express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit http://www.labournet.de/express/

Ausgabe 8 / 2001

 

Scheinbar naturwüchsige Prozesse liegen der Krise der Sozialversicherungen zu Grunde: Demographischer Wandel, veränderte Konsum- und Lebensstile sowie übermäßige Anspruchshaltungen, begleitet von einer "massiven Vollkaskomentalität" (KBV-Vize Hansen, FR, 1. August 2001). Als naturgegeben erscheint auch das "Ende der Arbeit" (Rifkin 1996) – jene intellektuelle Kapitulation vor einer systemfunktionalen Arbeitslosigkeit, auf die sich die einschlägige Argumentationskette »weniger Einzahler, sinkende Einnahmen, mehr ‘Anspruchnehmer’ und "Kostenexplosionen" auf der Ausgabenseite« stützt. Dass der Gesellschaft jedoch nicht die Arbeit, sondern das Normalarbeitsverhältnis ‘ausgeht’, auf dessen Existenz die tradierten sozialen Sicherungen wesentlich beruhen, und dass an der Herstellung dieses Zustandes viele beteiligt sind, begründet die Notwendigkeit, den Zusammenhängen zwischen den Bereichen "Wirtschaft", "Arbeit" und "Soziales" nachzugehen. Unter der Maßgabe, die Lohnnebenkosten insgesamt auf unter 40 Prozent zu drücken, wurde bereits die Rentenversicherung teilprivatisiert, als nächstes stehen Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie die Krankenversicherung auf dem Programm. Den Entwicklungen im Gesundheitswesen werden wir in der nächsten Ausgabe des express nachgehen. Wie das rot-grüne Prinzip der "Chancengerechtigkeit", also das als "Fördern und Fordern" auftretende Tauschgeschäft von Pflichten gegen Leistungen, in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zur Anwendung kommt, steht im Zentrum dieser Ausgabe. Angehaidert präsentieren sich diesbezügliche Vorschläge von Roland Koch oder Rudi Scharping, die damit politisch mehr eint als die Anzahl der Flugkilometer, die sie für die qualifizierte Ausübung ihrer jeweiligen Amtsgeschäfte brauchen. Wenn Werner Müller in seinem jüngsten Wirtschaftsbericht ähnliche Töne anschlägt und "Integrationspläne für Erwerbslose, Sanktionen für Arbeitsunwillige und Verdienstchancen für Bezieher von Arbeitslosenhilfe" fordert, kann Walter Riester "das Erschrecken, das die Forderung ausgelöst hat ... nicht ganz nachvollziehen", denn "die Leistungseinschränkungen für Arbeitsfähige, die zumutbare Angebote nicht wahrnehmen, sind da" (FR, 25. Juli 2001) – angesichts dieses Zynismus verdient es die Erklärung der IG Metall zu Schröders Faulenzer-Fetisch abgedruckt zu werden (S. 4).

Warum also in die Ferne schweifen, wenn "Weiterstadt, Westhausen oder Wiesbaden works" bequem per ÖPNV erforschbar sind? Horst Hembera untersucht die stattfindende und geplante Angleichung der Hilfesysteme, die auf der Basis von "Employability" all jene als gesellschaftsunfähig ausschließt, die diese nicht (mehr) beweisen, und damit Bedürftigkeit wieder zur Aufgabe privater Caritas und Mildtätigkeit machen. Die Zentralität der Arbeit(sfähigkeit) als Begründung "gesellschaftlichen Eigentums" und damit Anspruchsvoraussetzung kollektiver gesellschaftlicher Sicherungen wird in Robert Castels vieldiskutierten "Metamorphosen der sozialen Frage" als Kennzeichen der aktuellen Lage herausgestellt – Wolfgang Völker geht den Grenzen dieses Sozialstaats- und Gesellschaftsverständnisses nach (S. 5-6). Anne Allex untersucht die arbeitsmarkt- und familienpolitischen Ansätze aus dem Hause Riester und Bergmann zur Vereinbarkeit von Kindererziehung und Lohnarbeit. ‘Mütter in die Produktion’ scheint dabei vordringliches Ziel – ob sich ein Leben zu solchen Konditionen noch jemand leisten kann, steht auf einem anderen Blatt.