Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
Augen auf und willkommen im Jahr 2008. Die Sonne scheint, Fenster werden geputzt, Betten gelüftet, Keller ausräumen, Leichen rausholen, Geschichtsstall ausmisten. Höchste Zeit fürs Großreinemachen im deutschen Haus. Zeit für uns zu sagen: »Hello Darkness, my old friend, I’ve come to talk with you again...« Der Historiker Götz Aly, Verfasser der (immer noch und trotz alledem) verdienstvollen Studie »Vordenker der Vernichtung« und Ex-Maoist, hat den Aufschlag gemacht und mit sich selbst begonnen. Das allerdings gibt er als Wahrheit über »die 68er« aus, deren Vorgänger (!) »die 33er« gewesen seien: »Ähnlich wie später Dutschke forderte Goebbels sein akademisches Publikum zur Bildung revolutionärer Bewusstseinsgruppen auf, zur Agitation in der Aktion: ›Einer muss anfangen! Stürzen Sie die alten Altäre um! Rotten Sie den alten Menschen in Ihrem Hirn und Herzen aus! Nehmen Sie die Axt in die Hand und zertrümmern Sie die Lüge einer alten falschen Welt! Machen Sie Revolution in sich! Das Ende wird der neue Mensch sein!‹«
Ikonisierung und Autoritarismus – auf diese Folie lässt sich vieles projizieren, lässt sich auch alle Geschichte reduzieren, um sich – quid pro quo – von ihr zu distanzieren: »Umgekehrt findet sich kein Grund zum Stolz auf 68. (...) Chinesisch, kubanisch, sowjetisch oder trotzkistisch verfremdet veranstalteten sie nach den in Deutschland gebräuchlichen Regievorlagen eine Farce, die der Tragödie von 1933 folgte.« (FR, 29. Januar 2008) Soweit Götz Aly, der damit (immer noch) näher an seinem elitären Gesellschaftsverständnis argumentiert, als ihm selbst klar sein dürfte – doch wer weiß.
Nun werden wir uns nicht am derzeit zweitbeliebtesten Boykott, nämlich dem der Frankfurter Rundschau, beteiligen, nur weil von der linksliberalen Tante im ›Jahr 40 nach‹ weitere effekthascherische Skandalnudeleien zu erwarten sind. Verlegenheitsproduktionen, Resultat der ›qualitätssteigernden‹ Prekarisierung, die auch vor dem Redaktionsgewerbe nicht halt macht und bedauerlicher Ausdruck dessen, dass gestreamlinete Freelancer und Lean-Redakteure alles andere tun müssen, nur nicht mehr lesen. Statt dessen lassen wir Kollegen von Daimler zu Wort kommen, die ihr Fragezeichen hinter den Nokia-Boykott machen – denn wen wollen die aufgebrachten Politökonomen eigentlich boykottieren? Außerdem werfen wir ein, zwei, drei, ganz viele Blicke auf den Rumor derjenigen, die bei Aly und anderen ehemaligen Arbeiterbeglückern und Avantgardisten notorisch nur als Objekt oder Mittel in Erscheinung traten und treten: die französischen Eisenbahner, für die Mai 68 kein singuläres Ereignis ist; das Rollback in die »Steinzeit-Montage«, das Automobilbeschäftigten unter dem Prädikat modernster Managementmethoden aufgedrückt werden soll, die Organizing-Strategen bei der CAW, die für eine Handvoll Mitglieder mehr ihr Streikrecht an den Zulieferer Magna verkauft haben – und die »Strategen« der IGM, die mit Niedriglöhnen Niedriglöhner sicher zu machen glaubten.
Zu aller erst aber werfen wir mit Peter Birke einen Blick zurück auf eine andere Seite der Geschichte von 68: »Man könnte meinen, dass die ›1968er‹ zumindest in der Bundesrepublik so gut ›beforscht‹ sind, dass es irgendwo mal ein Projekt mit Namen ›1968 in der Fabrik‹ gegeben haben müsste. Tatsächlich werden nicht nur die Verweigerung der Arbeit und die Proteste der ArbeiterInnen, sondern das Thema ›Arbeit‹ überhaupt in der Debatte um ›1968‹ fast nie berührt. Selbst die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, die das Leben der sagenhaften ›Akteure‹ des Aufstand bestimmt haben müssen, kommen so gut wie nicht vor. Wilde Streiks? Ebenfalls ein ›blinder Fleck‹ in der aktuellen Forschung.« Während wir in dieser Ausgabe mit dem aufschlussreichen Ergebnis der schwierigen Beziehungsgeschichte zwischen Gewerkschaften und Protestbewegung beginnen, werden wir im nächsten express Auszüge zur langen Vorgeschichte von 1968 aus dem unten genannten Buch dokumentieren. Denn: 1968 fing nicht 1968 an, die Entfremdung zwischen Gewerkschaften und ihrer Basis war auch damals schon Thema, die Arbeiterbewegung galt auch damals in weiten Teilen der Linken als »integriert« – und trotzdem war nicht alles golden im nämlichen Kapitalismus.