50.000 Menschen gegen 30.000 Seiten

Fallrückzieher mit Wiedervorlage-Garantie in Seattle / Von Walter Luh

 

Am 3. Dezember gingen in Seattle die Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) und ihrer 135 Mitgliedsstaaten um die Liberalisierung und Vereinheitlichung internationaler Handelsbeziehungen ohne Ergebnis zu Ende. Zusammengekommen war man, um auf der ‘Milleniumsrunde’ den 30.000 Seiten starken Berg von WTO-Handelsregeln zu einem verbindlichen Vertragspaket zu schnüren. Einen Strich durch die Rechnung machten den TeilnehmerInnen 50.000 GegnerInnen des Vertrags, denen es mit Demonstrationen gelang, die Stadt lahm zu legen. Ausschlaggebend war jedoch jener der EU.

Was die Milleniumsrunde letztlich zu Fall brachte, war ein Rückzieher der EU in der Kürzung der Agrarsubventionen. Nicht dass die EU solche rundweg abgelehnt hätte. Das Ausmaß und ihr unsicherer Nutzen für die EU-Minister waren der Grund. Ob das Ergebnis anderenfalls für die WTO so viel besser ausgefallen wäre, ist zu bezweifeln. Unterschiedliche Interessen der WTO-Mitgliedsstaaten, massenhafte Proteste, Ausnahmezustand in der Stadt und große Unwissenheit über das zu Verhandelnde prägten die Tage in Seattle. Obgleich der Vertrag der WTO von Ziel und Inhalt her dem im vergangenen Jahr gescheiterten Multilateral Agreement on Investment (MAI; siehe express 5/98) der OECD ähnelt, hatte es die WTO vermieden, sich abermals dem Vorwurf der Geheimnistuerei aussetzen zu müssen. Alle Texte, die zur Verhandlung standen, wurden im Internet veröffentlicht. Im Unterschied zum MAI ist das Volumen der Texte allerdings so groß, dass wir davon ausgehen können, dass weder die Medienöffentlichkeit noch die WTO-Gegner (den Autor dieses Artikels eingeschlossen) sowie die meisten Regierungen der Mitgliedsstaaten selbst einen Überblick über das zu verhandelnde Material hatten. Insbesondere die Entwicklungsländer hatten nicht Mittel und Personal genug, um sich adäquat auf Seattle vorbereiten zu können, und selbst die EU-Staaten hatten ihre liebe Müh’. So ist das Papier von Bundeswirtschaftsminister Müller eine Kette von Allgemeinplätzen. Jetzt, nach dem Scheitern, konnte er sich zugute halten, er sei nicht von seiner Position gewichen, und erklären, es sei besser, keinen Vertrag zu unterzeichnen als einen schlechten.

In der Medienöffentlichkeit durch die Proteste in Bedrängnis geraten, verlangten die Regierungschefs der G7 scheinheilig nach Regelungen für den Schutz von Umwelt und ArbeitnehmerInnenrechten. Gewerkschaften müssten den Schutz der Staaten genießen, befand Bill Clinton, der wahrscheinlich die Gewerkschaften als Wählerschaft davonlaufen sah. Andere setzten sich medienwirksam gegen die Kinderarbeit ein. Als zu diesen Forderungen gegen die Wettbewerbs‘vorteile’ der Entwicklungsländer auch noch Vorbehalte von einigen ihrer Regierungsvertreter kamen, konnte diesen die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen gegeben werden. Dass solche Vorbehalte und die genannte Scheinheiligkeit im Rahmen des Vertragswerkes durchaus harmonieren können, zeigt Clinton selbst in einem Gesetz zum Handel mit afrikanischen Staaten (African Growth and Opportunity Act, HR 434), gegen das zwei Gewerkschaften der USA (UNITE! und International Brotherhood of Teamsters) protestieren: Schon Staaten, die lediglich erste Schritte hin zu Schutzrechten von ArbeitnehmerInnen machen, sollen demnach Vergünstigungen erhalten. Gewerkschaftsfeindliche Staaten wie Guatemala genießen diesen Status aber schon – dafür, dass sie eine Bemühung in diese Richtung behaupten.

Worum ging es in Seattle?

In Seattle sollte ein von der WTO ausgearbeiteter Vertrag als Paket verabschiedet werden, in dem auf Grundlage der WTO-Regeln ein verbindliches Multilaterales Handelssystem (Multilateral Trade System, MTS) entwickelt werden sollte. Seine Wurzel hat dieses MTS wie die WTO selbst im GATT (General Agreement on Tarifs and Trade). Dies war ein Vertrag, der von 1947 bis 1994 Gültigkeit besaß. Es begann mit dem Abbau von Handelsschranken wie Zöllen und Einfuhrquoten für Güter und wurde in den Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) schließlich auf geistiges Eigentum, Dienstleistungen und auf Handel bezogene Investitionen (also alle) ausgeweitet. Hinzu kamen die Regelungen für die Schlichtung von Handelskonflikten, die parlamentarischer Kontrolle weitgehend entzogen sind, Staaten aber zur Aufhebung von Handelsschranken zwingen können (Stichworte Hormonrindfleisch, transgener Mais). Neben den 60 Regeln für den internationalen Handel war die Gründung der WTO im Jahre 1994 ebenfalls ein Ergebnis der Uruguay-Runde. Sie ist die Institution, welche die weltweite Umsetzung der Regeln durchführen soll. In Zusammenarbeit mit Internationalem Wäh rungsfonds und Weltbank haben die WTO-Regeln schon weithin Rechtsgültigkeit erlangt. So wird verschuldeten Entwicklungsländern die Anpassung des nationalen Rechts an die WTO-Regeln zur Bedingung für Kredite gemacht.

Natürlich sollen die Demonstrationen von Seattle nicht kleingeredet werden. Sie sind ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass eine gewaltige Masse an Menschen, aufgerüttelt durch alternative Medien, in der Lage ist, zur Verhinderung eines neuen GATT eine Stadt lahmzulegen. Wir müssen uns jedoch klar sein, dass der Vertrag nicht durch die Demonst rantInnen, sondern primär wegen konfligierender Interessen der beteiligten Staaten nicht zustandekam.

Wenn Linke und andere Gegner des Vertrags sich und ihrem Widerstand den Sieg über die WTO zuschreiben, zeigt sich wieder einmal, wie trügerisch die Macht der Straße sein kann. Kampagnenpolitik braucht die "große Schweinerei", mit der sie die Massen auf die Straße zieht, und ihre Macht liegt in der Fähigkeit, verschiedenste, zum Teil gegensätzliche Interessengruppen gegen einen gemeinsamen Feind zu einen. So darf es uns nicht verwundern, dass Internationalisten und amerikanische Isolationisten, Nonnen und politische Lesben, Tierzüchter aus Angst um den Verlust ihrer Subventionen und Tierbefreier nach Seattle mobilisierten.

Es fragt sich, warum die WTO es nötig hatte, mit der Milleniumsrunde solch Kampagnenpolitik eine Zielscheibe zu bieten. Wäre es für sie nicht genug, wenn sie, wie die letzten Jahre, es dabei beließe, bei bilateralen Verträgen den verhandelnden Staaten ihre WTO-Regeln zu diktieren, die mittlerweile für zahlreiche Handelsvereinbarungen zum Standard geworden sind? Diese "kleinen Schweinereien" treffen nur auf geringen Widerstand und zwingen vor der Öffentlichkeit meist nicht zu Konzessionen. Mit dem Scheitern der Milleniumsrunde ist nach dem MAI innerhalb von zwei Jahren der zweite Versuch misslungen, dem Status quo der globalen Ökonomie eine allgemeinverbindliche Rechtsgrundlage zu geben. Ob dies nun für die WTO bedeutet, dass sie sich, wie die OECD vergangenes Jahr, von ihrem Projekt verabschiedet, ist unsicher, denn die WTO ist eine weit mächtigere Organisation als die OECD. Vergleichbar mit den vorjährigen Verhandlungen um das MAI ist allerdings die Entscheidung, das Projekt für ein paar Monate auf Eis zu legen. Im Frühjahr 2000 sind in Genf die nächsten Verhandlungen der WTO zu diesem Thema geplant. Dass die WTO mit der Milleniumsrunde ihre Regeln ad acta legt, ist nicht zu erwarten. Sie wird weiterhin in Zusammenarbeit mit Weltbank und Internationalem Währungsfonds die Gültigkeit ihrer Regeln verbreiten, ob in multilateralen oder bilateralen Verträgen.

Was für das MAI galt, gilt noch mehr für die Bestrebungen der WTO: Reine Kampagnenpolitik vermag der kontinuierlichen Liberalisierung der Märkte und dem Abbau seiner Kontrolle durch die kapitalistische Lobby nichts entgegenzusetzen. Hierfür brauchen wir die kontinuierliche Vermittlung von Analyse und Tageskämpfen, die politisch orientierte Gewerkschaften übernehmen könnten. Zwar haben sich einige hohe GewerkschafterInnen mit protektionistischen Reden gegen Billigeinfuhren zu Wort gemeldet. Die Hafenarbeitergewerkschaft ILWU, die mit ihrer militanten Solidarität für die Liverpooler Docker und ecuadorianische Arbeiter bekannt geworden war, machte hingegen aus Protest einfach ihre Häfen an der Westküste für alle Schiffe zu – von Baja California bis rauf nach Seattle.

Erschienen in: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 11-12/1999