letzte Änderung am 18. Dez. 2002

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Grau ist der Tiger oder schon weise(r)

Einleitungsbeitrag zum Geburtstag

Kirsten Huckenbeck

Der express feiert sein 40-jähriges Bestehen und dürfte damit zu den »dienstältesten« Zeitschriftenprojekten im etwas lichter gewordenen linken Blätterwald gehören. Viele derjenigen, die den express im Laufe dieser vielen Jahre gemacht und begleitet haben, haben – ob mit, ohne oder wegen des express – graue Haare bekommen, manches graue Haar beschert er auch uns heute, spätestens bei jedem »Umbruch«. Dass er selbst – abgesehen vom Papier – beim Altwerden nicht nur grau geworden ist, dafür haben die Zeitläufte und seine eigene wechselvolle Geschichte gesorgt, zu der auch viele von Euch beigetragen habt.

Uns, die wir den express heute »machen«, interessiert vor allem, wie andere dieses Projekt sahen und heute sehen, denn bei allem Wechsel: Beliebiges lässt sich mit diesem Untertitel (»Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit«) nicht anstellen: Es ist und bleibt vorerst ein etwas »altertümliches« Unterfangen, wie es ein langjähriger express-Redakteur einmal Ende der 80er Jahre seinerseits in einem Rückblick bezeichnete.

Dabei ist klar, dass der programmatische Anspruch, der in diesem Untertitel zum Ausdruck kommt, nie unumstritten war; er stand in der Geschichte des express auch für Unterschiedliches, erwies sich wahlweise als zu klein oder zu groß, zu eng oder zu weit für den Inhalt der Zeitung, galt immer mal wieder als obsolet, stand zur Disposition, bildete dann doch eine gemeinsame Klammer und markiert nach wie vor eine Differenz zu vielen anderen Publikationen im linken Spektrum. Die Bewegung von der intendierten Abschaffung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse zur Abschaffung des Untertitels jedenfalls haben andere Zeitschriftenprojekte schneller und besser hinbekommen.

Wie die Schildkröte im Wettrennen mit Achill denken wir allerdings, dass es letztlich doch auf die Frage der subjektiven Zeit-Erfahrung ankommt, die darüber entscheidet, wer denn nun schneller am Ziel, also auf der Höhe der Zeit ist. Dass es so etwas wie eine objektive, linear verlaufende Zeit, die unabhängig von Bewusstsein und Erfahrung wäre, nicht gibt, macht die Sache so menschlich – und daher kompliziert. Es garantiert aber, dass der Ausgang der Geschichte offen und diese eben weder festgelegt noch abgeschlossen ist.

 

Statt programmatischer Verlautbarungen daher ein kurzer Blick zurück nach vorn:

Gegründet 1962 als express international und herausgegeben von der mehr oder weniger trotzkistisch orientierten »Gesellschaft für Forschung und Internationale Kooperation auf dem Gebiet der Publizistik e.V.« (GfP) nahm der express zunächst über ein Jahrzehnt hin die Aufgabe ernst, die programmatisch in seinem damaligen Titel zum Ausdruck kam: Der publizistische Blick über den deutschen Tellerrand auf internationale Entwicklungen und Auseinandersetzungen und umgekehrt: der Blick auf die »weit zurück gebliebenen deutschen Verhältnisse« unter der Perspektive einer »internationalen sozialistischen Diskussion« (Nr. 150, 1972). Kolonialismus, Befreiungsbewegungen, zwischen- und innerstaatliche Gewalt – zuletzt die Auseinandersetzung um Notstandsgesetze und die beginnende Streikwelle Ende der 60er Jahre waren zentrale Themen dieser Zeit.

Ab 1970 gab das Sozialistische Büro die Sozialistische Betriebs-Korrespondenz heraus, die Ende 1972, auf dem Höhepunkt der europaweiten »spontanen« Streikbewegungen und eines weltweiten gesellschaftlichen »Gärungs- und Veränderungsprozesses« (Eberhard Schmidt), mit dem express international zum express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit fusionierte. Die neue Zeitung sollte mehr als nur ein Diskussionsforum bieten, sie sollte zu einem Organ werden, »das in die politischen und gewerkschaftlichen Tageskämpfe intervenierte« und zugleich »der Basis eine Stimme« gab, »Gegenöffentlichkeit« praktizierte. Sie war in der Tat die erste »unabhängige Gewerkschaftszeitung in der BRD«, d.h. unabhängig von den Gewerkschaften und der Regierung. Was stand damals auf der Tagesordnung, und wie wollte sie diesen Anspruch einlösen?

Da war zunächst die kritische Auseinandersetzung mit der »Revolutionären Gewerkschaftsopposition«: Bei aller praktischen Unterstützung oppositioneller Betriebsgruppen bei Gewerkschaftsausschlüssen (u.a. durch den 1973 geschaffenen Arbeiter-Solidaritätsfonds) ging es hier um eine Kritik an der Vorstellung der kommunistischen bzw. studentischen Gruppen aus der 68er Bewegung, man könne gewissermaßen »von aussen den Kämpfen der Arbeiter eine revolutionäre Stoßrichtung geben«, so als ob da bloß ein völlig unentwickeltes Bewusstsein der ArbeiterInnen vorfindlich wäre, das von seiner Fehlleitung durch die »Gewerkschaftsführungen« befreit werden müsse, indem man ihm nun die »richtigen Leitplanken« vorgibt. Letzteres im Übrigen eine Formulierung, die man auch heute in den Gewerkschaften selbst immer wieder mal vernimmt, wenn die ›Hammelhorde‹ wieder einmal nicht in die Richtung geht, die die politische Führung vorgesehen hat. Das Bild von der »Herde ohne Hirte« erweist sich hier als erstaunlich stabil, jenseits sonstiger politischer Konjunkturen.

Diese Hirtenaufgabe werde, so die Kritik weiter, zudem auf eine bloße Machtfrage zwischen Organisationen reduziert: die richtige politische Organisation gegen die Gewerkschaften als Apparat der »Arbeiterverräter und Bonzen«. Auch dies eine nach wie vor aktuelle Vorstellung, die man nach jeder normalen Tarifrunde mit entsprechend angepassten Abschlüssen in den letzten Jahren hören konnte: »Basis gegen Funktionäre«. Damit werde aber, so die Kritik an der RGO weiter, der Umstand, dass es zunächst einmal die Gewerkschaften seien, in denen die ArbeiterInnen sich bewegten, und dass es auf deren eigene Erfahrungen im Umgang mit diesen ankomme, schlicht ignoriert. Die ArbeiterInnen kämen so nie auf die Idee und in die Lage, dass der »Apparat« auch ihre eigene Bewegungs-Form bzw. Organisation sein könne.

Im express setzte man sich stattdessen für die Stärkung der gewerkschaftlichen Vertrauensleutearbeit ein gegenüber den durch Friedenspflicht, d.h. Streikverbot, und Verpflichtung zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber geknebelten Betriebsräten einerseits und als Möglichkeit einer gewerkschaftlichen Öffentlichkeit und Debatte im Betrieb andererseits. Das war nun wieder den Gewerkschaften ein Dorn im Auge: Eugen Loderer als Vorsitzender der IGM und sein Kollege Lutz Dieckerhoff bezichtigten den express deshalb der Gewerkschaftsfeindlichkeit und verwiesen auf die »Schlüsselstellung der Betriebsräte, abgesichert durch eine – nicht zuletzt durch uns – ertrotzte Betriebsverfassung«, die zu »fördern und in gewerkschaftliches Kapital« umzusetzen sei. Vergessen, dass der Tag der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes in der neuen BRD vom DGB als »schwarzer Tag« in deren Geschichte bezeichnet worden war.

Heute jedenfalls ist selbst das mit dem »gewerkschaftlichen Kapital« vergessen – vielleicht nicht zu Unrecht nach den Erfahrungen mit Coop und gewerkschaftseigener Bank – und es geht um die friedlich-schiedliche Verwaltung von betrieblichen und tariflichen Rentenfonds, also um die Teilhabe an der Verwaltung des Kapitals des Kapitals für das Kapital. Vertrauensleutearbeit gibt es dagegen in immer weniger Betrieben.

Weitere Punkte, die damals auf der Tagesordnung standen, waren die Loslösung von einer »stabilitätskonformen Tarifpolitik« und die Entwicklung einer »betriebsnahen Tarifpolitik«.

Dabei ging es um die »Überwindung einer Lohnpolitik nach kapitalistischen Spielregeln«, nämlich die Frage, ob sich gewerkschaftliche Tarifforderungen an den seit Anfang der 70er Jahre wieder sinkenden Produktivitätsspielräumen orientieren sollten oder sich von den Forderungen von Regierung und Arbeitgebern unabhängig machen könnten. Die Begründungen dafür, warum es richtig war, dass die Beschäftigten sich – zumindest in der Frage der Entlohnung – eine Zeitlang mit Erfolg von Regierung, Gewerkschaften und Kapital unabhängig gemacht haben, wie mit der nachfolgenden Inflation und dem Argument der Gefährdung der Exportfähigkeit der BRD umzugehen sei, sind heute, nach Jahrzehnten der Appelle an Wettbewerbsfähigkeit, Standortlogik, Reallohnsenkungen und diversen Bündnissen für Arbeit erst Recht lesenswert. Und die Haustarife als Antwort auf die Frage, wie man den enormen Lohnspreizungen zwischen den Betrieben und zwischen tariflich geregelten Grundentgelten und einem hohen Anteil »freiwilliger« unternehmerischer Leistungen begegnet, verdienen angesichts der aktuellen Tendenzen zur Aufweichung betriebsübergreifender, streikfähiger Lohnregelungen ebenfalls der Vergessenheit entrissen zu werden.

Dem express ging es jedoch nicht um das, was – oft etwas diffamierend auch im express – mit »Betriebssyndikalismus« beschrieben wurde, sondern um den Zusammenhang betrieblicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, deren Ausdruck eine anhaltende Welle der Repression gegenüber einer Opposition war, die die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt – und zwar zeitweise mit einer gewissen Militanz – in Frage stellte. Den Berufsverboten entsprachen dabei die auf den Unvereinbarkeitsbeschlüssen beruhenden unzähligen Gewerkschaftsausschlussverfahren, die zum Teil bis heute nicht aufgehoben sind und ebenso wie Notstandsgesetze, 129a, Aufhebung der Reisefreiheit etc. bei gegebenem Anlass wiederbelebt werden – siehe Genua und Florenz. Während diese Auseinandersetzung mit sich zuspitzenden repressiven gesellschaftlichen Entwicklungen dann im »Anti-Repressionskongress« des SB 1976 mündete, kann die IGM es sich heute ungeniert leisten, Ausschlussanträge gegen 17 Metaller bei DaimlerChrysler in Kassel und fünf in Stuttgart zu stellen – weil sie das demokratische Recht eigener Listen bei den diesjährigen Betriebsratswahlen in Anspruch genommen haben: Die Einheit der Organisation muss umso hartnäckiger herausgestrichen werden, je mehr die Organisation im Schwinden begriffen ist. Diesen Mitgliederschwund jedenfalls leistet man sich, während man die Hundertschaften an Austritten monatlich trotz massierten Einsatzes von Produkten der Werbemittel- und Versicherungsbranche und »Drückerprämien« vergeblich aufzuhalten versucht. Heute allerdings könnte man durchaus fragen, ob nicht die Gewerkschaft eher auf aktive KollegInnen als diese auf die Gewerkschaft angewiesen sind. Doch dazu später in der Diskussion mehr und weiter in der Chronologie.

Herausgeber des express waren dann bis April 1975 die GfP und das SB, ab Mai 1975 nur noch das SB. Als mit der Einstellung der Zeitschrift »links« im Januar 1997 auch der Verlag 2000, der »legale geschäftliche Arm« des SB, aufgegeben werden musste, übernahm die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der politischen Bildung e.V. (AFP) die Herausgabe des express. Er ist damit, neben den »Widersprüche(n) – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich« bis heute eines der beiden verbliebenen politischen Projekte des SB.

Beide Zeitschriften sind ohne den »Arbeitsfeldansatz« des SB und das diesem zugrunde liegende Emanzipationsverständnis nicht vorstellbar. Die in Abgrenzung gegenüber einem Organisationsverständnis, wie es vor allem in der Sozialdemokratie wie auch in den K-Gruppen gesehen wurde, formulierte Losung »Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren« von Oskar Negt wirkte hier stichwortgebend – und war für einen Großteil der SBler die paradigmatische Abgrenzungsformel: Sie meinte die Absage an Avantgarde-Konzepte, an die Trennung von ökonomischem und politischem Kampf, Gewerkschaft und Partei, und beruhte damit auf der Einsicht, dass es unmöglich sei, so Negt 1972[1], »die Loyalitätsbindungen der erdrükkenden Masse der Arbeiter an die Gewerkschaften und an die Sozialdemokratische Partei durch eine Propaganda der Tat, durch Überredung oder durch Überzeugung von den besseren Alternativen aufzulösen«.. Der – von den politischen Organisationen unterstellte – »ganze Mensch, dessen Eigenschaften, Fähigkeiten, Interessen, Bedürfnisse durch den kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozess zerrissen« seien, stehe »am Ende eines revolutionären Umwälzungsprozesses, nicht am Anfang.«

Entsprechend könne »Verbindlichkeit ... heute nur noch in inhaltlicher Arbeit bestehen, in der Durchführung von Projekten, die dem einzelnen am Ort seiner Berufstätigkeit bereits in dieser Gesellschaft die Perspektiven einer neuen sichtbar machen« – das war der Grundstein des Arbeitsfeldansatzes und die Formel für das, was eine Zeitlang auch als Untertitel des express zumindest in den Zeitungs-Anzeigen stand: »Zeitung der undogmatischen Gewerkschaftslinken«.

Allerdings: Sowohl mit dem Arbeitsfeldansatz als auch mit dem Slogan »undogmatisch« waren gewisse Schwierigkeiten verbunden. Denn wer soll wie die Perspektiven einer neuen Gesellschaft sichtbar machen? So anti-autoritär und undogmatisch gestaltete sich dann die ›Organisation der Selbstorganisation‹ auch im SB nicht, wenn Negt einerseits gegen das Prinzip »Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder« schreibt, dass niemand »im Besitz einer entwickelten Theorie« sei, für die man lediglich noch die organisatorisch wirksamen Anwendungsbedingungen ausfindig machen« müsse, die Kollegen Andreas Buro und Klaus Vack dann aber im gleichen Zusammenhang meinen: »Es ist Sache der Sozialisten..., die Erfahrungen kollektiver Aktion zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen (in den Berufsfeldern, Anm. KH) ... mit sozialistischen Alternativen und Kampfstrategien zu vermitteln« (ebd.) Woher kennen sie die? Was sind die Voraussetzungen dieses »Vermittlungsprozesses«? Und was heißt es, wenn Negt schreibt, dass »Spontaneität in dem von mir bezeichneten Sinne« die »Richtung einer Argumentation« bezeichnet, in der die Diskussion von »Organisationsproblemen, die allzu leicht an den großen Zusammenhängen der kapitalistischen Krisen festgemacht werden, nach unten, zu den geschichtlich-elementaren Bedürfnissen und Erfahrungsweisen der Massen erweitert ... werden soll«? Wer steht hier oben und warum? Wie verträgt sich das mit der Einsicht, dass das Subjekt der Befreiung nur das zu befreiende Subjekt selbst sein kann? Und wie passt Negts Hinweis auf den Stück-Werk-Menschen, der erst sukzessive zum »ganzen Menschen« werde, zu Marx’ Aussage, dass es die Entfremdung des »Menschen« von den unmenschlichen, aber selbst produzierten Produktionsbedingungen sei, die es aufzuheben gelte?

Ich denke, dass hier bis heute ein zentrales und offenes Problem einer Linken – sei es innerhalb oder ausserhalb der Gewerkschaften und Betriebe – begraben liegt, die an dem Zusammenhang von Emanzipation und Arbeiterbewegung festhält.

Wenngleich Bürokratisierungstendenzen und Verberuflichung dieses Ansatzes im SB in der Folge unübersehbar sind, blieb die Idee »proletarischer (Gegen-)Öffentlichkeit« wichtiger Bezugspunkt. Aus dem Arbeitszusammenhang des ehemaligen »Arbeitsfeld Betrieb und Gewerkschaft« heraus entstanden eine Vielzahl von Tagungen und Publikationen – Broschüren zur Vertrauensleutearbeit, zu Ausländerstreiks in der BRD, zu den Möglichkeiten und Grenzen der Lohnpolitik, zum Zusammenhang von Rationalisierung, neuen Technologien, Arbeitslosigkeit und Arbeitsverdichtung, die »Info 35«-Reihe zur 35-Stundenwoche, später dann die Kampagne »lebendige Arbeit, freie Zeit« u.v.m. Deren gemeinsamer roter Faden lag in einer besonderen Aufmerksamkeit gegenüber den Konflikten an der Basis der gesellschaftlichen Arbeitsbeziehungen und der gewerkschaftlichen Arbeit und im Versuch aus diesen Auseinandersetzungen, den Widersprüchen gemeinsam zu lernen, statt diesen eine Richtung vorzugeben oder sie einfach unkritisch zu bestätigen. Dies ist ein, teils erfreulicher, teils schmerzvoller, Prozess sozialer Erfahrung, der – bis heute – quer zu den üblichen Kategorien und gesellschaftlichen Funktionsbezeichnungen von »Intellektuellen«, »Gewerkschaftsapparat«, »Betriebsräten«, »einfachen Mitgliedern« etc. verläuft.

Wie wichtig und wie unabgeschlossen die Entwicklung hin zu einer für solche Fragen offenen, unabhängigen Positionierung gegenüber Regierung und jenem Teil der eigenen Organisationen ist, der den seit Gründungszeiten des neuen express wesentlich heftiger gewordenen ökonomischen Krisen mit einer »stabilitätskonformen Lohnpolitik« (wie es damals hieß) begegnen möchte, zeigt die erstmals seit über einem Jahrzehnt wieder in breiterem Umfang hörbare Positionierung in der Tarifrunde 2002: »Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze«. Ohne die betriebsübergreifende Zusammenarbeit und wechselseitige Unterstützung im Rahmen der »Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken«, die der express seit ihrer Gründung vor fünf Jahren mitträgt, und der »Autokoordination« wäre diese Entwicklung so nicht eingetreten. Allerdings gilt auch heute noch, was die KollegInnen der damals frisch fusionierten express-Redaktion schrieben: »Auf Dauer jedoch bleibt der Kampf um Prozente ohne Perspektive« (Nr. 0, 1972). Gespaltene Ökonomie, gespaltene Belegschaften, erste Erfahrungen mit dem Scheitern der New Economy, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Entlohnungssystemen, »Entgrenzung« der Arbeit und die Debatte um Autonomie in der Arbeit, die immer begrenzteren Möglichkeiten einer auf den nationalen Rahmen beschränkten Interessenvertretung, der massive Angriff auf die in sozialen Rechten kodifizierten Reproduktionsgrundlagen, auf Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, aktivierender Staat, Prekarisierung und fortgesetzte Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die Notwendigkeit neuer Formen von Arbeitskämpfen – all das sind Themen, die über unmittelbare Lohnfragen hinaus gehen und in denen die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven, schon gar solcher, die dem anspruchsvollen Untertitel des express gerecht würden, eher am Anfang steht.

Bei all dem scheint uns derzeit jedoch nur eines sicher: Ohne Häme lässt sich feststellen, dass die so genannte »soziale Frage« – schon immer eine sozialdemokratische Verharmlosung ersten Ranges und schon vielfach verabschiedet – mitnichten überwunden, sondern in unübersehbarer Gewalt präsent ist. Nicht um deren fortgesetzte Verwaltung, sondern um ihre Aufhebung müsste es immer noch gehen. Und das heißt: um den »kategorischen Imperativ« des Begreifens und Veränderns aller Verhältnisse, in denen der Mensch bei allem Schein der Freiheit und Gleichheit »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Nach wie vor geht es also darum, die Entfremdung des Menschen von seinen eigenen Produktions- und Lebensbedingungen in ihrer vielgestaltigen Form zu begreifen, zu kritisieren und aufzuheben.

Schwieriger denn je scheint es allerdings heute, »bereits in dieser Gesellschaft die Perspektiven einer neuen sichtbar zu machen«. Und zwar nicht, weil alles »unübersichtlicher«, »ausdifferenzierter«, »komplexer« und »pluralistischer« geworden wäre, weil es Wahrheit sowieso nicht mehr gäbe, sondern die Welt nur noch aus einer Vielzahl von Diskursen und Perspektiven bestehe (als ob dies etwas Neues sei), sondern weil der Eindruck einer weitgehenden Durchdringung und Unterwerfung aller gesellschaftlichen Bereiche unter kapitalistische Verwertungsformen selten so sehr die Rede von der »Totalität« eines Vergesellschaftungszusammenhangs gerechtfertigt hat wie heute.

Und weil zugleich die empirischen Erfahrungen, an die angeknüpft werden könnte, auf die sich bezogen werden könnte, in vielfältiger Weise dem Skrupel, Misstrauen und der Kritik ausgesetzt sind.

Was wir also mit den alten Konzepten der proletarischen Gegenöffentlichkeit, des Internationalismus, der Solidarität der Arbeiterbewegung noch anfangen können, was überhaupt aus den Traditionen des express zu retten, was brauchbar, obsolet oder falsch ist – darüber würden wir gerne mit Euch diskutieren.

Bevor wir in diese Debatte einsteigen, kann vielleicht eine Kartierung der gewerkschaftlichen und der linken Publikationslandschaft hilfreich sein, um zu zeigen, zwischen welchen Stühlen man sitzt, wenn man sich heute noch auf Gewerkschaften, Arbeiterbewegung, Produktionsbedingungen und weitere Details der bisherigen »Vorgeschichte« der Menschheit bezieht. Interessant ist dabei allerdings vor allem, wer sich mit wem ein Sofa teilt in der Einschätzung der Alternativ- und Ausweglosigkeit der Geschichte:

Hören wir die Vertreter des ISF (Initiative sozialistisches Forum), tonangebend für die deutsche Bewegung der »Anti-Deutschen« und zugleich attraktiv für viele junge Leute, die sich angesichts der nationalen Interessengemeinschaft von Gewerkschaften und Kapital zu Recht etwas unwohl fühlen.[2]

»Der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital ist, wenn nicht getilgt, so doch in den Motor der Akkumulation verwandelt. (...) Im Ergebnis der Selbstaufhebung des Kapitals hat sich das Paradox der klassenlosen Klassengesellschaft etabliert. (...) ihre Organisationsform (ist) die in einem klassenübergreifende wie klassennegierende Volksgemeinschaft.« Das Proletariat lasse sich als revolutionäres Subjekt nur falsifizieren.[3] Marx und Engels hätten »nie die auf der Hand liegende Konsequenz (gezogen), es könne auch die lebendige Arbeit unwiderruflich in die kapitalimmanente Funktion des ›variablen Kapitals‹« gebannt werden«[4].

Hier ist es »das Kapital«, was jene unglaublichen Fähigkeiten und Mächte entwickelt, die schließlich zur Aufhebung der Geschichte führen. Aufklärung ist passé, weil das Kapital irrational und daher nicht verstehbar sei, jede Behauptung des Gegenteils sei nur Ausdruck umso tieferer Verstricktheit in dessen Blendwerk. Doch wer kann hier überhaupt noch irgendetwas erkennen?

Was sprechen dagegen die Vertreter der »Erlanger Schule« (üblicherweise im ärgsten Clinch mit der Freiburger Schule liegend), also der »Krisis-Gruppe« um Robert Kurz, dessen »Kollaps der Moderne« eine Zeitlang auch am Frankfurter Institut für Sozialforschung gerne gelesen wurde, der jedoch vor allem für den Teil der gewerkschaftlichen Linken, der sich mit der Kritik des Arbeitsfetischismus beschäftigt, eine wichtige Rolle spielt?

»Im auf sich selbst rückgekoppelten Verwertungsprozess spannt das Wertsubjekt die ungleichnamigen Qualitäten auf das Prokrustesbett der Wertabstraktion. Alles und jedes, von der gröbsten Materie bis zu seelischen Regungen, verfällt ... dem einen und einzigen Merkmal dieser Realabstraktion.«[5]

Welches übermächtige Subjekt geht hier als »Realabstraktion« zu Werke? Ist es bei den Freiburgern das Kapital, das als automatisches Subjekt auftritt, so erfüllt bei den Erlangern die auf »abstrakter Arbeit« beruhende »Wertvergesellschaftung« diese Funktion. Aufklärung darüber sei unmöglich, weil der Arbeiterbewegungsmarxismus ebenso wie die bürgerliche Theorie mit all ihren Fortschritts-, Aufklärungs- und Freiheitsvorstellungen auf der Ontologie der Arbeit beruhe. Folge: Ohne Abschaffung der »Arbeit« kein anderes Denken möglich. Auch hier stellt sich die Frage: Wer denkt hier überhaupt noch? Eine auserwählte Schar Erleuchteter?

Hören wir nun diejenigen, die sich mit dem Gedanken, dass »die Arbeit« zwar nicht abgeschafft wird (wie auch? eine schwer vorstellbare Vorstellung), aber eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung derzeit alles andere als realistisch ist (was etwa Jeremy Rifkin oder Ulrich Beck zu der irrigen, weil formlosen Annahme veranlasste, der Gesellschaft gehe die Arbeit aus), dass es eine Garantie auf Arbeitsplätze unter gegebenen Bedingungen – trotz aller gemeinsamen Anstrengungen in der Hartz-Kommission – nicht geben kann, und dass selbige Arbeitsplätze aus Gründen der Lohnkonkurrenz verlagert werden können, etwas schwer tun:

»Es geht um die Hauptaufgabe der Gegenwart und die Schlüsselfrage der Zukunft: ›Wie, mit welchen Mitteln und zu welchem Ziel kann und muss der globale Kapitalismus politisch gestaltet und sozial reguliert werden?‹ Im Mittelpunkt stehen nicht gesellschaftliche Visionen und politische Alternativen jenseits des Kapitalismus, sondern realistische Optionen und konkrete Projekte im Kapitalismus, die diesen verändern«, so die Ausrichtung der IGM-Führung für die gewerkschaftsoffizielle Zukunftsdebatte.[6]

So laufen gewerkschaftliche Zukunftsdebatten: Vorne offene Fragen und die Einladung zur Debatte, hinten eine kleine Moderationsvorgabe zur Verewigung des »Settings«. Angesichts solch einmütiger Geschlossenheit in Fragen der Offenheit unserer Geschichte fragt es sich schon, ob es noch eine Position jenseits dieser Sofa-Allianzen zwischen Links-Radikalen und Sozialpartnern gibt.

»Wir müssen die Frechheit verbreitern zu sagen: Schnauze voll von euren so genannten realistischen Optionen, Eurer Mitgestaltung des Kapitalismus! Eure Politik, auch jetzt wieder in der Tarifrunde, trägt dazu bei, dass wir ärmer werden. Unser Alltagskampf wie unsere Zukunft sind davon abhängig, wie wir die Widersprüche und Zwangsgesetze unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erkennen und praktisch aufgreifen. Gesellschaftliche Visionen und politische Alternativen jenseits des Kapitalismus wollt Ihr nicht diskutieren. Wir müssen das.«[7]

Gibt es doch noch jemanden, der das muss – und warum? Ist vielleicht doch noch etwas aufzuklären in der scheinbaren Zwangslogik der Geschichte?

 

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/02

Anmerkungen:

1) Oskar Negt, links, Nr. 39, Dez. 1972.

2) zuerst erschienen in: Bündnis gegen Arbeit (Hg.): »Terror der Ökonomie, Elend der Politik«, Freiburg 1998.

3) Jochen Bruhn: »Karl Marx und der Materialismus«, Freiburg 2000, S. 61. Es handelt sich um den »historischen Ausfall des Subjekts/Objekts« (ebd., S. 64); danach bleibe nur noch Kritische Theorie.

4) Bruhn 2000, a.a.O., S. 63. Vgl. dagegen: Karl Marx: »Rohentwurf«, in: MEW 42, S. 211; Karl Marx: Das Kapital, MEW 23, S. 675. Bruhn identifiziert Arbeiter und Arbeiterklasse und sieht beides nur als ›v‹.

5) Kurz, Robert: »Blutige Vernunft. 20 Thesen gegen die s.g. Aufklärung und die ›westlichen Werte‹«, in: Krisis, Nr. 25, Bad Honnef 2002, S. 67-97, hier S. 79.

6) Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 2/2001.

7) Wolfgang Schaumberg in: express, Nr. 5/2002, S. 4.

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