Interview mit Ulla Loetzer (PDS)

Als Mitglied der Wirtschaftskommission des Bundestages war sie bei der Ministertagung der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle. Sie ist Abgeordnete aus NRW.

Frage: Ueber den Daumen gepeilt - wie lautet Ihre Einschaetzung des Verhandlungsverlaufs in der WTO ?

Antwort: Nach wie vor ist Vieles ungeklaert. Aber es liegt ein Papier der EU-Kommission vor, das in wesentlichen Punkten weiter hinter das EU-Mandat zurueckfaellt. Neu ist erstens die Einrichtung der WTO-Arbeitsgruppe Biotechnologie. Von den EU-Ministern war das bisher abgelehnt worden, weil sie wichtige Umweltbelange von der UNO in die WTO verlagert. Ausserdem kommen im Papier der EU-Kommission andere Umweltbelange wie Labeling und Vorsorgemassnahmen nicht mehr vor. Zweitens sah das EU-Mandat im Bereich Sozialstandards ein Forum zwischen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und der WTO unter Beteiligung von Gewerkschaften vor. Die EU-Kommission schlaegt nun die Auslagerung des Forums aus der WTO vor, was die Durchsetzung sozialer und gewerkschaftlicher Standards erschwert. Auch im Bereich der Dienstleistungen faellt die EU-Kommission hinter das Mandat zurueck. Sie hat sich auf Liberalisierungsentwuerfe der USA oder auch Indiens zubewegt. In die Liberalisierungsrunde sollen jetzt auch die oeffentlichen Dienste, Sozialwesen und Erziehung einbezogen werden. Und schliesslich geht es um die Arbeitsmaerkte, was die bereits angeschlagene Bauindustrie mit ihren illegalen und Subunternehmern zu Billigstloehnen noch weiter treffen wird. Und viertens fallen im Papier Transparenz und Beteiligung unter den Tisch. Das ist ein schwerer Rueckschritt, wo es um Beteiligung von Entwicklungslaendern, die Einbindung von NGOs und Parlamentariern in Entscheidungsprozesse gehen muesste. Kurz gesagt: die politische Regulierung oekologischer und sozialer Interessen soll eine noch geringere Rolle spielen. Alle Probleme, die die Globalisierung ueber die WTO mit sich gebracht hat, werden sich bei solch einem Verhandlungsergebnis verschaerfen. Die Agrarfrage, der Hauptstreitpunkt zwischen USA und EU, steht noch aus.

Frage: Wie bewerten Sie hier in Seattle die Rolle des deutschen Verhandlungsleiters, Wirtschaftminister Werner Mueller ?

Antwort: Die deutsche Delegation ihm zum Beispiel den Auftrag erteilt, die Frage der Biotechnologie-AG mit der EU zu klaeren und dagegen Stellung zu beziehen, erfuhr aber aus Interviews, dass er sich solch eine AG durchaus vorstellen koenne. Er ist der Delegation in den Ruecken gefallen.

Frage: Sind die Chancen, politischen Einfluss auszuueben, nicht groesser, wenn sich in Zukunft zum Bespiel die linke Fraktion des Europaparlaments staerker zusammentut ?

Antwort: Man muesste beides aendern, sowohl die Einbeziehung der Parlamentarier in den Entscheidungsprozess als auch die Neustrukturierung der Fraktionen auf EU- und nationaler Ebene. So existiert der Vorschlag, der WTO eine parlamentarische Kammer beizufuegen, um einen Demokratisierungsprozess einzuleiten. Gleichzeitig muessten in EU und in den nationalen Parlamenten die Fraktionen besser koordiniert werden. Und natuerlich muss die Zusammenarbeit zwischen der Linken in der EU mit den Linken in den Nationalparlamenten ausgebaut werden.

Frage: Konnten die Proteste gegen die WTO in Seattle die Verhandlungen beeinflussen ?

Antwort: Mehrere hochrangige Redner haben die Proteste ausdruecklich erwaehnt und sich in der Frage gewerkschaftlicher und sozialer Standards positiv auf sie bezogen. Andere meinten, das seien "Stimmen von gestern". In den USA existiert der Druck hauptsaechlich durch den Gewerkschaftsverband AFL-CIO auf den Praesidenten, seit das NAFTA-und folgende Freihandelsabkommen entsprechende Debatten provoziert haben. Die US-Medien berichteten deshalb ausfuehrlich ueber die gewerkschaftlichen Forderungen und Demonstrationen in Seattle. Hintergrund ist letztendlich der Praesidentschaftswahlkampf. Die Demokratische Partei kann es sich nicht leisten, den AFL-CIO und die Demos zu ignorieren.

Frage: Waren Sie ueberrascht ueber den Polizeiapparat in Seattle ?

Antwort: In dieser Massivitaet war das fuer uns alle in der Delegation eine UEberraschung. Die Polizeieinsaetze mit Traenengas, Schlagstoecken und Plastikgeschossen sowie das Auffahren der Nationalgarde waren voellig unangemessen. Es ist schon ein Widerspruch, wenn einerseits das Recht auf das Demonstrationsrecht beschworen wird, aber wenn Clinton kommt, dann verhaengt man den Ausnahmezustand. Fuer uns Delegierte bedeutete dies, in den Hotels eingeschlossen zu sein und nach Stunden erst durch einen Hinterausgang auf die Strasse zu duerfen. Ausserdem wurde bei den Delegierten die Angst vor den Demonstranten geschuert. Es war gespenstisch. Der Traenengaseinsatz war keine Reaktion auf angeblich gewalttaetige Demonstranten, sondern erfolgte, weil es WTO-Gegnern gelungen war, die Zugaenge zum Paramount Theater mit friedlichen Mitteln zu blockieren. Die Polizei wurde gewalttaetig, um die Zugaenge fuer die Eroeffnungsveranstaltung freizumachen.

Max Boehnel, Seattle