie in Deutschland (45%). Dafür ließ in Frankreich der Wahlerfolg der revolutionären Linken aufhorchen, denn die beiden verbündeten trotzkistischen Organisationen Lutte Ouvrière und Ligue Communiste Révolutionnaire bestätigten ihre guten Ergebnisse seit 1995. Sie erhielten für ein radikal antikapitalistisches Programm knapp 1 Million Stimmen (landesweit 5,2%) und zogen mit fünf Abgeordneten erstmals ins Europaparlament ein.

Die als Reaktion darauf von Jospin Ende September verkündeten, überaus verschwommenen Maßnahmen gegen "Auswüchse des Liberalismus" kommentiert die Süddeutsche Zeitung trocken mit den Worten: "Die nun von Jospin in Paris angekündigten Maßnahmen klingen zwar auf den ersten Blick drastisch, dienen aber vor allem dazu, Kritiker an der Regierungspolitik ruhigzustellen." (SZ 29.9.99) und sind "in Wahrheit eher Kosmetik" (SZ 5.10.99). Die momentane Stabilität und seine hohen Sympathiewerte verdankt Jospin Faktoren, für die er nichts kann und deren glücklicher Nutznießer er ist: Mit dem Ende der Hochzinspolitik, die eine Folge der Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung war, ist gerade in Frankreich die Binnennachfrage von ihren Fesseln befreit worden, was in den letzten zwei Jahren zu einem Wirtschaftswachstum von jährlich 34% führte, den Arbeitsmarkt entlastet und die Konsumenten vorübergehend zufriedengestellt hat.

Doch es scheint, daß dieser Effekt nicht mehr ausreicht und "dem Land möglicherweise ein heißer Herbst sozialer Konflikte bevorsteht wie seit langem nicht mehr" (SZ 5.10.99). Vom Streik der Pariser Drucker und Journalisten gegen Umstrukturierungen und Teilprivatisierungen Anfang Oktober, über die Massenkundgebung der französischen Kapitalisten gegen das 35 Stunden-Wochen-Gesetz, die drohende Streikwelle der Beschäftigten von Elektrizitätswirtschaft, Post und Telekom gegen Stellenabbau und Liberalisierung, die seit Wochen andauernden Schülerdemonstrationen, die Großdemonstration von KP, LO und LCR am 16.Oktober, bis hin zu neuen Aktionen der Landwirte zeigt das, "wie fragil der soziale Friede in Frankreich nach wie vor ist und daß jederzeit Explosionen möglich sind" (SZ 5.10.99).

Die drei großen Gewerkschaftsbünde CGT, CFDT und FO geben dieser nach wie vor weit verbreiteten sozialen Unzufriedenheit allerdings nur selten Ausdruck. Die in den 70er Jahren linkssozialistische, für ihre Bewegungsorientierung und ihre innerorganisatorische Demokratie berühmte CFDT bewegt sich heute auf dem Niveau der IG Chemie. Sie agitierte 1995 gegen die Herbststreiks und kritisiert die Regierung Jospin heute in der Regel von rechts. Die Force Ouvrière (F0) ist inhaltlich völlig substanzlos und praktisch auf die partikularistische Interessenvertretung der Kernbelegschaften beschränkt, die sie oftmals direkt gegen die prekär Beschäftigten und Arbeitslosen wendet. Die CGT schließlich bemüht sich um eine Annäherung an die CFDT und hat auf ihrem 46.Kongreß Anfang Februar 99 ihre neue Linie eines "Angebotssyndikalismus" (im Sinne von: das Kapital nicht bekämpfen, sondern ihm "Angebote" unterbreiten) bestätigt und versucht, sofern es die Verhältnisse zulassen, dies auch in die Praxis umzusetzen.

Allerdings haben sich in CGT und CFDT in den letzten Jahren zunehmend organisierte linke Strömungen gegen diesen Kurs gebildet bzw. sich als unabhängige und sehr aktive Basisgewerkschaften abgespalten. So erreichte auf dem letzten CFDT-Kongreß im Dezember 98 die linke Strömung "Tous ensemble !" (Alle zusammen !) trotz bürokratischer Repression 27% der Stimmen. Die wohl interessanteste neue Erfahrung der französischen Gewerkschaftslinken stellt aber sicherlich die 1989 von aus der CFDT ausgeschlossenen und ausgetretenen Linken gegründete SUD (Solidarität, Einheit, Demokratie) dar, deren Name gleichzeitig Programm ist. Ihre Mitgliederzahl ist mit 30 000 wie die aller französischen Gewerkschaftsbünde eher gering (der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt liegt in Frankreich nur bei 9%, in der Privatwirtschaft sogar nur bei 4% !). In ihren Hochburgen Post, Telekom, Eisenbahn, Bildungs- und Gesundheitswesen vertritt sie allerdings in den Personalvertretungen große Teile der Beschäftigten. Außerdem fungiert sie als Scharnier zwischen der Arbeiter-, der Arbeitslosen- und anderen sozialen Bewegungen. So wäre ohne ihre massive materielle und politische Hilfe eine der beiden führenden Arbeitslosenorganisationen, die AC! (Gemeinsam handeln gegen die Arbeitslosigkeit !) gar nicht existenzfähig.

Gewerkschaftsforum Hannover

Diese Veranstaltung wird gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt in Berlin.

Der virtuelle Treffpunkt der Gewerkschafts- und Betriebslinken: LabourNet http://www.Iabournet.de

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