letzte Änderung am 7. Januar 2004

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Eine ungeheure Welt der Waren

Ver.di über WTO, Welthandel und Wettbewerbsbeschränkungen, Teil II

Ver.di versucht Einfluss auf die Verhandlungslinien der EU zur Fixierung des GATS (General Agreement Trade in Services; internationales Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen) zu nehmen und zugleich das Thema in der interessierten Gewerkschaftsöffentlichkeit bekannt zu machen. Zu diesem Zweck hat ver.di eine Broschüre vorgelegt, die die Grundregeln und -prinzipien des Welthandels, der WTO und des GATS vorstellt. In Teil I des vorliegenden Beitrags wurden die Kapitel zur Geschichte, zur Verfassung und zu den Interessengruppen der WTO kritisch diskutiert. Ein zentrales Problem der ver.di-Darstellung besteht darin, so zu tun, als sei die EU eine Verfechterin und ein Bollwerk sozialstaatlicher Regulation gegenüber dem Moloch WTO, statt deren eigenes Interesse am internationalen Freihandel bei gleichzeitigem Schutz des EU-Binnenmarktes und fortgesetzter Liberalisierung desselben deutlich zu machen. Hier schließt Teil II des Artikels an. Nach der Darstellung der Interessengruppen in Teil I folgen nun die aktuell geplanten Abkommen der WTO.

Im Zusammenhang mit der Schilderung der EU-Positionen als einer von mehreren Interessengruppen in der WTO (Kap. 2) präsentiert die Broschüre eine Reihe aktueller Konflikte in der WTO, wobei es so scheint, als ob es sich um besondere Positionen und Anliegen der EU handele:

Auf ein weiteres Abkommen, das TRIPS, wird im Rahmen der Darstellung der Entwicklungsländer-Lobby eingegangen: Das TRIPS sichert Unternehmen exklusiv den Zugriff und die Verwertung von genetischen Ressourcen (wie Saatgut, Arzneimittel oder deren Vorprodukte und Rohstoffe etc.), indem diese qua Patentierung zu Privateigentum gemacht werden können. Was dies heißt, lässt sich prominent am Beispiel der Aidsbehandlung schildern: Die Herstellung von preisgünstigen Alternativen zu den unbezahlbaren Produkten der pharmazeutischen Weltmarktführer ist gerade Ländern, in denen Aids eine größere Verbreitung unter denen armen Bevölkerungsschichten hat, verwehrt. Nun könnte man einwenden, dass die Anmeldung von privaten Eigentumstiteln ein üblicher Vorgang und bestimmendes Prinzip kapitalistischer Gesellschaften ist und dass Pharma- und Chemiekonzerne, die von TRIPS profitieren, die Preise ihrer Produkte wie überhaupt ihre Produktion nicht aus solchen Rücksichten heraus gestalten. Doch das Prinzip der Meistbegünstigung führt hier dazu, dass jedes Land ausländischen Unternehmen die Patentierung von Innovationen, die sich auf eigene biologische oder genetische Ressourcen beziehen, gestatten muss. Und dieser Patentschutz muss selbst dann gewährt werden, wenn Unternehmen sich die Ressourcen widerrechtlich angeeignet haben. Es handelt sich also um eine rechtlich legitimierte Form der Enteignung, die durch einfache technische Manipulationen z.B. aus einem bislang freien (wie dem Neembaum) oder privat genutzten Gut (wie dem zur Wiederaussaat bestimmten Teil der Ernte von Bauern) das Eigentum anderer macht.

In Folge der 4. Ministerkonferenz 2001 in DohaMilleniumsrunde«) wurde auf Druck der Entwicklungsländer-Lobby eine Ausnahmeregelung vereinbart, nach der durch TRIPS der Gesundheitsschutz nicht beeinträchtigt werden dürfe. Konkret bedeutet dies, dass im Falle »schwerwiegender Krankheiten« die Möglichkeit besteht, einen »nationalen Notstand« auszurufen, um Zwangslizenzen für die Produktion finanzierbarer Medikamente vergeben zu können. (S. 16) Ver.di bewertet dies als Erfolg der Doha-Konferenz, die auch in die veröffentlichte Meinung als so genannte »Entwicklungsrunde« einging.

Kapitel 3 enthält in sehr knapper Form eine Schilderung der dort getroffenen Vereinbarungen und Konflikte. So wurde in Doha zum einen der Terminplan für die Verhandlungen um das GATS konkretisiert, nachdem die WTO-Mitgliedsländer bis Juni 2002 ihre Liberalisierungswünsche kundtun und bis zum März 2003 dann auch die Liberalisierungsangebote vorgelegt werden sollten (s.o.). Zum anderen wurde dort über die Frage verhandelt, ob die Kernarbeitsnormen der ILO (International Labour Organization; Internationale Arbeitsorganisation) in irgendeiner Weise Bestandteil der Verhandlungen um das GATS bzw. die Handelsabkommen der WTO überhaupt werden. Als Kernarbeitsnormen gelten:

Völkerrechtlich verbindlich sind lediglich vier Abkommen: das zu Kinderarbeit, zum Verbot von Zwangsarbeit, zum Verbot von Diskriminierung und das Recht auf freie Kollektivverhandlungen. Bislang beharrt die WTO auf einer strikten Trennung der Aufgabenteilung zwischen ILO und WTO – sie sieht sich in keiner Weise zuständig für die Kernarbeitsnormen, sondern betrachtet diese als ausschließliche Angelegenheit der ILO und will die Kernarbeitsnormen entsprechend auch nicht zum bindenden Inhalt von Handelsabkommen machen (etwa in Form von »Sozialklauseln«). Als Erfolg von Doha verbucht ver.di die Änderung einer »Sprachregelung«, nach der die ILO für die WTO nun nicht mehr als einzige internationale Organisation gilt, die sich mit den Kernarbeitsnormen befasst. Daran, dass Sozialstandards wie die ILO-Konventionen kein Bestandteil der WTO-Regeln sind, hat sich allerdings nichts geändert.

Das GATS: Ausnahmen und Regeln

In den o.g. zwölf Sektoren (s. Teil I) haben die Mitgliedsländer der WTO nun also ihre Liberalisierungsabsichten und -angebote in Form so genannter »Verpflichtungslisten« unterbreitet. Verpflichtung heißt: alle Grundprinzipien der WTO auch in diesen Bereichen anzuwenden. Unterschieden wird dabei nach vier Formen, so genannten »Modi«, des Handels mit Dienstleistungen:

Hinzu kommt die Möglichkeit, neben den Verpflichtungslisten Bereiche zu nennen, die vom Meistbegünstigungsprinzip ausgenommen werden sollen. Diese Möglichkeit beruht auf der GATS-Vereinbarung, dass »Dienstleistungen, die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht« werden, nicht für den weltweiten Handel geöffnet werden müssen. Dies gilt für eine Vielzahl sozialstaatlicher Leistungen (u.a. aber auch für umwelt- und sicherheitspolitische wie überhaupt für Infrastrukturaufgaben). Allerdings erlaubt das GATS diese Ausnahme nur, wenn solche Dienste »weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungserbringern« betrieben werden. (S. 24)

Während ver.di die Ausnahmeregelungen, wie in Kapitel 4 der Broschüre erläutert wird, prinzipiell begrüßt, da dies »Beschäftigten- und Versorgungsinteressen sowohl der Mitglieder als auch aller Bürgerinnen und Bürger« speziell im Bereich der Daseinsvorsorge schütze (S. 23), stützen sich die Befürchtungen auf eben jene einschränkende Formulierung. Denn: »hierzulande – wie in anderen Teilen der EU auch – sind bereits viele Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge privatisiert und teilprivatisiert, oder sie stehen im Wettbewerb mit privaten Anbietern (S. 25)

Ob die Ausnahmeregelungen Bestand haben werden, darf damit bezweifelt werden. Zum einen steht die eigentliche Verhandlungsphase zwischen EU und anderen WTO-Mitgliedsländern, in denen es zu Gegengeschäften über die jeweiligen Ausnahmeregelungen kommen wird, ohnehin noch aus. Zum anderen ist unklar, ob das Kriterium der hoheitlichen Erbringung noch klagefest ist, wenn diese Leistungen der Öffentlichen Daseinsvorsorge so weitgehend privatisiert werden, wie das aktuell bspw. bei den Reformen im Gesundheitswesen angestrebt wird – und in vielen Bereichen der EU ja schon der Fall ist. Ver.di rechnet daher damit, dass »den Einrichtungen und Unternehmen der Daseinsvorsorge ... Streitschlichtungsverfahren vor der WTO« drohen, »die dann vor allem legalistisch geführt und entschieden werden – und das alles vor dem Leitbild der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens«. (S. 25)

Chancen und Risiken? Ein Eiertanz

Was immer Nachhaltigkeit in Bezug auf kapitalistisches Wirtschaften heißen mag: An dieser Stelle zeigt sich ein grundlegendes Problem in der abschließenden Bewertung des GATS durch die AutorInnen. Man will den Wettbewerb – aber nur, sofern er Deutschland bzw. der EU nützt. Über mehrere Seiten hinweg werden die Vorteile eines Abbaus von Handelshemmnissen für den Dienstleistungssektor Deutschlands geschildert. Ver.di argumentiert dabei primär beschäftigungspolitisch: Die Liberalisierung könne »weitere Exportchancen für deutsche Dienstleistungsunternehmen bringen, die es zu nutzen gilt, wenn qualifizierte Beschäftigung ausgeweitet werden kann« (S. 23); der Anteil der Beschäftigten in diesem Bereich, der heute bei 64 Prozent liege, sei steigerungsfähig, insofern der Dienstleistungshandel höhere Wachstumsraten als der Handel mit Waren aufweise (S. 22); selbst die Liberalisierung des Umweltschutzes – bei der ver.di zugleich argumentiert, dass Kostengesichtspunkte Sicherheits-, Qualitäts- und Umweltstandards nicht überlagern dürfen«, wird noch unter dem Gesichtspunkt begrüßt, dass dies »gute Exportchancen« für »hochwertige deutsche Abfall- und Wasserwirtschaftsunternehmen« berge. (S. 26)

Diese Expansions- und damit verbundenen Beschäftigungshoffnungen sind aber nur zu haben, wenn das gleiche Recht auch anderen Ländern eingeräumt wird. Alles andere wäre ein Rückfall in Zeiten des Protektionismus, der in die Isolation und das machtpolitische Diktat nationalistischer Wirtschaftsinteressen führt. Das will ver.di erklärter Maßen auch nicht, denn als Gewerkschaft ist sie »der internationalen Solidarität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in aller Welt verpflichtet. Daher setzen wir uns auch für eine faire Behandlung der Entwicklungsländer und die Öffnung der Märkte in den so genannten Industriestaaten ein«. (S. 29)

Zugleich ist umgekehrt, und das wissen die AutorInnen der Broschüre auch, bei einer Ausweitung des Freihandels unausgemacht, »ob die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten alle Beschäftigungsverluste werden ausgleichen können. Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die internationale Arbeitsteilung im Dienstleistungssektor und die damit verbundenen Rationalisierungen die Zahl der Arbeitsplätze insgesamt reduzieren wird«. (S. 24)

Statt nun aber die Ursachen dieser Entwicklungen in den Voraussetzungen von Wettbewerb und freier Konkurrenz zu suchen, fordert ver.di eine Beschränkung der Folgen durch allgemeine Regeln – und, wo dies nicht ausreichend scheint, Ausnahmen von diesen. Die deutsche Regierung bzw. die Europäische Kommission soll sich für »Standards« im Vertragswerk der WTO einsetzen und damit zulässige Formen des internationalen Wettbewerbs bestimmen, innerhalb derer sich die Konkurrenz abspielen darf. Genau dies ist aber das zentrale Anliegen und der Inhalt von GATS: Unabhängig von der Herkunft gelten für alle »Marktteilnehmer« die gleichen Regeln, keiner wird bevorzugt oder benachteiligt. Geht es dagegen nicht um allgemeine Regeln für den Wettbewerb überhaupt (ein Ziel, das ab einer bestimmten Anzahl von Marktteilnehmern regelmäßig auch von Unternehmen gefordert wird, um »Auswüchse« der Konkurrenz zu begrenzen), sondern um Sozial- und Umweltstandards, so ist zu fragen, warum deren Garantie regelmäßig in Krisenzeiten verzichtbar scheint und zur Disposition gestellt wird, warum also das, was einerseits als Reproduktionsvoraussetzung ökonomischer Aktivität erscheint, andererseits zu deren Schranke wird – und zwar nicht erst auf der Ebene von Weltmarktbeziehungen, sondern ›vor der eigenen Haustür‹.

Kapital ja – Arbeiter nein

Den großen Erfolg der eigenen Lobbyarbeit bei der EU jedenfalls sieht ver.di darin,

a) dass die EU bei den Verhandlungen in Cancún weiterhin ihren eigenen Binnenmarkt in weiten Bereichen von den Liberalisierungsangeboten ausgenommen habe bzw. hier nicht über ihre bisherigen internen Privatisierungs- und Liberalisierungspläne hinausgehe. Dies betrifft »öffentliche Aufgaben in Sektoren wie z.B. verbundenen wissenschaftlichen und technischen Beratungsdienstleistungen, Forschungs- und Entwicklung in den Sozial- und Geisteswissenschaften, technische Prüf- und Analysedienstleistungen, Umwelt-, Gesundheits-, Verkehrs-, und Hilfsdienstleistungen«. [1] Diese bleiben nach wie vor hoheitliche Aufgaben im nationalen Interesse. Dies heißt nun aber nicht, dass hier überhaupt keine Liberalisierung stattfinde, sondern nur, dass die EU in diesen Bereichen ihren Binnenmarkt samt der bisherigen EU-Verträge zu Liberalisierungen schützen will.

b) Den zweiten großen Erfolg sieht ver.di darin, dass die EU Einschränkungen beim grenzüberschreitenden Personenverkehr (Modus 4 des GATS-Rahmenabkommens) formuliert habe. Demnach unterliegt der Handel mit Dienstleistungen in Form von grenzüberschreitendem Personenverkehr für Schlüsselkräfte (Manager, Spezialisten und Auszubildende) jeweils zeitlichen Befristungen. Für Dienstverträge mit anderen Beschäftigtengruppen gelten Branchenbindungen und ebenfalls zeitliche Befristungen, und für selbständige Freiberufler gelten Mindestvoraussetzungen in Bezug auf Qualifikation und Berufserfahrung sowie ebenfalls bestimmte Branchenbindungen.

Ver.di hatte hier gemeinsam mit der IG BAU eigentlich auf »Arbeitsmarkttests bzw. wirtschaftliche Bedarfsprüfungen« gesetzt, zeigt sich aber auch mit der Vereinbarung einer »numerischen Deckelung« zufrieden. (»Einschätzung der Angebotsliste«, S. 6) D.h., dass innerhalb der EU regelmäßig neue Quoten für die maximal zulässige Zahl von »GATS-Visa« festgelegt und damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt werden kann.

Wo nachvollziehbar die Angst vor den Folgen der Konkurrenz ist, bleibt es doch das Geheimnis der AutorInnen der Broschüre und der ver.di-VertreterInnen bei den GATS-Verhandlungen der EU, warum diese Konkurrenz nur für bestimmte Güter nicht gelten soll, für andere jedoch befürwortet wird. Was unterscheidet die als legitim erachtete Abwertungskonkurrenz im Geschäft mit Lebensmitteln oder Spielzeugen von der im Bereich der Wasser- oder Gesundheitsversorgung, die als nicht-legitim gilt? Und warum gelten die selben europäischen Regierungen, die ihre sozialen Standards bislang am – wechselnden – ökonomischen Bedarf des europäischen Binnenmarktes ausrichten, als Garantie dafür, dass ihnen der Schutz von Leib und Leben der »Arbeitskräfte« vor den Folgen der Konkurrenz vordringlichstes Ziel bei den GATS-Verhandlungen sein sollte?

Auf solche Fragen bleiben die Broschüre, aber auch die Stellungnahmen von ver.di zur Liberalisierung und Privatisierung im Weltmaßstab Antworten schuldig.

Kirsten Huckenbeck

Der Text wurde im Auftrag von ver.di Mannheim erstellt und ist auf der Homepage des Bezirks als Download verfügbar: www.verdi.de/baden-württemberg/mannheim

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/03

Anmerkung:

1) »Einschätzung der EU Angebotsliste«, a.a.O., S. 1. Hinzu kommen sektorale Vorbehalte bei der Wasserversorgung, audiovisuellen Dienstleistungen, sozialen Diensten, Bildung, Bau, Vertrieb, Freizeit und Kultur, Energie, Schienen-, Straßen- und Personenverkehr sowie Binnen- Schifffahrt. Angebote hatte die EU jedoch gemacht in Bezug auf den Containertransport in der Seeschifffahrt, bei den Bodenabfertigungsdiensten im Luftverkehr und bei den Post- und Kurierdiensten. (Vgl. ebd., S. 2f.)

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