letzte Änderung am 20. November 2003

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Eine ungeheure Welt der Waren

Ver.di über WTO, Welthandel und Wettbewerbsbeschränkungen, Teil I

»Unsere Arbeit hat Früchte getragen«, so kommentierte Frank Bsirske die Ergebnisse der gewerkschaftlichen Einflussnahmen auf die Verhandlungen der EU um das GATS (General Agreement on Trade in Services; Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen).[1] Ein Votum, das neugierig macht, denn: Vom 10.–14. September fand in Cancún, Mexiko, die fünfte Konferenz der World Trade Organisation (Welthandelsorganisation; WTO) statt. Dort sollte die EU ihre Forderungen und Angebote zur Liberalisierung im weltweiten Handel mit Dienstleistungen mit denen 145 weiterer WTO-Mitgliedsländer abgleichen und verbindliche Beschlüsse dazu fassen, in welchen Bereichen künftig ›schrankenlos‹ mit Dienstleistungen gehandelt werden dürfe. Weil die Entwicklungsländer sich nicht mehr diktieren lassen wollten, dass sie ihre Grenzen einseitig für den Handel öffnen sollen, während bspw. die EU weiterhin ihre Agrarindustrie durch Handelsbarrieren vor Importen aus dem Rest der Welt schützt, ging die Konferenz auseinander, ohne eine gemeinsame Schlusserklärung gefasst zu haben. Cancún gilt daher als gescheitert. Heißt das aber jetzt, dass es keine weiteren Liberalisierungen geben wird? Oder dass auf jegliche internationale Regelung verzichtet wird? Wäre das ein Nachteil oder ein Vorteil? Und für wen? Hinter den Kulissen wird weiter gefeilscht, denn bereits Ende 2004 soll das internationale Abkommen in Kraft treten, wenn es nach dem ursprünglichen Fahrplan geht. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Positionen von ver.di zur Welthandelspolitik und zur Debatte über Freihandel und Sozialstandards, wie sie in einer ver.di-Broschüre zu Welthandel und GATS und einer Stellungnahme zum Stand der Verhandlungen formuliert wurden.

Da das Treffen in Cancún, wie auch schon die vorangegangene Konferenz in Doha, Quatar, mit Bedacht an einen für die interessierte Öffentlichkeit schwer zugänglichen Ort gelegt worden war, hatten sich VertreterInnen globalisierungskritischer Bewegungen wie Weed, Attac, FIAN, von Kirchen, Parteistiftungen, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, aber auch zahlreiche Gewerkschaften wie die IG BAU, die IG Metall, GEW und eben auch ver.di entschlossen, eine eigene Konferenz zum Thema »Fatal global?!« anzubieten. Vom 5.– 6. September trafen sie sich an der TU Berlin, um dort über »Fakten, Folgen und Alternativen« zu den internationalen Handelsabkommen der WTO zu diskutieren.

Dieses Treffen machte, ebenso wie die Reaktionen auf das »Scheitern von Cancún«, ein grundsätzliches Dilemma in der Debatte über das Ob und Wie der weltweiten Liberalisierung des Handels deutlich: Während einerseits der Abbau von Subventionen und sonstigen »handelsverzerrenden Hemmnissen« (z.B. der Agrarsubventionen der EU) als Voraussetzung für eine fairere und gerechtere Entwicklung gerade der schwächeren Ökonomien gilt, sollen andererseits die Folgen dieser Liberalisierung – Privatisierung, mehr Konkurrenz, Eingriffe in staatliche Hoheitsrechte – vermieden werden. Es verwundert daher nicht, wenn sich in der Beurteilung des Freihandels eigenartige Allianzen bilden. So bewertete etwa »Caritas International« das Fehlen eines Verhandlungsergebnisses in Cancún als »großen Rückschritt« und »Nachteil für die Armen«, da diese am meisten von einem »System gerechter Regeln« profitiert hätten. Der Bundesverband des deutschen Groß- und Außenhandels argumentierte in eine ähnliche Richtung, dass nun »die Gefahr eines neuen Bilateralismus (bestehe), indem die großen Industriemächte nur noch bilaterale Handelsabkommen über die für sie relevanten Themen abschließen würden«. Und während der Bundesverband der deutschen Industrie sich »schwer enttäuscht« zeigte, da eine »große Chance« für die »ausfuhrorientierte deutsche Industrie« vertan worden sei, begrüßte etwa der DGB den Abbruch der Verhandlungen und wertete diesen als Erfolg für die Entwicklungsländer, da ein »schrankenloser Handel« für diese die Chance zu einer »nachholenden Entwicklung gefährdet« hätte (FR, 16. September 2003). Grund genug, sich die Positionen von ver.di zur WTO und zum Freihandel genauer anzusehen.

 

Doppeltes Spiel: Freihandel und Protektionismus

Die Haltung der Gewerkschaften zum Freihandel, der mit dem GATS auf Weltmarktebene vorangetrieben werden soll, ist so ambivalent wie dieser selbst, und das liegt, so könnte man sagen, ›in der Natur der Sache‹: Der Abbau von Handelshemmnissen beruht im Prinzip auf Beidseitigkeit, es sei denn, er wird durch direkte oder indirekte Formen des Protektionismus eingeschränkt. Die Option auf neue Absatzmärkte einerseits ist so immer mit der Öffnung der heimischen Märkte für Anbieter aus anderen Ländern andererseits verbunden. Dass die konsequente Anwendung dieses Prinzips, wie der Begründer der Freihandelstheorie, der englische Nationalökonom David Ricardo, im frühen 19. Jahrhundert behauptet hatte, notwendig auch zu beidseitigen Vorteilen führt, geschweige denn zu einem allgemeinen Handels-Gleichgewicht und zu mehr Wohlstand auf globaler Ebene, wie dies die modernen Anhänger der Freihandelspolitik in der WTO aufgrund ihrer gleichgewichtstheoretischen Modelle unterstellen, darf nach Jahrhunderten an Erfahrungen mit internationalen Handelsbeziehungen bezweifelt werden.[2] Selten verhält es sich in der Welt so wie in Ricardos ebenso berühmtem wie vereinfachendem Beispiel vom Tuch- und Weinhandel zwischen England und Portugal. Damit versuchte er nachzuweisen, dass es für beide Länder profitabler und zugleich der allgemeinen Wohlfahrt dienlicher wäre, sich jeweils ganz auf die Produktion derjenigen Waren zu konzentrieren, für die es im eigenen Land vorteilhafte Standortbedingungen gäbe, die Überschüsse dieser spezialisierten Produktion ›im großen Maßstab‹ zu exportieren und im Austausch fehlende Güter zu importieren, die anderenorts billiger hergestellt werden könnten, als die Strategie einer »mixed economy« zu verfolgen oder gar Schutzzölle zu fordern. Ricardo war in der damaligen Auseinandersetzung um die Korngesetze erklärter Gegner der englischen Großgrundbesitzer, die Einfuhrbeschränkungen für agrarische Produkte aus dem Ausland gefordert hatten, um ihre eigene Produktion vor Konkurrenz zu schützen. Er vertrat mit seiner Argumentation die Interessen des aufstrebenden Bürgertums, d.h. insbesondere der Kaufleute und der Handelsgesellschaften.

Doch während den so genannten Entwicklungsländern seit den Anfängen des Kolonialismus die reine Lehre des Freihandels gepredigt oder meist ganz schlicht aufgezwungen wurde, gab es für entwickelte kapitalistische Gesellschaften des Nordens und Westens bis heute zahlreiche Ausnahmen und einseitige Interpretationen dieser Regel. Oftmals sind es ein und dieselben Industrielobbyisten, die einerseits mehr Wettbewerb (Öffnung ausländischer Märkte für den Export) und andererseits stärkere staatliche Interventionen (Schutz des Binnenmarktes vor Importen) fordern. Pharma- und Agrarindustrie bieten dafür eine Fülle populärer Beispiele. Die Notwendigkeit staatlicher Protektion wird hierbei – neben dem schlichten ›Argument‹ der Bevorzugung heimischer Industrie gegenüber ausländischem Kapital – oft mit besonderen qualitativen Standards begründet, die es zu schützen und vor dem »Dumping« der ausländischen Konkurrenz zu verteidigen gelte. Dies reicht von produkt- oder verfahrensbezogenen technischen Prüf- und Sicherheitsnormen über Aspekte des Umwelt- und Gesundheitsschutzes bis etwa zu den »Reinheitsgeboten« deutschen Zuckers und Biers, die eher ideellen Charakter haben.

Was für die eine Branche gut ist, muss es aber noch lange nicht für die andere sein. Und selbst eine Politik des lediglich indirekten Protektionismus für bestimmte Industriezweige, bspw. über zulassungsrelevante Qualitätsstandards, kann schnell zu verschlossenen Türen für die Produkte anderer Industriezweige führen – ganz abgesehen von Handelskriegen in Folge eines direkten Einfuhrverbots, wie zuletzt etwa für hormonbelastetes US-amerikanisches Rindfleisch in die EU, auf das die USA mit der Androhung einer Sperre für europäische Automobilproduzenten reagierten.

Hier wird sehr schnell deutlich, dass vermeintlich eindeutige »nationale« Standortinteressen so homogen nicht sind. Es zeigt sich vielmehr, dass Nationalstaaten überall dort eine Politik der Schutzzölle betreiben, wo ihre Produkte nicht konkurrenzfähig sind, und wo das nicht der Fall ist, den freien Markt fordern. Ein konsequenter Protektionismus jedoch liefe entweder auf die Idee einer »autarken« Wirtschaft hinaus, oder – und nach allen historischen Erfahrungen steht dies in einem engen Zusammenhang mit Autarkie-Vorstellungen – auf Krieg als Mittel der gewaltsamen Eroberung, Aneignung oder auch Vernichtung ausländischer Produktion.

 

Sowohl als auch: Wettbewerb und Regeln

Die Haltung der Gewerkschaften zum Freihandel ist so ambivalent wie die zum Wettbewerbsprinzip, das den von nationalen Interessen entkleideten Kern der Freihandelstheorien darstellt. So unterstützen beispielsweise im Gewerkschaftsbereich innerhalb von ver.di einflussreiche Fraktionen einschließlich Frank Bsirske die Forderung nach mehr Wettbewerb und Markt, weil dies zu »Effizienzsteigerungen« führe, andererseits aber wird die Aushöhlung gesetzlich garantierter, sozialer Mindeststandards in der Versorgung der PatientInnen befürchtet. »Qualitätswettbewerb« lautet hier die Zauberformel, mit der scheinbar Unvereinbares zusammengebunden werden soll. Doch jeder Wettbewerb, selbst noch der in der abgründigen Welt der Produkte »unter 10 Euro« von meist dubioser Herkunft und Beschaffenheit findet als Vergleich von Qualitäten statt. Soll der Begriff keine tautologische Leerformel sein, müsste genauer bestimmt und vorgegeben werden, welche Qualitäten denn auf jeden Fall geschützt werden sollen. Das wäre aber gleichbedeutend mit der Aushebelung des Prinzips freier Konkurrenz.

In der gewerkschaftspolitischen Debatte ist daher oft auch noch nicht einmal klar, wie mit der bisherigen Liberalisierung bei Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Arbeit innerhalb der EU, d.h. den »vier Freiheiten« umzugehen ist, die die Grundlagen des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes, also der Freihandelszone vor unserer eigenen Haustür, bestimmen. So wurde die Freizügigkeit des Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs begrüßt, hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitskräfte aus den neuen Beitrittsländern drängten IG BAU, IG Metall und ver.di jedoch vehement auf Übergangsfristen – in Bezug auf die Löhne fürchtet man die Konkurrenz, die ansonsten nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Unterdessen werden von der EU derzeit die entscheidenden Weichen für eine weitere Öffnung dieses Marktes, nun aber für den Weltmarkt gestellt. Die EU will künftig nur noch für die Bereiche Kultur und Kommunikation eine Zustimmungs- und Ratifizierungspflicht der EU-Mitgliedsländer. Über die Liberalisierung in den Bereichen Gesundheit und Soziale Dienste soll die Kommission dagegen autonom verhandeln können.

Dabei geht es im GATS, also bei den künftigen Regeln für den weltweiten Freihandel mit Dienstleistungen, nicht etwa nur um Autoreparaturen, Maniküre oder Buchbinderarbeiten, sondern auch um so genannte »Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge«, d.h. um das, was in der Bundesrepublik Deutschland (noch) als Aufgabe des Sozialstaats bestimmt wird.

Um einen Eindruck von der Reichweite der Bemühungen zu erhalten, im Rahmen des GATS weltweit einheitliche Regeln für den Handel mit Dienstleistungen aufzustellen, muss man sich nur die Frage stellen, ob es jenseits der 12 Sektoren, die dieses Abkommen umfassen soll, noch etwas geben könnte, das darin nicht enthalten ist:

Diese 12 Bereiche gliedern sich noch einmal auf in rund 160 Subkategorien. Kommunikation umfasst bspw. die Unterbereiche

Im März 2003 sollten nun laut Beschluss der WTO vom November 2001 in Doha, Quatar, alle Liberalisierungs-Angebote der zur Zeit 146 WTO-Mitgliedsstaaten bzw. ihrer Vertreter, sofern diese wie die EU als Verhandlungsgruppe auftreten, vorgelegt werden. Dann hätten in Cancún die verbleibenden Probleme und Fragen ausgeräumt werden sollen, und zum 1. Januar 2005 wäre, wenn es nach dem Zeitplan der dominierenden WTO-Mitglieder ginge, der neue rechtliche Rahmen für den Dienstleistungs-Handel im Weltmaßstab in Kraft getreten. Die hartnäckige Forderung der in der »Gruppe der 21« zusammengeschlossenen Schwellen- und Entwicklungsländer, dass vor einer weiteren Liberalisierung des Handels im Bereich der Dienstleistungen zunächst über den Abbau von Agrarsubventionen innerhalb der ›entwickelten‹ Länder geredet werden müsse, durchkreuzt nun diesen Zeitplan. Doch die in der von der EU vorgelegten Angebotsliste zum Ausdruck kommenden Liberalisierungsabsichten dürften auch jenseits dieses Ablaufplans Bestand haben – und dieser Liste galt die Erfolgsmeldung von Frank Bsirkse in der letzten ver.di-Stellungnahme zum Stand der GATS-Verhandlungen sowie eine bereits 2002 von ver.di erstellte Broschüre über »Die Welthandelsorganisation und das Dienstleistungsabkommen GATS«.

 

»Spannend und vielfältig« – die Welt der globalen Wirtschaftspolitik

Herausgegeben vom ver.di-Ressort 1 (Politik und Planung), beschreibt die Broschüre die Ergebnisse eines gemeinsamen Projekts mit dem DGB-Arbeitskreis »Internationale Wirtschaftspolitik«.

»Globalisierung gerecht gestalten«, unter dieses DGB-Motto vom 1. Mai 2002 stellt ver.di die Broschüre, mit der sie FunktionsträgerInnen und interessierte Mitglieder auffordert, »in die »spannende und vielfältige Welt der globalen Wirtschaftspolitik« einzutauchen. Genauso, wie sich beispielsweise Umweltorganisationen für die Berücksichtigung von Umweltstandards und -zielen beim Welthandel einsetzten, müssten die Gewerkschaften »für die Einhaltung von Sozialstandards und Kernarbeitsnormen sowie nationale Gestaltungsspielräume, Transparenz der Verhandlungen und demokratische Teilhabe/Mitwirkung kämpfen«, so setzt Frank Bsirske in seinem Vorwort zu der Publikation die Interessen an Umweltschutz und Gewerkschaftsrechten gleich. Um diesen Anspruch konkret einlösen zu können, bedürfe es einer Auseinandersetzung mit den politischen Handlungsfeldern und dem Regelwerk des Welthandelssystems.

Dieses wird in vier Schritten vorgestellt, gefolgt von einem fünften Kapitel, in dem sehr knapp die Vorstellungen in ver.di zu einem »fairen und beschäftigungsorientierten Handel mit Dienstleistungen« skizziert werden. Ein nützliches Glossar mit wichtigen Begriffen und Abkürzungen, ein Anhang mit drei (!) Hinweisen auf gewerkschaftliche Publikationen zum Thema und einigen Informationshinweisen im Internet runden die 35-seitige Broschüre ab.

 

Zur Geschichte der WTO

Kapitel 1 (»Die Welthandelsorganisation«) erläutert in groben Zügen die historischen Entwicklungsschritte hin zur Gründung der WTO, ihre Grundprinzipien und ihre institutionellen Strukturen. Die 1995 gegründete und in Genf ansässige WTO, neben Weltbank und Internationalem Währungsfond (IWF) eine der drei zentralen wirtschaftspolitischen Institutionen auf internationaler Ebene, hat ihre historischen Wurzeln im ehemaligen »Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen« (General Agreement on Tarifs and Trade, GATT) von 1947. Wenig lässt die Broschüre sich allerdings über die Gründungsabsichten des GATT aus: Die Schaffung dieser drei Organisationen ist einerseits als Reaktion auf den zweiten Weltkrieg und als Versuch zu begreifen, nicht nur die verheerenden Folgen von Imperialismus und Schutzzollpolitik durch Kredite für Wiederaufbaumaßnahmen beseitigen, sondern auch deren Ursachen durch Schaffung gemeinsamer Handels- und Währungsräume bekämpfen zu wollen, andererseits aber von Anfang an auch der Versuch der USA, ihre weltpolitische und ökonomische Bedeutung im Rahmen der so genannten Systemkonkurrenz durchzusetzen. In der Broschüre werden lediglich die geopolitischen Ziele der USA erwähnt. (S. 11)

Es brauchte über 40 Jahre und acht »Verhandlungsrunden«, bis es mit der achten, der so genannten »Uruguay«-Runde (1986–1994) gelang, aus dem multilateralen Vertragswerk eine feste Institution mit einem Jahreshaushalt von 80 Mio. Dollar zu bilden. Hier knüpft die Broschüre historisch an und fasst kursorisch den weiteren Fortgang der Ereignisse zusammen. Es zeigt sich jedoch, dass Grundkonflikte des GATT sich in der WTO wiederholen: Bereits in der Phase des GATT waren Hunderttausende von Zöllen abgeschafft worden und zunehmend mehr Mitgliedsstaaten, darunter viele Staaten des Südens, Lateinamerikas, Asiens und aus den so genannten Übergangsgesellschaften beigetreten, die sich den Prinzipien des Abbaus von Handelshemmnissen im weltweiten Warenhandel verschrieben. Schon seit den späten 70er Jahren ging es dabei jedoch nicht mehr nur um den Abbau von Zöllen, sondern auch um die Beseitigung so genannter »nicht-tarifärer Handelshemmnisse«, z.B. technischer Normen, Einfuhr- und Zulassungsbestimmungen, Anti-Dumpingmaßnahmen, Subventionierungen oder auch bilateraler Abkommen. Zur gleichen Zeit kamen unter dem Druck der Mitgliedsstaaten aus »wenig« oder »gar nicht entwickelten« Ländern (Less/Least Developed Countries; LDCs) Debatten über die Notwendigkeit auf, diesen Ländern vertragliche Ausnahmen von den Grundprinzipien des GATT zu gewähren (z.B. Subventionen heimischer Agrar- oder sonstiger Exportprodukte). Streit gab es dabei ebenfalls um die Frage, ob der wichtige Bereich des Agrarhandels weiterhin ausgenommen bleiben dürfe. Hier waren es entgegen der in der Broschüre pauschal aufgestellten Behauptung (S. 11), dass vor allem die Entwicklungsländer auf ihrer »protektionistischen Politik hoher Zölle« im Rahmen der »Importsubstitutionsstrategie« beharrt hätten (d.h. der Idee einer eigenständigen, möglichst weltmarktunabhängigen Versorgung und wirtschaftlichen Entwicklung), vielmehr die westlichen Mitgliedsstaaten, die sich der konsequenten Anwendung des Freihandelsprinzips auf die Agrarproduktion entgegen stellten. Und dies bis heute, wie das aktuelle Scheitern von Cancún zeigt.

Ebenfalls noch in der Uruguay-Runde wurde beschlossen, dass die neu zu gründende WTO sich künftig nicht nur um den Handel mit Waren, sondern auch um den mit Dienstleistungen und um den »Schutz« geistiger Eigentumsrechte kümmern solle. Dafür ist nun unter dem Dach der WTO neben dem »GATT 94«, das die Aufgaben des ehemaligen GATT übernommen hat, das TRIPS (Trade Related Intellectual Property Rights; Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum) und eben das GATS geschaffen worden. Diese Abkommen, zu denen sich alle Mitglieder der WTO per Beitritt automatisch verpflichten, werden in der Broschüre als die »drei Säulen« der WTO kurz beschrieben.

 

Grundprinzipien und politische Verfassung der WTO

Verständlich erläutert werden auch die Grundprinzipien der WTO:

Oberstes Organ der WTO ist die Ministerkonferenz, die üblicherweise alle zwei Jahre tagt (bislang in Singapur, Genf, Seattle, Doha und Cancún) und legislative Aufgaben hat. Interessant ist das Verfahren der Entscheidungsfindung: Im Unterschied etwa zum Quotenprinzip des IWF oder der Weltbank, wo die Stimmanteile sich nach der ökonomischen Stärke der Länder richten, hat jeder Mitgliedsstaat in der WTO-Ministerkonferenz eine Stimme, alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Was sich formal zunächst demokratisch anhört, wird praktisch unterminimiert durch das Phänomen der »Green Rooms«: Die jeweiligen Interessengruppen führen ihre Verhandlungen oft als ›geschlossene Gesellschaften‹, die der WTO-Öffentlichkeit dann fertige Absprachen präsentieren. Einfluss ist hier eine direkt von der Finanz- und Delegationsstärke einzelner Länder abhängige Größe.

Die Überprüfung der Umsetzung und Einhaltung der Abkommen obliegt dem Allgemeinen Rat, der zwischen den Konferenzen die Geschäfte führt. In Zweifelsfällen wird die Streitschlichtungsstelle (Dispute Settlement Body) einberufen, die zur Prüfung des Streitfalles ein aus drei Schiedsrichtern bestehendes »Panel« einrichten kann, das Abhilfemaßnahmen vorschlägt. Während früher das Veto eines der im Streitfall Beteiligten reichte, um den Spruch abzulehnen, ist es heute umgekehrt: Die Entscheidungen dieses Gremiums müssen befolgt werden, es sei denn, sie werden von den Beteiligten einstimmig abgelehnt. Durch diese und eine weitere Neuerung, nach der das Verfahren auf maximal ein Jahr und drei Monate befristet wird, gibt es erstmals die Möglichkeit, Verstöße überhaupt zu ahnden. Doch eine wirkliche Sanktion stellt auch dieses Instrument nicht dar, denn bei Zuwiderhandlungen bleibt dem geschädigten Land nur noch die Möglichkeit, dem schädigenden Land ev. gewährte Vergünstigungen zu widerrufen oder seinerseits Strafzölle zu verhängen. Für wirtschaftlich schwächere Staaten dürfte dies, ganz abgesehen von der Abhängigkeit in Bezug auf Kredite und Entwicklungshilfe, kein ausreichendes Druckmittel darstellen.

 

Interessengruppen und Abkommen der WTO

Etwas unsystematisch ist das zweite Kapitel (»Die Interessen der Akteursgruppen in der WTO«) geraten. Hier werden zunächst die Europäische Union (EU), die Cairns-Gruppe (15 traditionelle Agrarexportstaaten, die sich für die Liberalisierung des Agrarhandels einsetzen[3]) und die G 77 (Gruppe von so genannten Entwicklungsländern) als wichtigste Verhandlungsgruppen in der WTO aufgeführt, behandelt werden dann aber (nur) die EU, die Entwicklungsländer im allgemeinen und die USA, die allerdings mit gerade mal sechs Zeilen bedacht und damit streng genommen eher nicht behandelt werden.

Auf die Darstellung der EU soll hier etwas näher eingegangen werden, weil sich an diesem Beispiel einige Probleme der ver.di-Position verdeutlichen lassen: Während die Verfahren der Entscheidungsfindung in den anderen Interessengruppen keine Erwähnung finden, beschreibt die Broschüre, dass die europäischen Mitgliedsstaaten der WTO ihre Interessen in und gegenüber der WTO über die EU-Ministerkonferenzen in Brüssel und die Europäische Kommission koordinieren. Hier vermisst man eine Auseinandersetzung mit dem gegenüber den drei internationalen Wirtschaftsinstitutionen oft erhobenen pauschalen Vorwurf, diese seien undemokratisch, entschieden über die Parlamente und BürgerInnen der beteiligten Länder hinweg. Ver.di selbst bemängelt bspw. an anderer Stelle, dass an dem Treffen in Doha Gewerkschaften, NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) und VertreterInnen der Zivilgesellschaft nicht ausreichend repräsentiert gewesen seien. (S. 17)

Dieser Vorwurf greift insofern zu kurz, als er – um im Beispiel zu bleiben – hier auf die politische Verfassung der EU selbst (z.B. den geringen Einfluss des europäischen Parlaments und damit Wahlvolks gegenüber der Europäischen Kommission) und die ihrer Mitgliedsländer bezogen oder auf einer grundsätzlichen Ebene konkretisiert werden müsste, was mit mangelnder demokratischer Legitimation gemeint ist. Grob vereinfachend ist jedenfalls die Rede davon, dass die Mitgliedsländer der WTO von der WTO übergangen würden, denn deren – mehr oder weniger demokratisch – gewählte Vertreter sind es, die die Politik bestimmen. Die Kritik müsste hier – wie in der gesamten Privatisierungs- und Liberalisierungsdebatte – über die formalen Formen hinaus an den Inhalten dieser Politik ansetzen, doch dazu mehr im Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Bewertung der aktuellen WTO-Politik.

 

Teil II folgt in der nächsten Ausgabe

Kirsten Huckenbeck

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/03

Anmerkungen:

1) »Einschätzung der EU Angebotsliste«, Bundesvorstand, Ressort 1 (Politik und Planung), organisationsinterne Stellungnahme vom 12. Mai 2003

2) Vertiefend: Paul Bairoch: »Economics and World History. Myths and Paradoxes«, Chicago 1993

3) Argentinien, Australien, Brasilien, Chile, Fidschi-Inseln, Indonesien, Kanada, Kolumbien, Malaysia, Neuseeland, Paraguay, Philippinen, Südafrika, Thailand, Uruguay

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