So hatten sich Politiker, Journalisten und Kongressbesucher die Eroeffnung der dritten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) am Montag in Seattle nicht vorgestellt. Denn Zehntausende von Gegendemonstranten machten die verregnete Stadt und die WTO mit grossem Einfallsreichtum tatsaechlich "dicht". Downtown Seattle war von den WTO-Gegnern trotz Traenengas und den Plastikgeschossen der Polizei stundenlang blockiert - bis der Buergermeister den Ausnahmezustand erklaerte und die "National Guard" anforderte.

US-Aussenministerin Albright blies ihren Auftritt zur WTO-Eroeffnung kurzfristig ab, und UNO-Generalsekretaer Kofi Annan wagte sich aus Sicherheitsgruenden nicht aus seinem Hotelzimmer. Aehnlich verfuhren Hunderte von WTO-Delegierten, denen sich WTO-Gegner in den Weg stellten, und deshalb im Getuemmel gleich wieder kehrt machten. Andere Herren und Damen des "Frei"handels sahen aus sicherem Abstand zu und widmeten sich dann lieber dem fruehzeitigen Lunch. No business today, so schien es. Denn schon morgens um sieben blockierten Hunderte von Anhaengern des losen "Direct Action Network" saemtliche Zufahrtswege zum und vom Kongresszentrum. Die Menschenmenge schwoll bis zum Vormittag auf fast 10.000 an.

Die Innenstadt von Seattle ist eine jener beruechtigten Downtown-Architektur-Wuesten in den USA: eine blockweise angelegte Zone aus Glas und Beton mit gigantischen Ausmassen. Dutzende von 50-stoeckigen Hochhaeusern beherbergen Bueros und Hotels. Nachts ist es totenstill, denn hier lebt niemand, tagsueber erwecken bestens gekleidete Einkaeufer und handyschwingende Geschaeftsleute den Eindruck, hier herrsche Leben. Seattle ist nicht nur die Stadt von "Starbucks", sondern auch von "Boeing" und "Microsoft". Beide Konzerne luden denn auch zur WTO-Konferenz.

So etwas habe Seattle noch nie gesehen, heisst es von erstaunten Einwohnern. Rasta-Fans fuehrten an langen Draehten handgemachte, riesige Puppen mit sich. Sie stellen WTO-Manager, Skelette oder auch Delphine dar. Eine Gruppe von 12 schwarz Vermummten trommelt im Marschtempo, bewegt sich geradewegs auf die Polizeikette zu und dreht im letzten Moment ab. Auf Nachfrage teilt eine Trommlerin waehrend einer Pause den Bandnamen mit: "Infernalische Geraeusch-Brigade". Hunderte haben sich auf mindestens 10 Strassenkreuzungen zum sit-in niedergelassen. Einige von ihnen haben sich an Absperrgitter gekettet. Radikale Nikolaeuse mit ausnahmsweise schwarzen und roten Baerten verteilen Flugblaetter. Vor allem Junge tragen selbstgemalte Schilder mit Parolen: "Nieder mit der WTO", "Es ist das Wirtschaftssystem, Dummerchen !", Keine Steuern ohne Stimme" oder schlicht "Fight the power !" Tausende bewegen sich zwischen in den Hochhausschluchten zwischen den Strassenkreuzungen hin und her.

Der Demonstrationszug des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, der bis zu 50.000 Kollegen umfassen soll, laesst auf sich warten. Offenbar sind die ersten Nachrichten vom Traenengaseinsatz zu ihm durchgedrungen. Jeweils zehn Polizisten in dunkelblauen Kampfuniformen, die flexiblen Einheiten der "Seattle Police", attackieren ohne ersichtlichen Grund die friedlichen Sit-In-Leute. Es sind weder Autos noch WTO-Delegierte in Sicht. Mehrere Beamte verspruehen Pfeffergas aus Kleinstkatruschen - mit einem duennen Strahl direkt in die bereits aufgeweichten Gesichter. Wer kein Regenzeug anhat, ist im Nieselregen von Seattle bereits klitschnass. Doch niemand gibt auf. Auf Seiten der Demonstranten muessen Hunderte von Gasmasken im Umlauf sein. Sowohl der Regen als auch das Traenengas und die trotzdem - noh - ausgelassene Stimmung erinnern an die Grossdemonstrationen aus den 70er und 80er Jahren in der BRD gegen die Betreiber der Atomkraftwerke.

Inzwischen zieht der AFL-CIO mit den Stahlarbeitern, den Teamsters und der "Machinists Union" von Boeing ohne Zwischenfaelle vorbei. Aus Kanada sind mehrere Gewerkschafter-Konvois, zum Beispiel die Gewerkschaft der Krankenpflegerinnen aus British Columbia. eingetroffen. Recht zuegig schreiten die Arbeiter voran, und es muessen zwischen 30.000 und 40.000 sein. Die meisten Taxifahrer streiken heute, und die Werftarbeiter haben die Arbeit aus Protest gegen die WTO niedergelegt. Doch die Forderungen der Gewerkschafter beschraenken sich darauf, die WTO zu verbessern. "Make the global economy work for working families", steht auf mehreren Plakaten, und : "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg".

Welche Rolle der Nationalstaat USA im globalisierten Handel spielen soll, scheidet die Geister dieses Protestbuendnisses gegen die WTO. Denn den Nationalstaat staerken hiesse auch, ihm mehr Entscheidungskompetenz und damit Druckmittel gegenueber anderen einzuraeumen. Aber den Nationalstaat schwaechen - ist das nicht wieder ein Nachgeben gegenueber dem Globalisierungsprozess ?

Diese Frage stellen sich die Hunderte Demonstranten jedenfalls nicht, die von Traenengas zermuerbt sind und Schaufenster zu Bruch gehen lassen. Mc Donalds, Starbucks, Gap, Planet Holywood und die Bank of America erleiden Sachschaden. Grund fuer den Buergermeister der Stadt, kurze Zeit spaeter auf einer Pressekonferenz die harte Linie anzukuendigen. Zwischen sieben Uhr abends und 7.30 Uhr morgens tritt in downtown Seattle eine zivile Ausgangssperre in Kraft, was die rechtlichen Befugnisse von Polizei und Geheimdienst erheblich erweitert. Und 150 Mann der "National Guard" kuendigt der Buergermeister an. Was bedeutet, dass am zweiten Tag der WTO-Tagung in Seattle die Armee mit auf Patrouille ist.

Max Boehnel
z.Z. Seattle, exclusiv für LabourNet Germany am 1. Dezember 1999